Straßenschlacht am Samstagnachmittag

Kurzgeschichte zum Thema Politik

von  Koreapeitsche


Ich fuhr um 7.44 Uhr vom Hauptbahnhof Kiel nach Rostock. Ich sprach ein paar Leute an, ob sie mich auf ihrem Wochenend-Ticket mitnehmen könnten. Eine Dreier-Gruppe erlaubte mir, auf ihrer Fünfer-Karte mitzufahren, es war ein Ehepaar Ende 40 und ein junger Mann, wohl der Sohn. Der Ehemann, Stefan, ist bei Attac im Verteiler. Ich las in der TAZ, die mein Nachbar mir zur Verfügung stellte.
Auf der gesamten Zugfahrt herrschte gute Stimmung. Es waren viele Studenten in dem Wagen, in dem ich mich befand, auch ein paar Punks, alles kleine Reisegruppen mit dem Ziel Rostock. Es wurden viele politische und revolutionäre Sprüche geklopft. Ein junger Mann sagte:
„Was ist essbar und außen grün? ...“
„Ein Radieschen!“
Ich dachte seltsamerweise automatisch an die Polizei. So war dieser Assoziationswitz wohl auch intendiert. Aber vielleicht habe ich diesen Witz nicht richtig verstanden.
Ab Bad Kleinen, wo wir in einen Anschlusszug wechseln mussten, waren mehrere Polizisten mit alten Ostgesichtern und schusssicheren Westen mit im Zug. Ich unterhielt mich mit drei Mecklenburgern über Fußball und Langstreckenschwimmen. Wir wurden auf der gesamten Fahrt nicht kontrolliert. Es hätte sonst sicher ein paar Sprüche gehagelt.
Jemand zeigte mir den Landtagsabgeordneten der Grünen, der mit auf die Fahrt ging. Ich hatte mich vorher kurz mit ihm unterhalten, als ich auf der Suche nach einem Kaffeeautomaten war. Er sagte mir irrtümlicherweise, vorne im Zug befinde sich ein Restaurant - Fehlanzeige.
Wir kamen am späten Vormittag in Rostock an. Es herrschte viel Gedränge auf dem Weg aus dem Bahnhof heraus. Wir stellten uns auf den Platz vor dem Hintereingang des Bahnhofes. Hier waren fast ausschließlich rote Fahnen zu sehen. Wir wurden nach wenigen Minuten von einer Frau angesprochen, die Unterschriften für eine Abschaffung der Rüstungssteuern sammelte. Der Familienvater und ich unterschrieben auf der Liste. Wir erhielten noch ein Info-Blatt und die Frau ging weiter. Ich stand dort eine Weile mit der Familie, ging schließlich weiter, da ich dringend auf Toilette musste und einen Kaffee brauchte.
Ich trug an diesem Tag meine alte Motorradlederjacke, die ich vor über zehn Jahren in Berlin-Kreuzberg für 10 DM auf dem Flohmarkt am Moritzplatz erworben hatte. Auf der linken Brustseite hatte ich einen gelben Batch mit der Aufschrift „Veggie-Life“, auf dem Rücken einen kleinen Aufkleber mit der Telefonnummer und der Internet-Adresse eines Rekrutierungsbüros der Royal Navy, den ich während meines Auslandsstudiums auf eine Job-Börse an der Uni in Cardiff von einem Briten erhalten hatte. Der Aufkleber trug eine holographische Abbildung eines hochmodernen britischen Kriegsschiffs. Unter verschiedenen Blickwinkeln erzeugte das Holographie-Bild mal die Telefonnummer 08456075555 und mal die Internetadresse www.rnjobs.co.uk, unter einem anderen Blickwinkel die englische Seekriegsflagge mit der Unterschrift Royal Navy. Ich trug eine Jeanshose, ein Green-Day-T-Shirt, ein blaues Sweat-Shirt mit dem Namen meines Sportvereins, meine ausgelatschten Turnschuhe und ein blaues Halstuch. Sofern die Sonne schien trug ich meine Sonnenbrille, die ich mir sonst über die Stirn zog, oder später in die Jackentasche steckte. Es gab bestimmt einige Leute, die mich für einen Autonomen hielten. Oder sogar für einen Alt-Punk? Doch dafür war meine Frisur zu ordentlich.
Ich war überrascht, mit welcher Akribie viele Leute hier ihre Projekte verfolgten, an den Wagen und Transparenten arbeiteten oder ihre Durchsagen über Lautsprecher machten. Plötzlich sah ich den Grünenpolitiker Ströbele ein Fahrrad durch die Menge schieben, begleitet von einem weiteren Fahrradliebhaber. Ströbele hatte ein sehr hochwertiges Gefährt dabei, mit einem aufwendigen sicher bequemen Sattel. Ich ging weiter durch die Menge und ließ mir den Weg zu den Dixie-Toiletten zeigen, sah auf dem Weg Sergej aus dem „Ex-Lex“ und zwei der Kellnerinnen der Kieler Kneipe.
In der Schlange an den Klos sah ich eine alte Kommilitonin aus Berlin, mit der ich damals in der Einführung in die Textlinguistik saß. Ich grüßte sie nicht, stellte mich hinten an der Schlange an.
