Er war dabei

Erzählung

von  Quoth

Trotz ihrer 92 Jahre und ihrer schlechten Verfassung trug Erna die weißen Haare immer noch tadellos onduliert und legte Wert darauf, dass sie die Zahnprothese im Mund hatte, wenn ich sie besuchte. Sie war an diesem Nachmittag sehr unruhig; der Weihnachtsschmuck in ihrem Zimmer versuchte den Eindruck zu erwecken, alles sei normal und in Ordnung – aber in diesem Zimmer erlosch ein Leben, das war allen klar, auch wenn man sich allgemein sehr darum bemühte, keinerlei Besorgnis erkennen zu lassen. Kann dieses Zudecken der Gefahr den Tod aufhalten? Oder wäre es besser, offen mit dem heranrückenden Unvermeidlichen umzugehen? Ernas Hände webten unablässig auf der Bettdecke, und sie wollte mir offenbar etwas mitteilen.

 

„Er war auch dabei,“ murmelte sie mehrere Male. „Ja, er auch!“

 

Und da sie dabei immer eine Laubsägearbeit ins Auge fasste, die das Christkind in der Krippe mit Ochs und Esel zeigte, fragte ich fast ein wenig spöttisch: „Jesus?“

 

Sie nickte müde und ihre klauenartigen, verarbeiteten Hände knisterten wieder über den Bettbezug. „Dreiundvierzig,“ murmelte sie, was ich, da sie die Neunzehn immer wegließ, als Jahreszahl erkannte.

 

Ich wusste einiges aus Ernas Leben in dieser Zeit. Sie arbeitete bei einer Zeitung in Berlin und war mit einem Juden verlobt, der nach dem Krieg aus Argentinien zurückkehrte und sie heiratete. Wegen dieses Juden hatte sie jahrelang fast allwöchentlich auf die Gestapo kommen müssen, denn jede seiner Postkarten wurde dort analysiert, und es war klar, dass insbesondere seine Mitteilungen über das argentinische Klima verschlüsselte politische Nachrichten waren. Zum Glück hatte dort ein früherer preußischer Kriminalkommissar seine Hand über sie gehalten mit der Begründung, wenn man sie wegsperre, werde sie keine Post mehr erhalten. Aber das gab mir keinerlei Hinweis darauf, inwiefern Jesus „dabei“ gewesen sein konnte.

 

Doch dann murmelte sie: „In der Gammelwohnung!“ Ich musste zuerst lachen, aber dann begriff ich, dass sie „Sammelwohnung“ gemeint hatte, und mir fiel wieder ein, was sie mir von dieser Wohnung in dem Mietshaus am Savignyplatz erzählt hatte. Dort waren Juden aus Mecklenburg und Pommern „gesammelt“ worden, und immer, wenn die Wohnung voll gewesen war, waren nachts große Diesellaster gekommen und hatten die Bewohner abgeholt. Mindestens zehn solcher „Füllungen“ hatte es gegeben. Mir war klar, was sie meinte: Unter den Abtransportierten hatte es auch gläubige Christen gegeben – wie ja überhaupt viele Juden zum Christentum übergetreten sind, zumal Christus, seine Jünger und auch sein größter Propagandist, Paulus, Juden gewesen waren.

 

„Du meinst, es waren auch Christen unter denen, deren Koffer ihr dann vor eurer Tür fandet?“ rief ich laut. Leider war Erna auch schon ziemlich schwerhörig, und weil das Hörgerät immer entweder zu laut oder zu leise eingestellt war, trug sie es nie.

 

„Ein wirklich hübscher jüdischer Bocher!“ murmelte sie, ohne auf meine Frage einzugehen. „Und seine Mutter – eine richtige dicke jüdische Mamme!“

 

Es war mir peinlich, wenn sie so vertraut über Juden und Jüdisches redete auf eine Weise, die in meinen Ohren abfällig klang. Aber durch ihre Biographie war sie über jeden Verdacht des Antisemitismus erhaben.

 

„Und dieser ‚hübsche jüdische Bocher‘ glaubte an Jesus Christus?“ fragte ich – diesmal schon etwas leiser, weil meine Hoffnung, verstanden zu werden, allmählich zusammenschmolz.

 

„Ich habe ihm dicke Soldatenstiefel besorgt für den weiten Weg, den er vor sich hatte. Seiner Mutter auch. Und Wintermäntel. Sie hatten ja Sommersachen an!“

 

Ich gab es auf, nachzufragen und wartete, was sie mir noch zu sagen hatte.

 

„Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben. Niemand kommt zum Vater außer durch mich!“ murmelte sie.

 

„Hat er das gesagt?“ schrie ich nun fast.

 

Und diesmal hatte sie mich verstanden. Sie nickte. Ihre großen grauen Augen sahen mich blicklos und dennoch durchdringend an.

 

Nur wenig später öffnete ich das Fenster.



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Kommentare zu diesem Text


 AchterZwerg (07.06.25, 07:40)
Ja,
"Sammelwohnungen" gab es häufig, gerade in Kleinstädten.
So konnte durch Enteignungen den Herrenmenschen zügig Wohnraum zur Verfügung gestellt werden.
Ich bin mir sicher, dass ähnliches Gedankengut wieder Einlass in flachbestirnte Kartoffelköpfe findet.

 Quoth meinte dazu am 07.06.25 um 16:16:
Die (historische) Sammelwohnung am Savignyplatz wurde, als das Sammeln jüischer Bürger beendet war, dem Eigentümer wieder zur Verfügung gestellt. Es mag andere Sammelwohnungstypen gegeben haben ...

 eiskimo (07.06.25, 12:28)
Sehr eindringlich, dieser Text. Und großartig erzählt.
LG

 Quoth antwortete darauf am 07.06.25 um 16:17:
Vielen Dankl für Empfehlung mit Kommentar!
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