Die Blockade der Marinebasis

Kurzgeschichte zum Thema Krieg/Krieger

von  Koreapeitsche

Es tobte gerade der zweite Golfkrieg, nachdem zuvor der erste Golfkrieg zwischen dem Iran und dem Irak ohne Sieger mit einem Waffenstillstand endete. Jetzt eskalierte es erneut in der Region, weil der Irak sein Nachbarland Kuwait besetzt hatte. Deshalb sollten mehrere Marineschiffe der Bundeswehr in einem Nato-Einsatz ins östliche Mittelmeer verlegt werden, um von dort den Luftraum im Nahen Osten zu überwachen und notfalls mit  ballistischen Raketensystemen einzugreifen Deshalb sollte der Lenkwaffenzerstörer Rommel vom Marinestützpunkt Kiel aus im Rahmen dieser Nato-Mission ins östliche Mittelmeer auslaufen. Das war der Friedensbewegung natürlich ein Dorn im Auge, und deshalb fassten sie den Entschluss, den Marinestützpunkt in Kiel- Wik einfach zu blockieren bis keine Fahrzeuge mehr auf den Stützpunkt gelangen konnten.
Allerdings besaß der Marinestützpunkt zwei Eingänge. Der Haupteingang befand sich oben gegenüber des Flandernbunkers. Das war die Hauptzufahrt für alle hier auf dem  Marinestützpunkt tätigen Soldaten und Zivilangestellten. Ein zweiter Zugang befand sich weiter südlich vis-à-vis zur Tirpitzmole, sodass Lieferfahrzeuge direkt geradeaus auf die Mole zufahren konnten. Dieser  Nebeneingang des Stützpunktes wurde lediglich in Ausnahmefällen zum Beispiel von Lieferfahrzeugen genutzt. Also mussten wir genau zwei Eingänge zum Stützpunkt zu blockieren. 
Zunächst wurde eine große Blockade vor dem Haupteingang des Stützpunktes errichtet. Dafür wurden sogar Gegenstände herbeigetragen. Die Blockierer standen teils vor dem Eingang teils saßen sie auf dem Boden direkt auf der Straße oder auf dem Bürgersteig. Also war für Autos kein Durchkommen, vielleicht gerade noch für Fußgänger. Doch auch die hätten vom Betreten des Stützpunktes durch kleine Grüppchen abgehalten werden können, sei es durch Gespräche, sei es durch bloßes Entgegenstellen. Eine zweite Blockade musste am besagten Nebenzugang des Marinestützpunktes errichtet werden, damit der Laden auch wirklich dicht war. An dieser zweiten Blockade saß auch ich. Auch hier wurden Gegenstände auf die Straße gelegt. An dieser Blockade des Zweitzuweges saßen in erster Linie junge Menschen, während die Blockierer oben vor dem Haupteingang deutlich älter waren. Am Zweitzugang saßen in erster Linie ehemalige und aktuelle Zivildienstleistende. Ich sah an unserer Blockade keine Frau. Und vor dem Haupteingang waren nur sehr wenige Blockiererinnen zu sehen.
Ich selbst hatte gerade mal erst vor einem halben Jahr meinen Zivildienst abgeschlossen und stand beruflich defakto auf der Straße. Und jetzt saß ich vor dem Marinestützpunkt auf der Straße und blockierte. Es war wirklich eine tolle Atmosphäre trotz der Kälte, denn wir hatten auch Musik dabei, die auf einem Kasi Recorder lief. Ein Kumpel, den ich vom Zeitungsaustragen kannte, hatte sogar eine Gitarre mitgebracht. Jetzt saßen wir hier, unterhielten uns locker und entspannt und waren überzeugt, etwas Sinnvolles gegen Krieg und Rüstungswahn zu unternehmen und ein Zeichen zu setzen gegen die wachsende Eskalation im Nahen Osten. Inzwischen war bereits Kuwait komplett von irakischen Truppen besetzt.   