Als ich von der Toilette kam, wollte ich zu den Ex-Lex-Leuten gehen. Doch die waren nicht mehr da. Ich sah sie wenig später an einer anderen Stelle stehen, wo ich noch weitere Leute aus Kiel sah. Ich sah Anna vom Karate. Sie war mit einem der Busse da. Wir unterhielten uns kurz. Sie wusste noch nicht, ob sie am selben Abend wieder nach Hause fahren wollte. Ich verabschiedete mich mit:
„Bis nächste Woche!“
Ich unterhielt mich kurz mit den drei Ex-Lex-Leuten, sagte:
„Einen Getreide-Kaffee gibt es hier heute nicht!“ Die eine der Kellnerinnen, eine Anglistik-Studentin, lachte daraufhin. Auf meine Frage hin sagten sie, sie seien mit einem der Busse angereist. Ich wünschte viel Spaß, ging zu einer Frau, die ich aus dem „Hinterhof“ kannte. Wir unterhielten uns kurz, auch sie war per Bus angereist. Ich erwähnte kurz das „Konken“, das ja von der Polizei geschlossen wurde. Nach wenigen Sekunden des Gesprächs war ich kaputt, da der Frust aus Berlin und der letzten Wochen wieder hochkam. Mein Gedanke war, dass ich mich seit meiner Rückkehr aus Berlin nicht mehr richtig integrieren konnte. Ich verabschiedete mich von der Frau, ging wieder zurück zum Bahnhof. Hier sah ich eine kleine Italienerin, die ich vom Karate in Berlin kannte. Wir grüßten uns kurz. Sie hatte ihren Partner dabei. Meine Reisegruppe aus Kiel war fort. Ich schaute kurz nach den „Grünen“, doch auch die sah ich nicht. Die sah ich ja nicht einmal am Kieler Hauptbahnhof. Erst beim Aussteigen in Rostock bemerkte ich eine versprengte Gruppe von circa zehn Leuten mit einer „Grünen“-Fahne. Auf einer Bühne links neben dem Bahnhof trat eine politische Rap-Band auf. Die Texte waren sehr eingängig, die Musik tanzbar. Ich stand hier fast 20 Minuten alleine, sah die Neuankömmlinge sich in alle Richtungen verteilen. Ein Schalterbeamter einer Postfiliale aus Kiel ging alleine an mir vorbei. Allen Neuankömmlingen war eine gewisse Unruhe anzusehen, auch wenn gerade viele junge Leute zu Scherzen aufgelegt waren. Wir grüßten uns nicht. Plötzlich turnte ein weiblicher Clown vor mir herum. Er beugte sich nach vorne in Richtung meines Genitalbereiches, als wolle er mir etwas abbeißen. Ich fragte:
„Was willst du?“
und der Clown war im Nu wieder verschwunden. Auf der gesamten Demo gab es bestimmt 1000 männliche und weibliche Clowns. Ich sah noch einmal die gelockte Studentin aus Kiel, mit der ich mich mal am Falkensteiner Strand unterhielt. Sie fertigte gerade ein großes Transparent für ihre Gruppe an. Ich irrte jetzt weiter durch die Massen. Auf dem Walk durch die Menge streiften mehrmals Fahnen über mein Gesicht. Es war ein angenehmes Gefühl.
Mir wurden überall Flugblätter und Flyer zugesteckt, die ich mal annahm und mal ablehnte. Ich irrte ein wenig durch die Gegend, wusste gar nicht recht, wo und wie die Demo von Statten gehen sollte. Doch es ging mir nicht schlecht. Ich fühlte mich rebellisch und jugendlich. Zum Glück trug ich meine Motorradlederjacke, denn so wurde ich auch von den jungen Leuten akzeptiert. Eine Sprecherin sagte die Reihenfolge der teilnehmenden Blöcke durch. Schon vor Beginn der Demo hatte die laute Musik an mehreren Wagen die Schmerzgrenze erreicht.
Als nächstes versuchte ich mich an einen Abhang zu setzen. Ich rutschte jedoch wieder runter. Oben am Abhang saßen überall Leute, unterhielten sich und überblickten die Szenerie. Schließlich zog ich meine Lederjacke aus, legte sie auf den Boden und setzte mich darauf. Jetzt merkte ich erst, wie ausgepowert ich war. Ich aß mein Studentenfutter. Ich glaube, zu diesem Zeitpunkt war ich bereits leicht traumatisiert. Ich trug ein dunkelblaues Sweat-Shirt mit dem Schriftzug meines Sportvereins „SV Friedrichsort“ auf dem Rücken. Plötzlich standen vier junge Leute hinter mir, die eine der drei Frauen kannte ich aus der „Pumpe“ in Kiel. Sie ist eine Freundin von Sarah, die mal in Kiel Germanistik zu studieren anfing, abbrach und jetzt eine Ausbildung zur Buchbinderin macht. Hier auf der Demo unterhielt ich mich mit der Frau eine ganze Weile. Es war ein kompliziertes Gespräch. Sie schienen froh zu sein, eine vom Sehen bekannte Person getroffen zu haben. Wir standen dort und sahen einen mit Transparenten behangenen Wagen bei seinen Demo-Vorbereitungen. Es wurden laute tanzbare Beats gespielt, der dazugehörige Block kam allmählich in Bewegung. Auch ich fing an, mich rhythmisch zu bewegen. Nach fast einer halben Stunde wollten die vier Kieler Demobesucher weitergehen. Sie gingen jedoch in die dem Hafen entgegengesetzte Richtung. Auch sie schienen orientierungslos zu sein. Ich setzte mich wieder auf meine Lederjacke, legte mich beinahe mit einem jungen Punk an, der mit einem Metalldeckel die Leute ärgerte. Er schlug mit seiner Hand darauf als sei es ein Gong, machte das unmittelbar neben den Köpfen anderer Demo-Besucher. Er erzählte, er komme aus Bremen. Der Metalldeckel landete zweimal neben mir. Ich setzte mich zweimal darauf. Er sah aus wie der Deckel eine Film-Dose oder eines anderen Magnetbandes. Der Bremer Punk kam und nahm mir den Deckel wieder weg. Als nächstes lief ein fliegender Händler mit einer großen Umhängetasche an mir vorbei, ein grauhaariger Mann, der einen CD-Sampler „Move against G8“ inklusive DVD über den geplanten G8-Gipfel an den Mann bringen wollte. Ich warf einen kurzen Blick auf den Sampler, las die Bandnamen und entschied mich dazu, das gute Stück für 10 EUR zu kaufen. Schließlich ging der Demo-Zug langsam los. Die unterschiedlichen Blöcke setzten sich langsam in Bewegung. Zunächst lief ich parallel zum Zug zu einer Wiese. Ich wusste zunächst nicht, welchem Block ich mich anschließen sollte. Ich versuchte die Lage abzuchecken, legte mich schließlich auf die kleine Wiese und las einen Artikel in der „Newsweek“ der vorletzten Woche. Hier saßen mehrere Einzelpersonen herum, die auf dieser Demo scheinbar den Anschluss verpasst oder ihre Leute verloren hatten. Schließlich ging ich mit den Jusos weiter, die direkt hinter dem schwarzen Block marschierten. Ich bekam sofort einen mühevoll kreierten Flyer von der Ortsgruppe Boizenburg in die Hand gedrückt.
