Chemsex als neues Aids - Das Sextagebuch des Arthur Dreyfus und der beklagenswerte Zustand der deutschen Literatur

Kritik zum Thema Genozid

von  toltec-head

Wenn AIDS statt einem einfachem und ehrlichem "Selber Schuld!" eine ganze Guerilla evanglisch Wohlmeinender, letztlich das Ungetüm der Ehe für alle und - wie jetzt auch wieder bei Corona zu beobachten - jede Menge Literaten vom Dienst auf den Plan rief, wird es all dies bei den vielen Pariser oder eben auch Berliner Chemsex-Toten nicht geben. Der Grund hierfür steht in einem über2000seitigen Buch, dem größten Wurf seit Luthers Bibelübersetzung, welches diese dabei aber sogar toppen würde, wenn es denn statt in dem Medium der guten alten Gutenbergzeit als Blog erschienen wäre. Die Rede ist von dem großartigen "Journal sexuel d´un garçon d´aujourd´hui" von Arthur Dreyfus. Pubkliaktonschancen in D-Land? 0! Hierzulande bevozugt man, wenn es denn schon schwul und nicht wie gewöhnlich Unterleuten mit Zeh&Co. sein muss, die schwulen Kitschbüchern einer gewissen fetten und woken Asiatin aus New York, in denen es dann wie in Unterleuten nur eben pi-o-pi-el-artig und schwul zugeht. Schwul als das gleiche in Grün geht immer - die Wahrheit interessiert: keinen!


Dabei ist Arthur Dreyfus hierzulande kein Unbekannter. Eines seiner Bücher, in dem er die Geschichte seine jüdischen Großvaters in einem deutschen KZ erzählt, wurde bereits übersetzt. Aber vom Holocaust lesen die Leute ja immer gern. Da kann man sich bei Käsewürfel und einem guten Roten schön dran gruseln und steht am Ende mit den Windrädern garantiert auf der richtigen Seite. Aber Chemsex? Der findet wohlmöglich gerade bei einem selbst nebenan statt, die Leute haben daran sogar mehr Spaß als man selbst bei seinen Käsewürfeln und vergessen den Klimawandel. Det braucht keen Mensch!!! Ja, ja, es hat schon seinen Grund, weshalb Gruppensexparty auf Deutsch wie Neztwerkdurchsetzungsgesetz klingt und nicht wie auf Französisch, nämlich ganz anders, nämlich so: partouze. Wenn unserem Arthur also auf einem seiner vielen Pariser Partouzen immer wieder die optische Ähnlichkeit der nackten Körperanhäufungen mit den bekannten Bildern aus den befreiten KZs auffällt und er in den Blicken mitte20jähriger AIDS-Totgeweihter aus den frühen 80ern diejenigen von Juden hinter Stachdrahtzäunen wiederentdeckt, so sehen wir ganz zwangsläufig die Karin Göring-Eckardts dieser Nation die Nase rümpfen. Was soll denn so was? 


Und überhaupt: kann es sich denn bei 2000 Seiten Sextagebuch, das ganz ohne Metaphern und sprechende Namen à la Martin Walser auskommt, das Eigennamen überhaupt den Garaus machen will, überhaupt um Literatur handeln? Wir haben Frau Lewitscharoff am Telefon hierzu befragt und sie meint, nein. Nein, die Chemsextoten werden keine neuartigen Schleifchen als Modeaccessoires hervorrufen. Dafür haben sie einfach zu viel Spaß gehabt. Und das ist auch der Grund, weshalb es in dem Buch um Chemsex erst so ab Seite 1900 geht und dann auch schon sehr schnell Schluss ist. Chemsex ist zum Sterben nicht zum Schreiben. Fun ist ein Stahlbad, hieß es früher. Heute muss man sagen: Wenn in einem Buch, wenn in einer gesamten Literatur die beiden Wörter "3-MMC" und "Grindr" NICHT vorkommen, "vergast". Ein Epitaph.


 


     



Anmerkung von toltec-head:

Arthur Dreyfus, Journal sexuel d´un garçon d´aujourd´hui, POL, 2021, 2304 Seiten

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