Der fixierte Tote

Kurzgeschichte zum Thema Behinderung

von  Koreapeitsche

Es roch nach Pisse in der Klinik. Überall stand vollgeaschtes Geschirr. In einigen Patientenzimmern war an den Fenstereinfassungen Schwarzschimmel zu sehen. In den Zimmern wurden immer wieder Silberfische gesichtet. Einige Wände, besonders auf den Toiletten, waren mit menschlichen Fäkalien verdreckt. Es waren jedoch nur wenige Blutspuren zu sehen.
      Beim Personal herrschte ein sehr aggressiver, herrischer Unterton. Beschwerden von Patienten und Angehörigen wurden zur Kenntnis genommen und Abhilfe versprochen. Doch es klärte sich nichts. Wer sich wiederholt beschwerte, lief Gefahr, diskriminiert oder gar überhart angefasst zu werden. Der Klinikleiter hätte zwar Missständen entgegen wirken können, doch er hatte eher eine repräsentative Funktion und das Personal hatte freie Hand. Er wirkte etwas eingeschüchtert.
      Eines Tages wurde ein verunsicherter Patient eingeliefert, der aufgrund seiner psychischen Behinderung Klient einer ambulanten Tageseinrichtung war. Die Belegschaft der Klinik ging von anfang an schroff mit dem Patienten um, zumal er auf einigen Stationen  bereits bekannt war, was ihm viele spontane Einträge und Kommentare in seiner Krankenakte bescherte, deren Urheberschaft nicht eindeutig geklärt werden konnte. Vieles entsprach nicht den Tatsachen und wirkte langfristig diskriminierend. Der schroffe Empfang an der Klinikrezeption und der Notfallambulanz ließ den psychisch kranken Patienten etwas panisch reagieren, zumal er in der Klinik bereits vor ein paar Jahren schon von einem kräftigen Pfleger misshandelt wurde, der ziemlich brutal mit ihm umsprang, sowohl verbal als auch physisch. Als der Patient jetzt schrie
      „Ich will hier wieder raus!“
löste eine Ärztin sofort den Alarm aus, woraufhin der psychisch Behinderte von mehreren kräftigen Pfleger*innen überwältigt und auf einem Bett fixiert wurde. Die Ärztin begründete das mit dem Psychischkrankengesetz, das sie nachträglich schnellstmöglich von einem Richter oder einer Richterin bestätigen lassen musste. Er leistete gar keinen Widerstand. Trotzdem ging es zur Sache, als wollten sie einen Amokläufer lahmlegen. Da der Mann schrie, wurde ihm ein Kissen aufs Gesicht gedrückt, bis er auf die geschlossene Station geschoben war. So konnten auch das lästige Geschrei unterdrückt werden. Erst jetzt erhielt er die Beruhigungsspritze. Das Bett stand jedoch nicht in einem offiziellen Krankenzimmer, denn diese waren restlos ausgelastet, ausgenommen die Zimmer für die Privatpatienten. Also wurde er in einen Lagerraum gebracht, in dem sogar eine zusammengeklappte Tischtennisplatte stand. Der Raum roch stark nach Zigarettenrauch und war staubig. Hier ließen die Pfleger den aufs Bett fixierten Mann einfach stehen und verließen den Raum. Was das Klinikpersonal nicht wusste, war die Tatsache, dass der Mann aufgrund einer Vorerkrankung gar nicht hätte fixiert werden dürfen. Diese Information hätte sogar in der Krankenakte stehen müssen. Doch sie wurde weggelassen zugunsten mehrerer diskriminierender Einträge. Als am nächsten Morgen eine Krankenschwester ins Zimmer kam, war der fixierte Patient bereits tot. Jetzt ging das eigentliche Drama los, was besonders die Angehörigen des Verstorbenen und die Mitarbeiter der externen Betreuungseinrichtung betrifft. Die Klinikmitarbeiter der Station hielten die Umstände des Todesfalls geheim. Weder wurde die Polizei eingeschaltet, noch gab es eine Meldung an die Staatsanwaltschaft. Die Klinikleitung wurde nicht informiert, ebenso wenig das Büro der Öffentlichkeitsarbeit, geschweige denn die Presse, zumal es sich doch um einen schwerwiegenden Vorfall handelte.
Doch der Vorfall gelangte an die externe Betreuungseinrichtung des Verstorbenen. Dort wurde ein Gesprächskreis über den Todesfall ins Leben gerufen, ohne dass Sie die Polizei einschalteten. Es bestand die Angst, dass ein Skandal das Umfeld nachhaltig hätte beschädigen können. Außerdem waren die Teilnehmer des Gesprächskreises emotional stark in Mitleidenschaft gezogen und wollte auf diese Weise den Todesfall verarbeiten. Ein Mitarbeiter der Tageseinrichtung betonte, dass im Gesprachskreis besonders darüber Verwunderung herrschte, dass der Patient trotzdem so unfassbar lange fixiert war, obwohl aufgrund seiner Vorerkrankung gar keine Fixierung hatte angeordnet werden dürfen.
      Da der Patient am Morgen nach seiner Einlieferung bereits tot war, konnte das verhängte PsychKG, die Fixierung und die Zwangsmedikation nicht mehr richterlich bestätigt werden. Das war natürlich ein unglaubliches Desaster, und wollte die Klinik ihren guten Ruf bewahren, war es besser, auf dem Todesschein lediglich Tod durch Herzversagen eintragen zu lassen und die Richter*innen gar nicht erst mit dem genauen Todeshergang zu konsultieren. Die Sache schien erledigt und war inzwischen endlich verjährt.



Anmerkung von Koreapeitsche:

Die Handlungen und alle Personen in dieser Kurzgeschichte sind frei erfunden.
Jegliche Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und unbeabsichtigt.

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