Auf der linken Seite des Demonstrationszuges befand sich ein begrünter Abhang. Hier saßen überall Leute herum, darunter sicher viele Einheimische und andere Schaulustige. Aber auch Leute, die sich nicht trauten, bei einer der Gruppen mitzumarschieren.
Die Autonomen spielten meinem Empfinden nach die beste Musik, eine Art Disco-Punk mit tanzbaren Beats. Sogar die Jusos konnten davon profitieren. Ich lief gut 200 Meter mit den Jusos mit. Der Demo-Zug kam immer wieder ins Stocken.
Jetzt schloss ich mit dem schwarzen Block auf. Bei mir derweil folgte ein Adrenalinschauer auf den anderen, und es sollte in den nächsten Stunden so weitergehen. Ich weiß nicht, ob es der einzige schwarze Block auf dieser Anti-G8-Demo war. Es musste ja alles angemeldet werden, deshalb wird die Sache auch irgendwo dokumentiert sein. Alle trugen schwarze Kleidung, vereinzelt Sonnenbrillen, und sie waren zum Teil vermummt bzw. hatten ihre zumeist schwarzen Halstücher bis übers Kinn oder höher gezogen. Links und rechts des Blockes trugen sie Transparente. Ich ging auf der linken Seite, vermied es jedoch, permanent in den Block zu glotzen. Der Wagen, der vor dem Block fuhr, moderierte per Mikrofon das Geschehen, eine Autonome machte Ansagen und führte sogar ein kleines Quiz durch, bei dem es ein Bier oder ein Mineralwasser zu gewinnen gab. Jetzt gingen wir auf einen breiten Straßentunnel zu. Oben stand ein kleines Polizeiaufgebot, ein Mann in Straßenkleidung, eher links angehaucht und mit langen Haaren, schoss ein Foto nach dem anderen. Ich blieb vor dem Tunnel stehen, nahm mir ein Taschentuch, rollte mir zwei Papierkügelchen und steckte sie mir in die Ohren.
Nach dem Weg durch den Tunnel fand bei mir ein Stimmungswandel statt. Als wir wieder am Tageslicht waren, befanden sich auf der rechten Seite oberhalb der Straße auf der wir uns befanden überall Polizisten und Polizeiwagen. Das sollte so weitergehen bis diese große Straße eine Kurve nahm und in die Haupteinkaufsstraße mündete.
Vor mir, ebenfalls links neben dem schwarzen Block lief eine Mann Ende 50, runde Brille, kurze Haare mit einem langen Ledermantel. Er kam mir bekannt vor – vom Typ so ähnlich wie Edzard Reuter, ich glaube ich kenne diesen Mann von der TU Berlin. Vielleicht ist der dort Dozent.
Nach rund zehn Minuten neben dem schwarzen Block überholte ich diesen. Nach wie vor standen links auf den Bürgersteigen und an den Häusern viele Zuschauer. Ein israelischer Ex-Soldat erzählte über Lautsprecher im Demonstrationszug von seinen Erfahrungen im Nahen Osten. Ich hatte Schwierigkeiten seinen Worten zu folgen. Er sprach mit einem starken hebräischen Akzent.
Viele Rostocker standen an ihren Fenstern und schauten zu. Ich bedauerte es, dass ich meinen Fotoapparat vergessen hatte.
Vor dem schwarzen Block ging die Linkspartei. Das schienen in diesem Block jedoch nur alte SED-Leute zu sein. Ich überholte diesen Block zügig. Sie trugen Schilder auf Stilen, alle in den Farben der Links-Partei.
An der Kurve kurz vor der Aussichtsplattform oberhalb des Hafens waren die ersten hochgerüsteten und einsatzbereiten Polizeikräfte zu sehen. Sie sollten Respekt einflößen. Die sahen sehr futuristisch aus. Sie trugen Helme mit breiten Visieren, Schilder, Gummiknüppel und waren hoch gewachsen. Selbst die Frauen waren alle über 1,90 groß. Sie trugen knallgrüne Lederuniformen. Sie standen neben einer ausgehobenen Grube. Ich dachte unterbewusst an ein Massengrab.
Ich musste pinkeln gehen, ging zum Sani-Fahrzeug, das neben den Polizeieinheiten stand, und fragte, ob hier Toiletten sind. Es hieß, ich solle die Felder-und-Wiesen-Toilette nehmen. Dazu musste ich an dem Polizeiaufgebot vorbei. Sie hatten einen kleinen Weg freigelassen, ich ging an ihnen vorbei einen kleinen Abhang hinunter und schiffte.
Nachdem ich wieder hochgeklettert war, fühlte ich mich wie Joe Strummer, fast schon revolutionär. Dazu trug bei, dass ein paar lederbejackte Demonstranten vor dem Polizeiaufgebot standen und diese fotografierten. Sie drückten auf den Auslöser, als ich mich von der Polizei wegbewegte, so dass ich sicher mit auf dem Foto war. Von dieser Stelle aus konnten wir den alten Hafen bereits überblicken, wo ein Meer an Luftballons zu sehen war. Ich ging die rund 50 Meter weiter zu der Aussichtsplattform. Von hier hatte ich den besten Einblick ins Geschehen im Hafenbereich. Ich fühlte mich bei diesem Ausblick wie ein Abenteurer. Bei dem maritimen Flair drängte sich der Gedanke an Klaus Störtebecker auf.
