Epochentypische Gedichte: Goethe: Prometheus

Hymne zum Thema Emanzipation

von  EkkehartMittelberg

Epochentypische Gedichte: Johann Wolfgang von Goethe: Prometheus


Bedecke deinen Himmel, Zeus,
Mit Wolkendunst
Und übe, dem Knaben gleich,
Der Disteln köpft,
An Eichen dich und Bergeshöhn;
Mußt mir meine Erde
Doch lassen stehn
Und meine Hütte, die du nicht gebaut,
Und meinen Herd,
Um dessen Glut
Du mich beneidest.

Ich kenne nichts Ärmeres
Unter der Sonn als euch, Götter!
Ihr nähret kümmerlich
Von Opfersteuern
Und Gebetshauch
Eure Majestät
Und darbtet, wären
Nicht Kinder und Bettler
Hoffnungsvolle Toren.

Da ich ein Kind war,
Nicht wußte, wo aus noch ein,
Kehrt ich mein verirrtes Auge
Zur Sonne, als wenn drüber war
Ein Ohr, zu hören meine Klage,
Ein Herz wie meins,
Sich des Bedrängten zu erbarmen.

Wer half mir
Wider der Titanen Übermut?
Wer rettete vom Tode mich,
Von Sklaverei?
Hast du nicht alles selbst vollendet,
Heilig glühend Herz?
Und glühtest jung und gut,
Betrogen, Rettungsdank
Dem Schlafenden da droben?

Ich dich ehren? Wofür?
Hast du die Schmerzen gelindert
Je des Beladenen?
Hast du die Tränen gestillet
Je des Geängsteten?

Hat nicht mich zum Manne geschmiedet
Die allmächtige Zeit
Und das ewige Schicksal,
Meine Herrn und deine?

Wähntest du etwa,
Ich sollte das Leben hassen,
In Wüsten fliehen,
Weil nicht alle
Blütenträume reiften?

Hier sitz ich, forme Menschen
Nach meinem Bilde,
Ein Geschlecht, das mir gleich sei,
Zu leiden, zu weinen,
Zu genießen und zu freuen sich,
Und dein nicht zu achten,
Wie ich!

verfasst 1774, erschienen 1789

Aus: Sämtliche Werke. Jubiläums-Ausgabe. J. G. Cottasche Buchhandlung. Stuttgart o. J.


Sturm und Drang Goethes Hymne „Prometheus“ ist typisch für die Epoche des Sturm und Drang (1765 – 1785), die wir hier insoweit vorstellen, wie dies zum Verständnis des Gedichts hilfreich ist.

In dieser Epoche hat sich das Bild des Dichters als Meister, der sich an Regeln hält und sie beherrscht, grundsätzlich geändert zugunsten einer Vorstellung vom Originalgenie, das sich im freien Umgang mit Ideen und Sprache von einengenden Regeln befreit. Die Epoche wird deshalb auch als Geniezeit oder Genieperiode bezeichnet. Goethes Auffassung von Genie ist für unsere Zeit prägend geworden. Vor der Zeit des Sturm und Drang sagte man, „‚jemand hat Genie‘ und meinte damit, dass er Klugheit, Einfälle und Geschick habe, um ein Werk nach dem Stilprinzip des Witzes hervorzubringen. Seit dem Sturm und Drang sagt man, ‚jemand ist ein Genie‘ und meint damit, dass er aus sich heraus ein Weltbild formt, bleibend, groß, vorbildhaft, und dass ihm dabei der Sinn für die Gesetzlichkeit der Lebensvorgänge eingeboren ist, sodass ein Werk die innere Notwendigkeit der Natur in sich trägt.“ (Erich Trunz: Goethes Werke, Bd. I. Hamburg: Wegner 1960, S. 427)

Der Sturm und Drang ist als Gegenbewegung zur Aufklärung zu verstehen, die Dichtung der Herrschaft der Vernunft unterwarf, die den Ausdruck von Emotionen kontrollierte. Die Genieperiode setzte frei, was bis dahin durch Regeln der Vernunft gefesselt war, nämlich überbordende Gefühle, Fantasie und Gemüt.

