Im Sonnenschein wie im Schatten

Text

von  atala

Thomas tritt nach einem langen Tag im Büro in die Wohnung ein. Er wirft den Mantel auf den Haken, die Schlüssel auf die Ablage, öffnet die Schuhbändel, seine Bewegungen folgen einer Automatik. Die Vorhänge zieht er nicht zu, obwohl es schon dunkel ist und die Wohnung hell erleuchtet. Er werkt kurz im Nebenzimmer, es muss die Küche sein, denn er kommt mit einer dampfenden Schüssel heraus und setzt er sich an den Tisch. Die Hängelampe baumelt über seinem Kopf, erleuchtet grell seinen Schädel, dem bald eine Glatze bevorsteht, seine etwas hängenden Schultern, die Unterarme auf der hölzernen Tischplatte. 

Er sitzt zwischen zwei Fenstern. Gerade dreht er lange Eiernudel mit der Gabel ein, steckt sie in den Mund und schlürft die Fäden nach. Suppe sprenkelt auf den Tisch. Sein Hemd ist aufgeknöpft, damit es nicht dreckig wird. Seine Rückenhaltung ähnelt einer halbgefüllten Luftmatratze. Thomas betrachtet seinen Bauch, klaubt dann etwas, was aussieht wie ein Stückchen Karotte, aus dem Haarwald und schiebt es sich in den Mund. 

 

Nach dem Essen wechselt er auf die Coach, die in der Ecke des Zimmers steht. Die Suppenschüssel bleibt auf dem Tisch. Er schaltet den Fernseher an. Auch von dieser Ecke aus, ist er von aussen zu sehen. Die Deckenlampe knipst er ab, stattdessen brennt die Stehlampe neben dem Sofa. 

Ab und an steht er auf, einmal trägt er als er zurückkommt ein verbeultes Shirt, ein anderes Mal ist sein Wasserglas wieder voll. Auf dem Weg zum Sofa schwappt etwas Flüssigkeit auf den Boden, er wischt einmal mit dem Fuss darüber. Als hätte er es sich anders überlegt, richtet er sich gleich wieder auf, geht ans Fenster, nippt am Glas und lässt seinen Blick über die Quartierstrasse streifen.

Dann setzt er sich wieder vor den Fernseher. Auf seinem Gesicht ist weder ein Anflug von Spannung noch Langeweile zu sehen. Vielleicht laufen die Nachrichten, aber die Farben auf dem Bildschirm ändern sich dafür zu schnell, die als Schatten über sein Gesicht huschen.

 

An einem sonnigen Herbsttag vor zwei Monaten hatte sich Thomas an die Wasserinstallation gesetzt, auf die er von manchen Sitzungsräumen aus blicken konnte. Es ist ein dreieckiges Becken, das in den Boden eingelassen wurde. Von oben sah es aus wie eine Pfütze, von dieser ebenen Perspektive aber wie ein Spiegel aus. Seitlich des Beckens lagen verschiedene Kaffees und Shops. Der Platz war tagsüber sehr belebt. Thomas sass an diesem überraschend warmen Tag auf einer Bank mit einer Bürotasse in die Hand, schaute übers Wasser, das die Häuserfassade reflektierte. 

Eine junge Frau, ihr Haar schimmerte rötlich im Licht, kreuzte seinem Blick und ging zielstrebig auf ihn zu, als würde sie ihn kennen. Sie lächelte sanft, nicht auf diese aggressiv nette Weise wie die Spendensucher, die sich manchmal hier aufstellten. Trotzdem sah Thomas gleich wieder weg. Als sie vor ihm stand, fragte sie, ob sie sich neben ihn setzen durfte. Er nickte, wendete aber den Kopf ab. Er dachte wohl, jemand der so forsch ist, wolle nicht nur mit ihm flirten, sondern hätte Hintergedanken, monetäre vielleicht. 

Darf ich Sie etwas fragen? – zum ersten Mal schaute er sie richtig an, sie hatte aussergewöhnlich viele Fältchen um die Augen, für dass sie sonst eine junge Erscheinung war. 

Sie sei Regisseurin, erzählte sie ihm, in ihrem neuen Film gehe es um die geheimen Wünsche der Leute. Um die Träume, die niemandem verraten werden. 

Ihre Wimpern waren hell, fast weiss. Sie schaute ihn unvermittelt an. 

Möchten Sie bei diesem Experiment mitmachen?

 

In der Raummitte stand ein langer Tisch, an deren Ende die Regisseurin sass. Er solle auf der anderen Seite Platz nehmen. Eine Kamera war direkt hinter der Frau aufgestellt, eine weitere seitlich von ihm. 

Dies sei ein sicherer Ort, sagte sie. Er könne sich hier wohl fühlen und erzählen. Dabei soll er nicht direkt in die Linse schauen, sondern zu ihr. Sie würden sich unterhalten, ganz normal, entspannt, die Kameras, die brauche er gar nicht zu beachten. 