Zwischenzeitlich musste auch der schwarze Block an den positionierten Riesenpolizisten vorbeigekommen sein. Jetzt geriet wohl einer der Polizeioberen in Panik und circa 50 Polizisten sollten sich den Abhang hinab zum Zielpunkt des Demonstrationszuges in Bewegung setzen. Wie eine Sportlergruppe liefen sie los, den Weg ins Hafenbecken hinunter, der für die Demobesucher gesperrt war. Ebenso war der Platz direkt unterhalb dieses Aussichtspunktes gesperrt und ausschließlich der Polizei vorbehalten. Auch von dort setzte sich eine Polizeitrupp in Bewegung, das geschah sogar unmittelbar bevor die hochgezüchteten Polizisten den Abhang hinunterliefen.
Die Leute im Hafenbecken wirkten von hier oben wie in einer Falle oder in einem Hinterhalt. Als ich sah, wie die Polizei in die Menge strömte, sagte ich laut:
„Das war's dann auch“,
blieb jedoch noch eine Weile auf der Plattform stehen, auch wenn ich gut zwei Meter zurücktrat und nicht mehr direkt am Geländer stand. Ich war sehr niedergeschlagen, denn die bisher friedlich verlaufene Demo und die korrekte Stimmung unter den Demobesuchern wurde von einer Horde Polizeikräfte abrupt zerstört. Als sie den Abhang herunter liefen blieb noch die Hoffnung, sie würden nicht in die Menge stürmen und lediglich umpositioniert, wie bei einem Stellungswechsel in einem Strategie- oder Risikospiel. Bei der dicht gedrängten Menge im Hafenbereich war auch abzusehen, dass die Cops nicht weit kommen würden und früher oder später stecken bleiben. So sah es von meiner Position aus. Für mich war jetzt schon klar, ich würde den Zug um 17.06 Uhr zurück nach Kiel nehmen. Doch ich sollte später darüber noch einmal in Zweifel geraten. Das Spektakel nahm seinen Lauf. Neben mir stand plötzlich eine Frau, die mir bekannt vorkam. Sie schaute mich eine Weile an und schien auch zu überlegen „Woher?“ Von dieser Aussichtsterrasse aus wurden unzählige Fotos geschossen. Ich überlegte erst, nicht mehr in den Hafenbereich zu gehen. Dabei spielte wohl auch die beißende Angst vor der Polizei eine Rolle. Doch die Menge löste meine Bedenken zunehmend auf. Jetzt ging ich weiter durch die breite Einkaufsstraße, durch die ich vor rund 17 Jahren nach Beendigung meines Zivildienstes auf einer Fahrradtour von Kiel nach Rostock mit dem Fahrrad gefahren bin. Ich konnte mich ein wenig an die Fassaden erinnern, die sehr viel prachtvoller sind als in meiner Heimatstadt Kiel. Ich wollte damals gleich nach der Wende in Rostock Psychologie studieren, war sogar bei einer Studienberatung, doch meine Pläne schlugen fehl und ich landete schließlich in Berlin.
Ich vermute, dass die Frau, die mich mit ihren blauen Augen auf der Terrasse anblickte, mal in Berlin studiert hat. Ich sah sie später noch mehrmals auf dem folgenden Weg in Richtung Hafenbecken, wo ich doch gar nicht mehr hin wollte. Wie von Geisterhand geleitet ging ich doch mit der Menge, mal auf dem Bürgersteig, mal im Tross irgendwelcher Wagen mit tanzbarer Musik. Doch ich tanzte nicht.
Ich ging weiter die Haupteinkaufsstraße entlang, überholte wieder und wieder Wagen mit Transparenten und guter Musik. Ich geriet mehrmals fast ins Mittanzen. Obwohl die Hedonisten auch angekündigt waren, sah ich die den ganzen Tag nicht. Ich musste mich jetzt weit hinter dem Wagen der Autonomen befunden haben. Jetzt sah ich ein bestimmt zwei Quadratmeter großes Transparent auf der Straße liegen. Es muss zuvor von einem der Wagen gefallen sein. Ich sammelte es auf, schaute nur flüchtig darauf und überlegte, was ich damit machen solle. Als ich jetzt das zusammengeknüllte Transparent mit mir trug, fühlte ich mich wieder sehr revolutionär.
Schließlich legte ich das Transparent wie eine Tischdecke über einen städtischen Mülleimer. Jetzt kamen all die negativen Aspekte der letzten Jahre in mir hoch: die Menschen, die sogar bei uns in den Großstädten in den Mülleimern wühlen und der ganze Hunger in der Dritten Welt. Ich dachte auch an die Reichen und Mächtigen dieser Welt, die auch wirklich nichts gegen diese Zustände unternehmen wollten, auch wenn sie es mehrmals ankündigten. Und deshalb waren wir ja hier, um denen zu zeigen: so geht es nicht mehr weiter! Ich breitete diese Tischdecke mit viel Schwung aus, und ich vermute, die Leute, die hinter mir gingen dachten auch:
„Es ist angerichtet!“
Ich dachte erneut an die Menschen, die ich in den letzten über zehn Jahren in den Mülleimern verschiedener Großstädte dieser angeblich zivilisierten Welt habe wühlen sehen. Doch vielleicht gingen mit mir an dieser Stelle ein wenig die Nerven durch.
Mir war so, als würde ich eine symbolische Handlung an diesem Mülleimer mit dem ungelesenen Transparent begehen.