      Im weiteren Verlauf der Blockade kamen immer wieder Leute vorbei und brachten uns heißen Tee.
      „Moin, ich haben hier noch eine Kanne Tee und ein paar Becher. Seid ihr noch versorgt oder kann ich den Tee hier lassen?“
      „Oh, sehr gerne.“
      „Wir bringen nachher noch ein paar Kleinigkeiten zum Essen vorbei!“
      „Oh ja, sehr gerne.“
Es wurden ein paar Lebensmittel und Süßigkeiten gereicht, sodass wir gut versorgt waren und bei guter Laune blieben. Es schauten mehrere Intellektuelle oder Akademiker vorbei, nur um sich mal kurz mit uns Blockierern zu solidarisieren und über die aktuelle Lage zu diskutieren. Die Leute sprachen teils sehr interessante Themen an. Ich kann mich an einen Mann erinnern, die einen kleinen Redebeitrag über die Sonne brachte, dass die Sonne ja aus Gas bestehe und langsam verbrenne. Was er sagte wirkte wie ein Quiz oder Rätsel oder wie ein Bildungsauftrag.
      „Die Sonne besteht fast ausschließlich aus Wasserstoff und dazu Helium. Irgendwann wird die Sonne komplett verglüht sein. Und wenn das gesamte Wasserstoffgasgemisch verbrannt sei, würde die Sonne aufhören zu scheinen. Das relativiert all unsere irdischen Probleme,“
sagte der Dichter.
Das war für unsere Sorgen wie Balsam, und wir waren froh, dass die Sonne noch manchmal hinter den Wolken zu sehen war. Der Mann wollte ein Stück weit unsere irdischen Probleme relativieren, die wir auch bei dieser Blockade ausfochten. Diese menschlichen Begleiterscheinungen des Blockierens waren wirklich sehr spannend und interessant, und wir fühlten uns unterstützt, erheitert und ernst genommen. Kurze Zeit später, als der Mann seinen Redebeitrag beendet hatte, ging er weiter in Richtung Uferpromenade.
Wir wussten jetzt nicht, was passieren würde, ob sowohl die große Blockade vor dem Haupteingang und die etwas kleinere Blockade vor dem Nebeneingang demnächst von der Polizei oder vom Militär aufgelöst und geräumt werden konnte. Trotzdem saßen wir weiter an diesen Stützpunkt, froren uns den Arsch ab und blockierten.
      „Wenn das nicht so kalt wäre.“
      „Da kommt der nächste mit einer Kanne Tee.“
      „Das wird ja mal Zeit.“
Doch bald kam die Nachricht, die sich von Mund zu Mund verbreitete, dass die Besatzung der Rommel von Schusterkrug aus vom MFG 5 Gelände über ein Transportschiff oder ein Landungsboot direkt auf dem Wasserweg zur Tirpitzmole und zum Liegeplatz der Rommel gebracht würde. Das heißt, dass die Besatzung der Rommel statt zum Marinestützpunkt ein paar Kilometer weiter zum MFG5-Gelände gebracht wurde, auf dem sich Kasernen, ein Militärflugplatz, Landeflächen für Seaking Marinehubschrauber und Anlegestege für Schiffe befanden. Das bereitete uns Kopfzerbrechen, denn die Besatzung der Rommel würde nicht von der Landseite aus den Stützpunkt betreten, sondern von der Seeseite direkt zum abfahrtbereiten Zerstörer Rommel transportiert werden.
Wir rekapitulierten die Situation.
      „Die Besatzung ist also zunächst auf der anderen Seite des Kanals nach Schusterkrug gebracht worden, wo sie das MFG5-Militärgelände betraten und mit dem Schiff von Anlegestegen die Küste entlang an den Kanalschleusen vorbei die rund zwei Kilometer in die Wik zur Tirpitzmole gebracht wurden.“