Auf seine Frage hin, weshalb sie ihn genommen haben, antwortete sie, die Leute seien nach dem Zufallsprinzip ausgewählt worden. 

 

Am nächsten Tag ging Thomas zu Fuss zur Arbeit. Er ging nicht zu schnell, trödelt auch nicht. Vor einem Geschäft hat er plötzlich angehalten. Zuerst hat es den Anschein gemacht, als würde er die Auslage betrachten. Er hat sich in der Scheibe zentriert, ganz gerade ist er dagestanden, dann hat er sich umgeschaut, über beide Schultern geblickt. Das mit einer solchen Intensität, die denken liess, dass dies seine wahre Absicht war.

 

Das Licht in den letzten Tagen im Jahr ist so, dass man keine Schatten wirft. Alles wird matt unter der Wolkenschicht. Thomas schaut seit dem Gespräch besonders gründlich in den Briefkasten. Er fährt mit den Händen die Innenwände des Milchkastens ab, als erwarte er was. Ein Brief, ein Foto vielleicht.

 

Gestern Nacht schlief er unruhig. Bis zur Dämmerung hat er sich hin und her geworfen, manchmal die Decke weggetrampelt, sie dann wieder an sich gerissen. Er lag im Dunkeln, nur von einer Strassenlaterne schwach beleuchtet. Vielleicht hat er sich überlegt, warum ausgerechnet er ausgewählt wurde. Von allen, die da waren, allein in der Sonne sassen, zu zweit ins Gespräch vertieft, in Gruppen. Ob die Regisseurin etwas geahnt hätte, ihm aufgelauert ist. Ob es diesen Film wirklich gibt. 

Aber am Morgen stand er beim ersten Läuten des Weckers auf, sein Gesicht schien nicht müder zu sein als sonst. Es regnete, er ging, die Aktenasche an sich gedrückt zum Parkplatz, der neben der Mietswohnung lag. Zielstrebig ging er, mit langen Schritten, ein Gang wie jemand, der sich sicher ist, gesehen zu werden.   

 

An diesem Gespräch mit der Regisseurin hat er nur kurz überlegt, was er sagen soll. Er schien eher zu hadern, wie er es ausdrücken könne. Es gäbe solche Momente. Wenn er vor der Kaffeemaschine steht, wartet bis die Tasse voll ist. Oder wenn er im Konferenzraum sitzt, ein Projekt gepitcht wird. Auch wenn er selber vorne steht, Leute von Ideen überzeugen muss, kommen diese Momente. Stehen unverrückbar da.

Vielleicht liege es daran, dass sich im Gebäude die Fenster nicht öffnen lassen oder dass der Teppichboden die Geräusche dämpft. Aber er sei sich dann nicht sicher, ob er wirklich da sei, ob er überhaupt existiere. In den Spiegel blicken, hatte geholfen. Sich im Spiegel in die Augen blicken, blinzeln, für einen Sekundenbruchteile sehe er die halbgeschlossenen Lider. Aber das hat nur bis zu einem gewissen Punkt gereicht. Es reichte nicht mehr. Er bräuchte mehr. Eine Vergewisserung. 

Einen Stalker, hatte die Kamerafrau gesagt und Thomas wusste nicht, ob das als Frage gemeint war. 

 

Geht man ganz nah ans Milchglasfenster des Badezimmers, hört man das Zahnputzgeräusch, das Gurgeln und wie der Wasserhahn läuft. Die Silhouette ist erkennbar, dann wird das Licht gelöscht. 

Auch im Schlafzimmer hat es keine Gardinen. Heute ist das Weltkugellämpchen angeknipst, es verströmt bläuliches Licht. Es ist eine Kinderlampe, die Welt in Miniaturform, so gross wie ein Tennisball. Sie passt nicht zur restlichen Einrichtung, die unpersönlich wie in einem Airbnb gehalten ist. 

Thomas liegt im Bett, das Licht lässt er brennen. Zuerst sieht es nach einer weiteren unruhigen Nacht aus, er wälzt sich hin und her. Mitten in der Nacht ist von draussen ein Knacken zu hören, wie wenn jemand auf einen Ast tritt. Thomas setzt sich kurz auf, schaut aus dem Fenster. Dann legt er sich wieder hin. Nach kurzer Zeit hebt und senkt sich seine Brust sanft. Er schläft friedvoll bis die ersten Sonnenstrahlen in sein Gesicht scheinen. 



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Kommentare zu diesem Text


 Dieter_Rotmund (02.12.21, 08:46)
"Schuhschnüre"?

 Solvy (05.06.22, 16:51)
Hallo Atala, diese Perspektive von außen durch die Fenster entpuppt sich langsam als die von ihm gewünschte Stalker-Atmosphäre. Doch es bleibt die Distanziertheit. Sehr eindringlich das Gefühl, das beim Lesen entsteht: nur durch den anderen merkt er, dass er am Leben ist. So erging es mir. Für mich ein überzeugender Text.
Liebe Grüße
Solvy
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