Ich dachte jetzt bei den prunkvollen Fassaden hier an London, den ganzen fiesen Kapitalismus, an Karl Marx und an die aufmüpfige Newcastler Band „The Redskins“, die ich damals Mitte der 80-er so verehrt hatte. Von den „Redskins“ stammte der Hit „Kick over the Statues“, den ich im Folgenden assoziierte, wenn ich irgendwelche Statuen im Innenstadtbereich stehen sah. Jetzt kochte auch die Wut in mir hoch, ich wäre am liebsten auf irgendwelche Barrikaden geklettert, doch es waren keine da. Jetzt liefen neben mir zwei Typen, die lange Umzugsriemen mit sich trugen. Ich sagte denen: „Hey, ihr müsst die um die Statuen legen und die damit umreißen.“ Doch das war den Leuten zu radikal, das merkte ich sofort. Später schämte ich mich ein wenig für diese Äußerung, und den Versuch, die jungen Leute aufzustacheln. Ich dachte auch an ein Plattencover der „Redskins“, auf dem Orte von Revolutionen und die dazugehörigen Jahreszahlen aufgeschrieben waren: Moskau 1917, Barcelona 1936, Ungarn 1956, Nicaragua 1979, Johannesburg ... Und ich fragte mich, ob Rostock auch mit in diese Liste aufgenommen werden könnte. Dieser Versuch des Aufstachelns sollte mein einziger Ausrutscher an diesem Tag sein. Ich hatte es auch nicht wirklich ernst gemeint.
Ich ging weiter, bis der Demo-Zug eine Linkskurve nahm. Hier standen auch Typen mit Glatze herum, die wahrscheinlich einem anderen politischen Spektrum zuzuordnen waren als die Demonstrationsteilnehmer. Das machte mich wieder ein wenig entschlossener, im Demonstrationszug zu bleiben. Schließlich mündete der Zug auf eine Art Hafenkai ein. Ich sah die Frau mit den blauen Augen von der Plattform wieder. Ich fühlte mich fast so, als würde ich diese Frau verfolgen. Es wurde ein französischer Punk-Song gespielt. Ich überlegte mehrmals, die Frau anzusprechen, doch da waren wir schon fast im Hafenbecken, wo ich sie aus den Augen verlor. Die am Demo-Zug teilnehmenden Wagen stauten sich auf dem Weg in den Hafenbereich, so dass viele Demonstranten an der Kolonne vorbei weiter nach vorne gingen. Ich überholte ebenfalls, muss dabei auch wieder den Wagen der Autonomen überholt haben. Im Hafenbereich standen überall kleine Menschentrauben herum. Viele Demo-Besucher blieben jetzt bereits stehen, unterhielten sich und beobachteten die Szenerie. Dabei hätten sie noch gut 300 Meter weiter in Richtung Bühne gehen können. Doch viele wollten anscheinend etwas Distanz vom Hauptgeschehen halten, da sie bereits von der Aussichtsterrasse den ersten fatalen und hirnlosen Polizeieinsatz mitbekommen hatten, als die Polizei scheinbar unmotiviert in den Hafenbereich unmittelbar vor der Bühne preschte.
In der Luft stand ein Hubschrauber an einer Stelle, wollte nicht weiterfliegen. Er verbreitete ohrenbetäubenden Lärm. Ich blieb stehen, blickte um mich, ging ein paar Meter weiter, blickte wieder umher. Hier waren nirgends Clowns zu sehen. Die waren wohl alle vor der großen Bühne. Viele Leute unterhielten sich über den nervigen Hubschrauber. Schließlich forderte die Demoleitung über Lautsprecher die Polizei auf, den Hubschrauber abzuziehen und die Veranstaltung nicht weiter zu stören. Jetzt verkündete die Frauenstimme, die Veranstaltung würde so lange unterbrochen, bis der Hubschrauber fort sei. Doch er blieb noch eine Weile in der Luft stehen. Auch ich bekam leichte Ohrenschmerzen. Ich hätte wieder Ohrenpfropfen verwenden sollen.
Noch war hier im Hafenbereich keine Polizei zu sehen, abgesehen von dem Vorstoß, den ich rund eine halbe Stunde zuvor von der Aussichtsplattform aus beobachtete.
Schließlich weigerte ich mich weiterzugehen, machte ein Bootrestaurant aus und entschied mich, dort einen Kaffee zu trinken. Es roch nach Fisch, es herrschte Kneipenatmosphäre. Ich fragte erst einmal nach, ob die Kaffee haben. Es hieß „Ja!“ Das Verkaufspersonal, alles kräftige Männer mit kurzgeschorenen Haaren, arbeitete auffällig langsam, als wollten die kein Geld einnehmen. Einen Moment lang dachte ich, das sind alles V-Männer der Polizei. Jedenfalls wirkten die nicht wie das gewohnte Gastronomie-Fachpersonal.
Ein feister Glatzkopf stand am Aufgang zum „Krähenfuß.“ Dass dieser Ausguck Krähenfuß heißt, sagte mir ein Mitarbeiter des Restaurant- und Kneipenbootes. Ich stellte mich hinten an die Schlange an. Und es dauerte eine Weile, bis ich an der Reihe war. Hinter mir stand ein junger Mann, der wohl gerade promoviert hatte, das konnte ich dem Gespräch entnehmen. Mit einer Person vor mir unterhielt ich mich über das Arbeitstempo der Mitarbeiter dort. Ich sagte: „Würden die bei Holstein Kiel so langsam arbeiten, würden die sofort rausfliegen.“ Ich bekam schließlich meinen Kaffee, die hatten jedoch keine Milch mehr. Ich setzte mich an einen freien Tisch, auf den Krähenfuß wurde niemand mehr hinauf gelassen. Ich saß ganz hinten auf der dem Wasser zugewandten Seite, trank in Ruhe den Kaffee und genoss die Demoatmosphäre. Mir wurde ein wenig kalt. Auf dem Wasser befand sich ein kleines Boot mit Tauchern bestückt. Auf dem gegenüberliegenden Ufer stand nicht eine Menschenseele. Der Bereich war sicher gesperrt. Ich sah kurz ein Polizeiauto dort entlang fahren. Schließlich setzten sich vier Leute Ende 20 an meinen Tisch, zwei Pärchen. Später kamen noch zwei Typen hinzu.