Ein Zitat Herders wurde zum Motto der Zeit: Die Stimme des Herzens ist ausschlaggebend für die vernünftige Entscheidung.“ Das hatte zur Folge das überkommene Herrschaftsverhältnisse, Moralvorstellungen, Konventionen und Autoritäten in Frage gestellt wurden.


Mythologische Bezüge

Diese Hymne ist ohne die Kenntnis ihrer mythologischen Bezüge nicht verständlich, von denen wir hier nur die wichtigsten referieren. Der Halbgott Prometheus ist der Sohn des Titanen Japetos. Zeus hatte die Titanen im Kampf besiegt und die Macht des bis dahin herrschenden Titanen Kronos an sich gerissen. Prometheus aber liegt weiter im Kampf mit Zeus und befindet sich auch im Gegensatz zu den Titanen. Er stahl für die Menschen vom Olymp das Feuer, das Zeus ihnen entzogen hatte, und entführte es auf die Erde. Mit dem Feuer brachte er den Menschen die Kultur überhaupt. Dafür nahm Zeus schreckliche Rache. Er ließ Prometheus an einen Felsen schmieden und schickte ihm einen Adler, der täglich von seiner Leber fraß, die über Nacht wieder nachwuchs. Später wurde Prometheus von Herakles befreit.

Nach einer anderen Überlieferung schuf der Halbgott Prometheus die Menschen aus Ton und beseelte sie.

Auch Prometheus, der sich Zeus widersetzt hat,muss wie dieser den ältesten Mächten gehorchen, der Zeit (Chronos) und dem Schicksal (Moira).


Interpretation

Mit Freien Rhythmen gewinnt Goethe die Möglichkeit, den Protest des Prometheus gegen Zeus mit Enjambements über Zeilengrenzen hinweg kraftvoll fließen zu lassen.

Gleich in den ersten fünf Zeilen macht Prometheus seinen Widersacher Zeus lächerlich, der als Gott des Blitzes mit einem Distel köpfenden Knaben verglichen wird, der die Anwendung von Gewalt an Eichen und Bergeshöhen noch üben muss.

Die Zeilen 6-11 zeugen von dem prallen Selbstbewusstsein des Halbgotts. Mag Zeus den Himmel regieren, der Herr der Erde ist Prometheus und für den Bau von Hütte und Herd bedarf er nicht der Hilfe des Zeus. Vor allem aber gebietet Prometheus über die Glut des schöpferischen Feuers, das Zeus ihm nicht wieder entwenden konnte.

In der 2. Strophe (Zeilen 12-20) gibt Prometheus die Götter weiter der Lächerlichkeit preis, die ihre kümmerliche Herrschaft auf Opfersteuern und Gebetshauch gründen müssen, deren sie nur deshalb teilhaftig werden, weil ihre Verehrer, hoffnungsvolle Toren, Kinder und Bettler sind .

Die Rückschau der 3. Strophe zeigt, dass die Götter, von Zeus repräsentiert, nicht nur ärmlich und erbärmlich sind, sie sind auch herzlos und erbarmungslos einem hilflosen Kinde gegenüber (Zeile 21-27).

In der 4. Strophe (Zeilen 28-36) gipfelt der Hohn des Prometheus, weil er Zeus seine Autonomie klarmacht.

Ohne dessen Hilfe hat er sich im Kampfe gegen die Titanen behauptet, typisch für den Sturm und Drang nicht mit Hilfe seiner Vernunft, sondern mit seinem heilig glühenden Herzen. Eine Fülle rhetorischer Mittel unterstützt den glühenden Vorwurf gegen Zeus: die Alliterationen in den Zeilenanfängen 28-30 wer, wider, wer, die Häufung rhetorischer Fragen, die ihm Gelegenheit geben, sein heilig glühendes Herz als von Zeus betrogen darzustellen. Das schließt Rettungsdank für dem schlafenden Herrscher des Olymp aus.