      „Also hat die Besatzung die Blockaden heimlich umgangen, wogegen wir machtlos waren. Sie haben geschickt die  Konfrontation mit den Blockieren gemieden.“
      „Genauso ist es.“
Als der Zerstörer ablegte, hatte sich der Blockadepunkt vor dem Haupteingang längts aufgelöst. Das wirkte routiniert, wie business as usual. Ich war zuvor mehrmals zum Hauptblockadepunkt gegangen, um zu sehen wie dort der Stand der Dinge war. Als ich jetzt zum Haupttor blickte, waren dort nicht einmal mehr Müllreste zu sehen, so schnell und professionell beendete die Hauptgruppe die Blockade. Ein paar wenige gingen die rund 200 Meter zur Nebenblockade, wo wir weiterhin saßen, Alkohol tranken und Musik hörten. Wir mussten einsehen, dass eine Fortsetzung der Blockade jetzt nichts mehr brachte.
Nach der Ankunft an der Tirpitzmole bezogen die Matrosen ihre Posten, und das Schiff wurde startklar zum Ablegen freigegeben. Jetzt wussten alle Blockierer, dass die Rommel zwar mit etwas Verspätung, aber trotzdem einigermaßen im gesetzten Zeitrahmen ablegen und in See stechen würde. Das Kriegsschiff hatte nur wenige Stunden verloren.
Wir konnten von unserem Blockadepunkt gut beobachten, wie die Rommel an der Mole fest lag, wie die Leinen los gemacht wurden und plötzlich das Startsignal zur Abfahrt gegeben wurde. Es ertönte ein Pfiff der Bootsmannspfeife, und wir sahen wie das Schiff langsam wie in Zeitlupe von der äußeren Seite des Militärstützpunkte abfuhr und sich von der Mole entfernte.
An der Üferpromenade hatte sich inzwischen eine Menschenkette gebildet.
Wir erhoben uns, räumten ebenso den Müll weg und gingen in Richtung Uferpromenade. Hier reihten wir uns in die Menschenkette ein, die dort nebeneinander stehend mit Blick zur Förde das erste scharfe Wendemanöver der Rommel mitverfolgte, denn das Schiff musste hart nach links eindrehen.
      Es war kalt und diesig. Es fing an zu nieseln. Der Himmel war weitesgehend grau. Jetzt fuhr ein kleiner VW Bus vor, auf dessen Dach ein Lautsprecher installiert war. Jetzt bestieg mein Kumpel mit seiner Gitarre den Lautsprecherwagen, setzte sich vorne auf die  Sitzbank neben dem Steuer, schaltete das Mikro ein und auch den Lautsprecher, und brachte das Mikrofon mit seinem geringelten Kabel in Richtung Gitarre und seiner Lippen, sodass Gesang und die Gitarrenmusik über den Lautsprecher übertragen werden konnte. Er spielte ein Antikriegslied auf der Gitarre und sang dazu, während der Lautsprecher in Richtung der Rommel ausgerichtet war. Wir waren uns nicht sicher ob die Besatzung diesen Antikriegssong tatsächlich hören konnte. Aber Hauptsache wir konnten ihn hören, denn er wirkte wie Medizin, wie eine Durchhalteparole für die Menschenkette.
Die Rommel fuhr jetzt mitten auf die Förde, drehte sich um nahezu 90 Grad und platzierte sich auf der Fahrrinne. Von dort nahm sie Kurs Richtung Außenförde. Ich bin mir aber jetzt nicht sicher, ob sie nicht in Richtung Schleuse einbog, um in den Nord-Ostsee-Kanal zu manövrierte.
Das Ziel des Kriegsschiffs war das östliche Mittelmeer. Wir verfolgten Prozedere eine Weile von der Uferpromenade, wo wir direkt an der Uferbegrenzung standen kurz oberhalb der Spundwände, teils weniger als einen halben Meter von der Uferkante entfernt am Bürgersteig neben der Straße.