Das Restaurantschiff stand direkt neben einem großen ZDF-Schiff. Vor dem Eingang standen ZDF-Mitarbeiter, die sich intensiv unterhielten. Die müssen nahezu dieselbe gute Aussicht gehabt haben wie wir auf dem Restaurantschiff. Doch da das ZDF-Schiff sehr viel größer und höher war, konnten die sicher mehr überblicken als ich auf meinem Sitzplatz oder sogar die Auserwählten auf dem Krähenfuß des Restaurantschiffes. Wie bei napoleonischen Schlachten schien es bei dieser Veranstaltung auch auf die Aussichtspunkte anzukommen, von denen aus ohne Risiko das Geschehen überblickt werden konnte. Das galt auch für viele Restaurants mit Aussichtsterrasse im Hafenbereich.
Jetzt stellte ich fest, der Hubschrauber hatte sich entfernt. Er war nicht mehr zu hören. Ich habe das gar nicht mitbekommen. Doch scheinbar gleichzeitig wurde ein Polizeitrupp in Bewegung gesetzt, schätzungsweise bestehend aus einer Hundertschaft. Sie blockierten eine Bergstraße, die von der deutlich höher gelegenen Einkaufsstraße zum Hafenbereich führte. Von diesem Restaurantschiff aus konnte ich direkt diese Straße einblicken, auch wenn sie rund 100 Meter von hier entfernt war. Ich merkte schon, es könnte etwas passieren. Die Polizei hatte jetzt Stellung bezogen. Ich trank meinen Kaffee weiter und sammelte Eindrücke. Der Wagen der Autonomen war noch gar nicht vor Ort. Ich schaute wieder und wieder in Richtung Polizeiaufgebot, die auf halber Höhe der Straße standen. Zwischen dem Hafenrand, an dem sich das Schiff befand und dem Polizeiaufgebot befanden sich überall Menschentrauben, die sich teils unterhielten und umherschauten, einige gingen weiter in Richtung Bühne. Doch plötzlich stürmte der Polizeitrupp los, dabei war noch gar nichts los. Sie sprinteten in voller Montur diese Bergstraße hinunter in Richtung Demonstranten, so dass es von meiner Warte so aussah, als ginge die Aggression von der Polizei aus. Es waren wohl ein paar Randalierer am Werke, wahrscheinlich wurde mit Flaschen geworfen oder was auch immer, das konnte ich von hier nicht erkennen. Als die Polizei weiter nach vorne sprintete, ging es auf einmal richtig ab. Es entstand eine Panik unter den Demobesuchern, die zum Teil in Richtung Hafenufer flüchteten. Normalerweise bin ich kein Weichei, aber in dieser Situation bekam ich regelrecht Platzangst und wäre am liebsten weggelaufen. Jetzt sah ich, dass die Polizisten intensiv mit Steinen beworfen wurden. Jetzt waren zu jeder Zeit fliegende Steine zu sehen, die Polizei stieß auf Gegenwehr. Für einen Moment hagelte es regelrecht Steine. Ich war geschockt und traute mich nicht mehr so recht in Richtung Geschehen zu schauen. Doch nach wenigen Minuten war der Spuk vorbei. Die Panik, die ausgelöst wurde, reichte aus, um auch die Restaurantbesucher in Bewegung zu bringen. Fast alle sprangen von Ihren Sitzen auf und gingen zur uferzugewandten Reling. Auch die Leute, die mit mir am Tisch saßen sprangen auf und gingen zur Reling, um eine bessere Sicht zu haben. Das war in dem Moment der Panik, als die Polizei auf die Menge zustürmte. Das Restaurantboot fing an, stark zu schwanken, kippte leicht in Richtung Uferpromenade. Ein Mitglied der Schiffscrew rief laut:
„Sofort auf die andere Seite zurück, sonst kentert das Boot ... Alle wieder hinsetzen!“
Das Boot hatte bereits Schlagseite, und ich musste meinen Kaffee festhalten. Es war ungefähr halb vier. Ich blieb nach wie vor an der gegenüberliegenden Relingseite sitzen, drehte mich etwas in Richtung des Geschehens. Die Polizei wurde noch einmal umpositioniert. Über Ohrknopf erhielten sie die Anweisung, ein paar Meter zurückzutreten. Das erkannte ich daran, dass die Männer in ihren knallgrünen Anzügen ohne sich abzusprechen wie von Geisterhand geführt eine 180 Grad Drehung machten und zurückgingen. Die Restaurantgäste setzten sich jetzt wieder auf meine Seite und das Schiff balancierte sich wieder aus und stabilisierte sich. Wenn irgendwelche Kisten, Kartons und anderer Ballast nach Backbord gerutscht wären, hätte das Schiff vielleicht tatsächlich kippen und kentern können. Jedenfalls gerieten Teile der Crew in Panik. Die Gäste schienen diese Balance-Verhältnisse nicht zu bedenken, befolgten aber die Anweisungen der Crew.
Erst jetzt traf der Wagen des Schwarzen Blocks ein. Er hielt genau auf der Linie zwischen dem Polizeiaufgebot in dieser Bergstraße und dem Restaurantboot, auf dem ich mich befand. Was jetzt dahinter geschah, war für mich aus dieser Position nicht mehr zu sehen, es flogen jedoch keine Steine mehr. Der Wagen der Autonomen spielte laute, tanzbare und aggressive Musik, vergleichbar mit „La Phaze.“
Ich dachte noch ein paar Mal daran, länger in Rostock zu bleiben und zumindest die ersten Bands des angekündigten Open-Air-Festivals zu sehen. Doch ich war auf mich alleine gestellt, und ich empfand die Szenerie als zu gefährlich. Deshalb wollte ich unbedingt den Zug um 17.06 Uhr nehmen.