Die 5. Strophe vertieft die Anklage gegen den erbarmungslosen Zeus. Weitere rhetorische Fragen prangern die Mitleidlosigkeit von Zeus gegenüber Schmerzen und Tränen des Prometheus an, die auch Motiv des Mythos ist, in welchem erst Herakles den Gequälten erlöst. Indem Prometheus die Herrschaft der Zeit und des Schicksals herausstellt, zieht er Zeus auf seine Ebene herunter („Meine Herren und deine!“)

Die 6. Strophe führt Zeus vor Augen, dass er sich verrechnet hat, wenn er glaubte, dass Prometheus in Wüsten fliehend, weil nicht alle Blütenträume reiften (Metaphern), resignierte.

In der letzten Strophe spielt Prometheus noch einmal alle seine Trümpfe aus: Er formt die Menschen, die eigentlich Zeus verehren sollten, nach seinem Bilde. Das Leiden und das Weinen der Menschen werden als Stärke verkauft, weil er sie so geformt hat. Sie genießen und freuen sich ohne Einwirken der Götter, Am Schluss zeigt Prometheus seine stärkste Waffe. Er lehrt die Menschen, Zeus nicht zu achten und entzieht sie damit dessen Herrschaft. Er hat sich gegen Zeus emanzipiert.


Die Freien Rhythmen dieser Hymne, die als Anklage eigentlich eine Antihymne ist. wirken, als habe Goethe sie im Feuer der Leidenschaft aufs Papier geworfen. Doch man täusche sich nicht. Die Kunst besteht gerade darin, beim zweiten Lesen zu erkennen, dass die ungebändigt erscheinenden Freien Rhythmen mit ihren Zeilensprüngen von einem starken Gestaltungswillen geprägt sind, der bei genauem Hinsehen in jeder Zeile sichtbar wird.




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Kommentare zu diesem Text


 Tula (22.01.22, 01:57)
Hallo Ekki
Das waren Zeiten, als wir das Gedicht als noch halbe Kinder in der Schule hatten. Von Sturm und Drang dabei keine Spur bei uns; die Sage wurde uns erklärt, als der Adler an der Leber knabberte, dachten wir auch gleich an Kartoffelbrei und Zwiebelsoße dazu  :(

Nein, natürlich nicht, aber du hast das Werk meisterlich gemeistert. Und ich finde das Gedicht bis heute lesenswert. 

LG
Tula

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 22.01.22 um 11:44:
Merci, Tula, woran mag es liegen, dass man den Prometheus"  bis heute als lesenswert empfindet. Ich denke, es ist der Schwung der Freien Rhythmen, der immer noch befreiend wirkt und der Leser lässt sich auf die Fiktion des Zeus ein, als gäbe es diesen hochmütigen, erbarmungslosen Beherrscher des Olymp noch immer.

LG
Ekki

 AchterZwerg (22.01.22, 07:55)
Ein wunderbares Gedicht um "Sünde" und Vergeltung, die schließlich in der Revolte ihr vorläufiges Ziel finden. Ein Lehrstück über das Aufkeimen von Emanzipation
Immer wieder brandaktuell und vom Altmeister - formal genialisch - in Szene gesetzt.
Von dir aber vortrefflich interpretiert.

Ein echter Lesegenuss <3
Piccola

 EkkehartMittelberg antwortete darauf am 22.01.22 um 11:54:
Grazie, Piccola, es kann nicht anders sein, als dass mir dein Kommentar sehr gefällt.
In Erwartung gespannter Leser
Ekki

 indikatrix (22.01.22, 08:25)
In der Schule auch eines meiner Lieblingsgedichte,
ich habe deinen wunderbaren Text dazu sehr gerne gelesen!
LG
indi

 EkkehartMittelberg schrieb daraufhin am 22.01.22 um 11:56:
Gracias, Indi, ich bin froh, dass meine Interpretation nicht allzu sehr hinter dem genialischen Text zurückbleibt.
Liebe Grüße
Ekki
klausKuckuck (71) äußerte darauf am 22.01.22 um 13:21:
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 EkkehartMittelberg ergänzte dazu am 22.01.22 um 17:31:
Ja, danke,ein interessanter Beitrag.

