Die behinderte Stille

Text

von  IngeWrobel


 

Ich mag Stille, gehe sogar soweit zu sagen, dass ich sie liebe.

Stille ist aber nur angenehm für mich, wenn ich sie bewusst gewählt habe – oder zumindest wählen konnte und sie akzeptierte.

 

Als ich mir der Stille, die mich umgibt, gewahr werde, in Zeitabschnitten, die ich spüre, aber nie als Einheit benennen könnte, wird sie zunehmend bedrohlich. Diese Stille will ich nicht!

 

Langsam nehme ich auch meinen Körper wahr. Ich liege gerade ausgestreckt auf einer glatten Fläche. Wie bei diesem Kursus (wie hieß er doch gleich? Progressive Muskelentspannung?) umwandere ich gedanklich meinen Körper. Ich beginne am Hinterkopf links, gehe in den linken Oberarm und fahre um jeden Finger herum. Alle fünf Finger sind da, die Hand liegt mit der Innenseite nach unten neben meinem Körper. Nach jedem Umkreisen eines Fingers versuche ich, diesen anzuheben … was mir aber nicht gelingt.

An der Innenseite des linken Armes entlang konzentrieren sich meine Gedanken auf die linke Körperseite bis hinab zu den Zehen. Auch hier versuche ich, der Starre eine Bewegung zu entlocken: vergebens.

 

Obwohl sich ein panisches Gefühl entwickelt, konzentriere ich mich weiter darauf, die Kontur meines Körpers zu erfahren. Zurück am Kopf konstatiere ich in einem Anflug von Galgenhumor, dass noch alles dran ist an mir. Am Ende dieser Erforschung weiß ich aber auch mit Sicherheit, dass ich mich nicht bewegen kann.

 

Betroffen sind auch meine Augen, denn der Befehl meines Gehirns, die Augen zu öffnen, bewirkt nichts.

 

Die Stille ist allgegenwärtig – und so weiß ich nicht, ob es um mich herum keine Geräusche gibt, oder ich sie nur nicht hören kann, weil auch mein Gehörsinn blockiert ist. Naheliegend ist Letzteres.

 

Nach dem „Körper-Check-up“ konzentriere ich mich auf meine Gedanken und versuche, mich zu erinnern.

Den Weg bis zu diesem Moment, in dem ich mich unbeweglich an einem mir unbekannten Ort befinde, muss ich zurückgehen. So lange, bis ein Erkenntnisblitz mich durchzuckt, vor meinem inneren Auge endlich etwas Vertrautes erscheint.

Die Fragen wirbeln in meinem Kopf, füllen ihn ganz aus. Da bleibt kein Platz für Erinnerungen.

 

Die nun entstandene Angst scheint meinen Kopf zu sprengen.

Plötzlich durchbricht ein Geräusch die Stille. Es kommt so überraschend, dass ich zusammenzucke. Ja, mein Körper reagiert, begibt sich intuitiv in eine Abwehrstellung, indem er sich verkrampft und ins Körperinnere zu kriechen scheint.

 

Bevor ich mich darüber freuen kann, dass meine Unbeweglichkeit aufgehoben ist, erfolgt dieses Geräusch erneut.

Mein Gehör ist zurückgekehrt! Das macht mich glücklich und ist jetzt wichtiger, als das Geräusch zu analysieren.

 

Auch meine Augen kann ich nun öffnen. Aber sie sehen nichts, denn alles ist unverändert schwarz wie vorher.

 

Das eigenartige Geräusch erfolgt nun in kurzen Abständen.

Mir wird bewusst, dass ich mich in einem geschlossenen Raum befinde und dieses Geräusch von außen auf die Begrenzung dieses engen Raumes trifft. Der Raum muss eng sein, da das Geräusch nicht aus weiterer Entfernung an meine Wand trifft. Zudem konnte ich mich mit meinen Händen nach rechts und links zur Begrenzung tasten, und da ist nicht viel Spielraum um mich herum.

Wenn ich den Kopf hebe, stoße ich an eine Decke, vermutlich aus Holz.

Das Geräusch von außen klingt, als ob Erde auf das Holzdach über mir fällt. 

Ehe ich es sprachlich übermitteln könnte, habe ich die Gewissheit: Ich liege lebendig in einem Sarg, der gerade eingebettet wird.

 

Ich versuche, gegen das dumpfe Poltern der Erde über mir anzuschreien, kann mich aber selbst nicht hören.

So lange noch Erde auf den Sarg geschüttet wird, schreie ich und schreie und schreie…

 

Von meinem eigenen Schrei erwache ich schweißgebadet und setze mich mit einem Ruck im Bett auf.

Uh! Nochmal Schwein gehabt!

Das Leben ist schön!

 


23.07.2022   
 



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Kommentare zu diesem Text


 franky (23.07.22, 07:57)
Hallo liebe Inge
 
Bin so froh, dass Du wieder erwacht bist.
Höre gerne Deine Lebenszeichen.
 
Liebe Grüße von Franky

 IngeWrobel meinte dazu am 23.07.22 um 16:00:
Hallo Franky, lieber treuer Leser, 

ich bin auch jeden Morgen froh, wenn ich beim Aufwachen merke, dass ich noch lebe.  

Aber im Ernst: Um mich herum ist zur Zeit soviel Krankheit und Tod, dass es nicht wundert, wenn der eine oder andere Mitmensch Alpträume hat. 

Ich danke Dir für Dein Lebenszeichen 
und grüße ♥lich in das glückliche (hoffentlich!) Austria! 

Inge

 Teichhüpfer antwortete darauf am 25.10.22 um 01:40:
Yo Inge, irgendwie muss man dagegen an gehen.
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