Schließlich trank ich meinen Becher aus, ging von Bord und ging schnellen Schrittes und auf dem kürzesten Weg zurück zum Bahnhof.
Ich musste mich beeilen, wollte ich den noch Zug bekommen.
Ich ging natürlich nicht durch die besagte Bergstraße, nahm eine der Parallelstraße, in der sich zu meinem Entsetzen ein vergleichbares Polizeiaufgebot befand, das sich jedoch zurückhielt. Dieses Aufgebot hätte ebenso die Straße abriegeln können und vorstoßen, wie die Einheit in der Parallelstraße, wo es krachte. In der Rostocker Innenstadt waren überall kleine Polizeitruppen positioniert. Es waren hier jedoch nicht annähernd die durchtrainierten Übergestalten, die zuvor oberhalb des Hafens zu sehen waren.
Einige Menschen spazierten durch die Innenstadt, als sei verkaufsoffener Samstag. Die wenigen Läden, die geöffnet hatten, das waren in erster Linie Eisläden, Restaurants, Kneipen, Souvenir- und Szeneläden, schienen sehr gute Umsätze zu machen. Auch hier waren überall Demonstranten unterwegs, Punks und andere Gestalten. Je näher ich zum Bahnhof kam erkannte ich die Tendenz der Leute, die Stadt zu verlassen.
Auf dem Weg zum Bahnhof schoss ein rotes Polizeiauto wie ein Geisterfahrer gegen die offizielle Fahrtrichtung an mir vorbei, mit hohem Tempo, ohne Blaulicht und ohne Sirene. Das war wohl eine Art Einsatzleitung mit Sonderbefugnissen. Es fuhr auf der linken Doppelspur, links von den Tram-Gleisen. Es sah sehr waghalsig aus, und ich bekam einen Schreck. Wenn einer der zurückgehenden Demonstranten auf der Straße gegangen wäre oder ein Fahrradfahrer ausgeschert, oder gar eines der wenigen Kleinkinder ausgebüxt, hätte es einen Unfall geben können. Ich finde solches Polizeiverhalten nicht mehr haltbar. Es schafft Wut und Angst. Zwar war der Bereich für den Autoverkehr gesperrt, doch es waren viele Leute mit Fahrrädern unterwegs. Viele gingen auf den Straßen, weil die Stadt an einigen Stellen wie ausgestorben war, abgesehen von den zurückströmenden Demonstranten. Das Alltagsleben war halt abgeschafft. Es herrschte Ausnahmezustand.
Ich fragte mehrere Leute nach dem genauen Weg und kam nur wenige Minuten vor der Abfahrtzeit auf dem Bahnhof an. Es liefen überall Leute durch die Gegend, es herrschte Hochbetrieb. Ich musste zwei Bahnmitarbeiter nach dem Abfahrtgleis des Zuges nach Bad Kleinen fragen.
Auf der Rückfahrt waren alle Zuginsaßen sichtlich erschöpft. Fast alle hatten die Augen geschlossen und versuchten zu schlafen, obwohl es gerade 17 Uhr durch war. Wären Kontrolleure gekommen, hätten diese über die hockenden und sitzenden Fahrgäste steigen müssen.
Die Leute im Zug ab Rostock waren regelrecht grün im Gesicht. Ich weiß nicht, woran das lag.
Der Zug war vollkommen überfüll. Es hätten Sonderzüge eingesetzt werden müssen und nicht nur die laut Fahrplan. Die Leute mussten sogar auf den Treppen und auf dem Boden sitzen. Ich sah niemanden, der noch stand. Allein auf der Treppe, auf der ich mich befand, saßen bestimmt sieben Personen. Nur mit Mühe konnten einige da noch durch kommen. Die nächste Toilette war defekt. Viele Fahrgäste machten einen traumatisierten Eindruck, speziell eine ältere Frau, die vor einem Tränenausbruch oder Nervenzusammenbruch war. Ich glaube, das restriktive Polizeiverhalten hat eine Tragödie heraufbeschworen.
Ein junger Mann, der hinter mir auf der Treppe saß, erhielt einen Anruf auf seinem Handy. Er wiederholte laut die Einzelheiten, die ihm berichtet wurden. Der Anrufer befand sich auf der Demo im Hafenbereich. Dort tobte jetzt wieder eine Straßenschlacht, und es schien diesmal richtig abzugehen. Was nun folgte war eine Art Live-Berichterstattung via Handy über fliegende Pflastersteine, und einen massiven Polizeieinsatz. Einige Leute im Zug stöhnten vor Entsetzen. Hätte jetzt jemand losgeheult, hätte wohl der ganze Zug geheult. Ich war froh, mich bereits auf der Rückfahrt zu befinden. Ich fühlte mich einsam und allein. Doch es herrschte im Zug eine Art Wir-Gefühl, wie auch zuvor in Rostock auf dem Bahnhofsgelände und auf der Demo. Doch das Entsetzen wirkte eher wie im Luftschutzbunker. Ich erzählte eine Geschichte, um gegen mein eigenes Trauma anzukämpfen. Für eine mittlere Großstadt wie Rostock war die Zugverbindung sehr schlecht. Eine Frau gab mir einen Becher Tee aus. Sie wollte nach Marburg weiter und dachte, sie würde erst in Hamburg umsteigen. Erst später lange nach der Zugfahrt wurde mir klar, dass ihr Umsteigebahnhof sicher hätte Schwerin sein müssen. Drei Frauen, die unter einem der Seitenfenster saßen, sagten mir, ich könne auf deren Wochenend-Ticket bis nach Hamburg mitfahren, es hätte mich 5 EUR gekostet. Ich zögerte, fuhr letztendlich doch bis Bad Kleinen schwarz, ohne es wirklich absichtlich zu wollen. Bis Bad Kleinen unterhielt sich so gut wie niemand. Alle waren geschafft. Bei Bad Kleinen traf ich Stefan, den Familienvater von der Hinfahrt, wieder. Frau und Sohn waren vorerst in Rostock geblieben und wollten den letzten Zug kurz nach 21 Uhr nehmen. Er ließ ihnen das Wochenendticket und fuhr bisher ohne. Ich holte die auf der Demo erworbene CD inklusive DVD „Move against G8“ aus meiner Lederjacke hervor und zeigte sie Stefan. Er las sich die Liste der Interpreten durch und sagte:
„Hier, der Song „Söhne Stammheims“ von Jan Delay wird dir ganz sicher gefallen, das kann ich dir jetzt schon versprechen.“
Das erhöhte meine Vorfreude auf diesen Sampler ungemein.