 Graeculus (22.01.22, 17:47)
Bei Sturm und Drang zwischen Aufklärung und Romantik habe ich eine Lücke.
Goethe wird hier Bezug genommen haben auf das Drama des Aischylos, oder? Von Aischylos war er m.W. stark beeindruckt, während Euripides ihm quer gelegen haben dürfte.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 22.01.22 um 19:31:
Obwohl es ein Dramenfragment von Goethe "Prometheus"gibt, konnte ich nicht feststellen, ob ihn Aischylos bei der Entstehung der Hymne beeinflusst hat. Ich vermute, dass sein Weg zu Prometheus anders gelaufen ist.  Unter dem Einfluss Herders interessierten sich die Dichter des Sturm und Drang für die Mythen europäischer Völker.. Der erfindungsreiche Prometheus, der Zeus das Feuer mit List entwendete, entspricht besonders dem Vorbild des vom Sturm und Drang verehrten Originalgenies, das gegen Autoritäten rebelliert.
Ich denke also,.dass der Weg Goethes zu dieser mythischen Figur direkt war.

 Graeculus meinte dazu am 22.01.22 um 22:17:
Gehen wir davon aus. Danke für die Auskunft.

 Moja (23.01.22, 12:43)
Deine Reihe gefällt mir, lieber Ekki! Da mag ich mich noch mal darin vertiefen, außerdem tauchen Erinnerungen auf, wie ich vor der Klasse stand und das Gedicht aufsagte, es geht mir immer noch leicht von den Lippen. 

 :) Herzlichen Gruß,
Moja

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 23.01.22 um 13:02:
Vielen Dank, Moja. Obwohl die Hymne, wie du zu Recht schreibst, leicht von den Lippen geht, findet sie nicht so viel Beachtung  wie die Barockgedichte. Das erstaunt mich etwas, weil das Rebellieren gegen Autoritäten doch dem Zeitgeist entspricht.
Liebe Grüße
Ekki

 Moja meinte dazu am 23.01.22 um 13:10:
Dazu fällt mir noch ein, Ekki, dass ich nun über 50 Jahre später, das Gedicht auf sehr persönliche Weise lese, mit Rückblick auf mein Leben, wo ich mich meist allein gegen "sogenannte Autoritäten"  durchschlagen musste, gerade die letzten Zeilen geben Kraft. Wusste ich das damals schon? Ich erinnere mich nicht. 
Danke Dir!
Moja

 GastIltis (23.01.22, 19:40)
Lieber Ekki,
ich staune! Warum? Weil ich erst vor einer guten Woche mit meinen Zeilen „Kehre um verirrtes Auge“ mir eine veränderte Zeile aus dem „Prometheus“ entnommen habe, um, wenn auch auf erheblichen Umwegen auf den Halbgott aufmerksam zu machen, der den Menschen das Feuer gebracht hat. Dass es mir trotz der vielen glühenden Bezüge nicht gelungen war, zeigte mir die relative Resonanz. Nun kann man seine Absichten tief in Versenkungen verbergen, aber sie auch wunderbar offenlegen. Dafür sind Foren nun einmal da. Und die Zeile, die ich gewählt habe, ist auch nicht gerade die prägnanteste im großartigen Goethe-Text, das muss man schon zugestehen. Die Freiheit liegt im Verborgenen.
Sei von Herzen gegrüßt von Gil.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 23.01.22 um 19:56:
Lieber Gil.
ich denke, dass wir beide unser Bestes gegeben haben. Aber vielleicht liegt die mäßige Resonanz nicht an uns, sondern daran, dass die klassischen Mythen keine Konjunktur mehr haben. Ich danke dir auf jeden Fall für deine Empfehlung.
Herzliche Grüße
Ekki

 Saira (24.01.22, 18:10)
Das Eintauchen in Goethes Hymne "Prometheus" und in deine Interpretation dazu ist ein Lesegenuss und ein Gedankengeschenk sondergleichen!

Herzliche Grüße
Sigi

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 10.02.22 um 20:35:
Vielen Dank, Sigi, das freut mich sehr.
Herzliche Grüße
Ekki
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