Der Koffer

Erzählung zum Thema Vergangenheit

von  Quoth

Herta schüttelte den Kopf und sagte: „Ellinor, ich möchte dir nicht immer widersprechen. Aber damit gehst du wirklich zu weit. Den Tod eines Menschen darf man nicht herbeiwünschen, da mag er noch so sehr leiden, oder wenn man es tut, darf man es doch nicht aussprechen. Ich weiß, dass Alfons Schreckliches mitgemacht hat, erst die Chemo, jetzt die Bestrahlung, und das zermürbende Auf und Ab von Hoffnung und Verzweiflung. Ich kann verstehen, dass du dir wünschst, es möge endlich ein Ende haben. Aber das Ende eines Menschen liegt in Gottes Hand. Es bleibt uns nur, das in Demut hinzunehmen.“

„Warum sollte man es nicht aussprechen dürfen, wenn man es fühlt?“ Else nippte an ihrem Kathreiner Malzkaffee, düstere Falten bildeten sich zwischen ihren Brauen. „Das ist es, was ich an den Christen am meisten hasse: Dass sie nicht ehrlich sind. Sie wünschen sich auch den Tod eines Menschen – aber sie verbieten es sich, das auszusprechen. Ja, sie heucheln vielleicht noch liebevolle Fürsorge, und in Wirklichkeit würden sie ihm am liebsten das Kissen übers Gesicht drücken.“

Herta stand auf, ließ ihr Bircher halb ungegessen stehen und wollte gehen. Aber an der Tür, neben der das Bahnhofsschild LUNDEN an der Wand lehnte, lief sie Hedwig und Ute in die Arme und musste ihnen erklären, warum sie gehen wollte. „Ich lasse mir von Else keine Heuchelei und Mordabsichten unterstellen,“ sagte sie, und es zuckte um ihre Mundwinkel. „Ellinor hat gesagt…“

„Das klären wir!“, sagte Hedwig resolut und bugsierte Herta wieder vor ihr Müsli. Ute schleppte einen nicht ganz kleinen Koffer herein, den sie unter den Tisch schob. Und merkwürdigerweise begrüßte sie die anderen nicht wie üblich mit „Hallo Mädels!“, sondern mit „Hallo Schwestern!“ Die Verwunderung darüber war jedoch vergessen, als Ellinor zugab, den Tod ihres schwer an Bauchspeicheldrüsenkrebs erkrankten Mannes herbeizuwünschen. „Einen Hund, der so leidet, würde der Tierarzt erlösen dürfen. Ich sehe nicht ein, dass Alfons nicht auch ein Recht darauf hat.“

„Und ich habe nur gesagt, sowas darf man vielleicht mal wünschen, aber man darf es nicht aussprechen – und werde der Heuchelei bezichtigt!“ Wütende Tränen traten in Hertas Augen, sie hätte Else am liebsten mit Müsli beworfen.

„In Holland hat man einen rechtlichen Weg gefunden, um solch ein Recht durchsetzen zu können. Wir hier in Deutschland haben den Begriff der Euthanasie durch die ‚Vernichtung lebensunwerten Lebens‘ so in Verruf gebracht, dass wir uns an die Sterbehilfe nicht herantrauen. Und damit möchte ich Ute das Wort geben. Sie hat nämlich auf ihrem Dachboden einen Fund gemacht, der auch uns Mädels betrifft!“

Mit geheimnisvollem Lächeln wuchtete Ute den Koffer auf den Tisch. Er war aus Presspappe, mit Holzleisten beschlagen, graubraun angestrichen, doch der Anstrich blätterte ab. In schwarzer Schablonenschrift stand SCHF LYDIA SEIFERT darauf.

„Nach dem Tod meiner Mutter vor einem Vierteljahr haben wir den Dachboden entrümpelt und sind dabei auf diesen Koffer gestoßen. Eigentlich wollte ich ihn samt Inhalt auf den Müll tun, aber dann dachte ich: Das wäre Feigheit. Zu dieser Vergangenheit meiner sehr geliebten Großmutter muss ich stehen. Sie hat nie ein Wort darüber verloren, wir glaubten, sie wäre nie etwas anderes gewesen als Hausfrau und Verfertigerin wunderbarer Strickarbeiten. Der Norwegerpullover, den ich trage, ist von ihr … Insofern war diese Kiste ein gelinder Schock für uns, meine Schwester und mich.“ Herta, Else und Ellinor beugten sich neugierig über den geöffneten Koffer, nahmen die Sachen vorsichtig heraus und zeigten sie einander.

Unter bereits zerfallendem Seidenpapier fanden sie ein Nadelbüchlein samt Stopfpilz und Fingerhut, Nähschere, ein Kästchen Nähseide, mehrere Sterne Zwirn und darunter zehn kurzärmlige weiße Blusen, zwei schwarze Dreieckstücher, drei schwarze Röcke, eine Kamelhaarwolldecke und ein paar gestrickte Zeltschuhe. Dazu noch eine grüne Schnur mit Karabinerhaken und drei Garnituren Leibwäsche, kleine Taschentücher mit eingesticktem Monogramm, zwei Indanthren-Frotteetücher, eine Schachtel mit drei Kernseifestücken, eine Kleiderbürste und ein kleines elektrisches Bügeleisen.

„Wollte sie auf Reisen gehen? Hatte sie ein Amt? Irgendwie erinnern mich die Kleidungsstücke an was, ich weiß aber nicht an was.“ Ellinor blickte ratlos in die Runde.

„Sie war Scharführerin beim Bund deutscher Mädel,“ sagte Ute mit einer bizarren Mischung aus Stolz und Scham. „Das beweist diese grüne Schnur und auch die Beschriftung des Koffers. Was mich erschüttert, ist die rührende Ordnungsliebe, in der erkenne ich ganz und gar meine liebe Großmutter.“ Sie nahm eines der Taschentücher mit Monogramm heraus und tupfte sich damit die Augen. „Sie war für mich immer der beste Mensch auf der Welt – fürsorglich, selbstlos, humorvoll. Ich bin sicher, sie war eine gute Scharführerin und wurde von ihren Mädels geliebt. Aber ich finde, wir sollten einander nicht mehr mit diesem Naziwort Mädel anreden. Edvigue hat mir erzählt, dass die Frauen bei den Freimaurerinnen einander ‚Schwester‘ nennen. Wollen wir das nicht auch tun?“

„Nein,“ sagte Else nach kurzem Zögern. „Wir lassen uns das von den Nazis nicht wegnehmen. Die hatten auch alle eine Nase. Sollen wir uns die Nase abschneiden, nur um ihnen nicht zu ähneln?“ Wenig später klangen die Gläser zusammen, und „Prost Mädels!“, scholl es vielstimmig durchs Bahnhofscafé.



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Kommentare zu diesem Text


 Graeculus (07.12.21, 17:08)
Krise und Vergangenheitsbewältigung unter Schwestern, nein: Mädels. Eine schöne Fortsetzung.

 Quoth meinte dazu am 07.12.21 um 19:14:
Freue mich über die Empfehlung mit Kommentar. Danke, Graeculus!

 AlmaMarieSchneider (07.12.21, 21:26)
Super! Schöne Fortsetzung lieber Quoth.
Ein Lächeln
Alma Marie
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