Im Umsteigezug schilderte ich meine Eindrücke ein paar Mitreisenden. Wir diskutierten mit einem älteren Ehepaar und wir waren uns alle grundsätzlich einig. Ich fühlte mich dabei sehr beengt und zog über die Polizei her, allerdings auch über die hirnlosen Randalierer. Stefan, der Typ aus dem Attac-Verteiler, bekam von dem älteren Ehepaar ein Wochenend-Ticket geschenkt, bevor die eine Station hinter der ehemaligen Zonen-Grenze ausstiegen. Fortan waren wir wieder eine kleine Zweier-Reisegruppe. Als wir zwei uns schließlich auf dem Kieler Hauptbahnhof voneinander verabschiedeten, war mir so, als hätte ich einen Freund fürs Leben gefunden.
Im Nachhinein fühlte ich mich bei den vielen unterschiedlichen Polizeieinheiten, die auf der Großdemo zu sehen waren, mit unterschiedlichsten Uniformen und Ausrüstungen, sowie vorgegebenen Kategorien in Körpergrößen und Athletik, fast wie auf einer Modenschau verschiedener Polizeiausrüster. Es war zugleich eine Demonstration der Polizei, die sich an einigen Stellen abschreckend, ermahnend oder provokativ in den Vordergrund drängte.
Wieder in Kiel setzte ich mich ins „Ex-Lex“, trank einen Kaffee und las Zeitung. Später trudelten auch die drei Leute der Belegschaft ein, die ich gegen Mittag in Rostock traf. Sie grüßten kurz und vermittelten einen erschöpften, aber befriedigten Eindruck. Später fand ich mich in der Diskothek „Hinterhof“ am Tresen ein, trank mehrere Gläser Rotwein und Korn. Ich war sehr betrunken, wohl auch noch traumatisiert. Gegen Ende der Nacht lümmelte ich mich förmlich auf die Sitzbank an der Wand gegenüber der Tanzfläche, legte ein Bein verdreht auf den Ablagebalken. Es wunderte mich, von dem Personal nicht zur Raison gebracht worden zu sein. Schließlich machte ich die Nacht durch, ging früh morgens, als es bereits hell war als einer der ersten auf den Flohmarkt in der Kieler Innenstadt. Ich kaufte mir schließlich ein gebrauchtes 1000-Teile Puzzle mit der „Gorch Fock“ als Motiv für einen Euro. Die Standinhaberin versicherte mir, dass es vollständig sei.
In der darauf folgenden Woche besorgte ich mir alle möglichen Zeitungen, und sammelte Zeitungsartikel zu der Samstagsdemo in Rostock. Der G-8 Gipfel in Heiligendamm sollte ja erst richtig losgehen. Ich besorgte mir Artikel aus diversen regionalen und überregionalen deutschen Zeitungen, dazu auch spanische, italienische, schweizer, französische, englische und skandinavische Zeitungen, aus denen ich Texte kopierte. Von der „New York Times“ ließ ich mir Artikel aus dem Internet ausdrucken. Auch wenn ich einige der Sprachen nicht richtig oder nur zum Teil verstehen kann schien sich doch abzuzeichnen: die einzige Zeitung, die eindeutig die Polizei für das Desaster von Rostock verantwortlich machte war die „New York Times.“
Ich hörte mir die CD an, die mir der fliegende Händler in Rostock nahe des Bahnhofes verkauft hatte. Die Bands mit ihren kritischen Texten wirkten so emotional auf mich, dass ich wie im Koma im Bett liegen blieb. Die DVD mit Redebeiträgen konnte ich noch nicht ansehen, da ich keinen DVD-Player besaß.
Später fragte ich mich, ob nicht ein irrer ehemaliger Stasi-Offizier in heutigen Polizeidiensten ausreicht, um mit seinen bewussten Fehlentscheidungen die gesamte Polizei und die Protestbewegung in ein Desaster zu führen. Aber theoretisch könnte das ein westdeutscher Einsatzleiter genauso.




Anmerkung von Koreapeitsche:

Ein Mann fährt zu einer Demo gegen den G8-Gipfel nach Rostock. Die anfängliche Partystimmung schlägt schließlich um in Gewalt. Deprimiert und frustriert kehrt er nach Hause zurück.

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Kommentare zu diesem Text


 Dieter_Rotmund (06.06.22, 17:52)
Das ist vor allem eine schier endlose Aneinanderreihung von Details, von denen einige bedeutungsvoll sind, viele bedeutungslos. Die Textidee an sich ist gut, aber der Text ist zu unstrukturiert und ziellos. Ein Alt-Aktivist, der sich in seinem Milieu treiben lässt. So what? Keine Spannung, kein Konflikt, kein Dilemma in Sicht, da habe ich irgendwann (spät!) aufgehört zu lesen, sorry.
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