Als die Rommel langsam aus dem Sichtfeld verschwunden war,  fühlten wir uns desolat und niedergeschlagen. Wir verließen das Areal im näheren Einzugsbereich des Marinestützpunktes, und ein Großteil der Blockierer machte sich jetzt auf den Weg über die Merkatorwiese oder durch Düsternbrook an der Forstbaumschule vorbei. Die Forstbaumschule hatte zu der Uhrzeit am späten Vormittag leider geschlossen. Sonst hätten wir uns hier niedergelassen. Stattdessen gingen wir zu den Bushaltestellen an der Feldstraße oder weiter oben an der Holtenauer Straße, um nach Gaarden ins Café Kreuzberg zu fahren, wo wir uns treffen und den weiteren Tag begehen wollten. Im Café Kreuzberg ließen wir uns restlos dicht laufen, nahmen allerdings auch Heißgetränke zu uns, da wir vom Blockieren in der Kälte vollkommen ausgekühlt waren. Ich kann mich daran erinnern, dass es uns wirklich sehr schlecht ging. Wir fühlten uns nicht, als hätten wir gemeinsam und entspannt blockiert, sondern als hätten wir kilometerweite Strapazen hinter uns gebracht, die an unsere körperlichen und seelischen Grenzen gingen. Dabei waren wir doch lediglich mit Fahrrädern Autos oder öffentlichen Verkehrsmitteln von der Wik aus nach Gaarden in diese Café-Kneipe gefahren. Das Café Kreuzberg existiert heutzutage nicht mehr. Es wurde irgendwann aus finanziellen Gründen geschlossen. Die Rommel fuhr nach dem Ablegen tatsächlich ins östliche Mittelmeer. Das Schiff trat wie geplant seine Auslandsmission im Rahmen des Zweiten Golfkrieges an. Heutzutage ist die Rommel längst verschrottet.
Ein Freund von mir war an Bord eines Minensuchers, der während der besagten Mission ebenfalls ins östliche Mittelmeer fuhr. An Bord des Minensuchers fakte er einen Schreikrampf, warf sich auf den Decksboden und hämmerte mit den Fäusten auf die Schiffsoberfläche. Er schrie
      „Ich will hier weg. Ich will nach Hause. Ich will nicht in diesen Krieg ziehen.“
Daraufhin wurde er von Bord gebracht und nach Deutschland ausgeflogen. Für ihn war damit der Militäreinsatz und seine Bundeswehrzeit vorüber.
Schließlich knallte es so richtig im Irak. Amerikanische Truppen eroberten schrittweise die Kampfgebiete. Es gab ein Inferno an Tomahawk-Raketen auf Bagdad, was nachts live im Fernsehen übertragen wurde. Das Fernsehbild war grün eingefärbt. Die Luft wurde durchschnitten wie von hellgrünen Laser-Pfeilen. Ich saß in dieser Nacht mit meinem Kumpel Thomas L. in der kieler Kneipe „Kaskade“ unten Am Wall, wo wir uns vollaufen ließen und den Raketenbeschuss auf Bagdad live mitverfolgten. Irgendwann hatten wir die Schnauze voll von den Bildern und zogen uns die Bandana-Halstücher über die Augen. Das war Suicidal Tendencies-Style. So konnten wir das Geschehen im Irak nicht weiter auf den TV-Bildschirmen der Kneipe verfolgen. Im Hintergrund lief inzwischen ohnehin die Jukebox. Wir dachten, das sei schon das Ende der Welt.



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Kommentare zu diesem Text


 Dieter_Rotmund (29.01.22, 00:52)
Der Jargon ist interessant.

P.S.: "Es schauten mehrere intellektuelle und Akademiker vorbei"/ "die Leute Sprachen" / "Durchhalteparale" / " Antikriedslied"

 Koreapeitsche meinte dazu am 29.01.22 um 16:21:
Joo, Danke Dieter.
Schlimmer wäre ein "Anti-Kiez-Lied". 
:)
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