Auf der Intensivstation im Dämmerzustand

Tagebuch zum Thema Traum/ Träume

von  tulpenrot

Zustand A

sie wischt den Boden
ich schaue zu
vom Bett aus
außer uns ist niemand im Raum,
der viel zu groß ist für mich allein
ich wundere mich
sie ist doch keine Putzfrau
sondern meine Pflegerin
ich kenne sie seit Tagen
es ist doch tiefe Nacht
da schläft man eigentlich
ein Dämmerlicht beleuchtet den Raum
ich sehe sie nur verschwommen
und bin ganz still
sie schwebt über den Boden
mal ist sie da, dann ist sie wieder weg
ich will, dass sie da bleibt,
aber ich kann nichts sagen


Zustand B

wieder eine Beerdigungsfeier
jede Nacht dasselbe
während ich im Bett liege
das stört niemanden
viele Menschen sind gekommen
sie stehen mit dem Rücken zu mir
dicht am Vorhang
der mich von ihnen trennt
er wölbt sich und verschiebt sich
sodass immer mal ein Spalt entsteht
dann sehe ich sie
wie sie sich drängeln
und wie schön sie sind
wie festlich gekleidet
und wie anmutig sie sich bewegen
besonders eine Frau wirkt wie eine Königin
sie hat ihre langen Haare unter einem goldenen Netz zusammengefasst
das mit Perlen besetzt ist
in der kommenden Nacht ist sie auch wieder da
bei der nächsten Trauerfeier
der Vorhang ist von der anderen Seite in dieser Nacht besonders hell erleuchtet
ich liege im Dunkeln
nach und nach kommen die anderen Trauergäste
die fremden Menschen singen und reden mit gedämpften Stimmen
am Ende wird jemand in einem Bett hinausgeschoben
die Besucher aber bleiben noch eine Weile
sie wollen sicher ihre Trauer verarbeiten und sich gegenseitig trösten
ich weine ein bisschen mit
ganz still
hinter dem weißen Vorhang

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Kommentare zu diesem Text


 AZU20 (13.07.21)
Ein solcher Dämmerzustand, derart intensiv beschrieben, ist schwer erträglich. LG

 tulpenrot meinte dazu am 13.07.21:
Danke, dass du dich trotzdem dem gestellt hast!
LG

 AchterZwerg (14.07.21)
Hallo Tulpenrot,

du hast die Angst vor dem Unbekannten (hier dem Tod) eindringlich beschrieben.
Im Zustand B wird ein Zwischenstadium geschildert: Das LyrIch i s t bereits verstorben aber noch nicht ganz von seinem Körper getrennt.

Ein beindruckendes, beklemmendes Gedicht.

Liebe Grüße
der8.

 tulpenrot antwortete darauf am 14.07.21:
Vielen Dank für deine treffenden Gedanken zu dem Text. Es ist ja immer spannend, wie ein Text ankommt und was der Leser daraus macht. Das bedeutet für mich auch zu erfahren, ob der Text "funktioniert", der ja nicht ganz einfach zu transportierende Inhalte mit sich führt.
Deshalb erst Recht vielen Dank
LG
tulpenrot
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