KANARISCHE BANANEN

Erzählung

von  uwesch

Dieser Text gehört zu folgenden Textserien:  BEBILDERTE TEXTE,  GROßE ERZÄHLUNGEN


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Erstveröffentlichung unter meinem Aliasnamen (Michael ist in echt mein Zweitname nebst Uwe)

 

Vorwort

Die Erzählung spielt in den 60er-Jahren im Wesentlichen in Hamburg. Die Hauptfiguren, teils noch im Krieg geboren, lebten die Jahre danach in einem vielfach zerstörten Deutschland. Verbreiteter Hunger konnte allerdings bis Mitte der 50er-Jahre weitgehend überwunden werden. Die herrschende Wohnungsnot wurde zu einer der vordringlichsten Aufgaben. Es entstanden ziemlich hässliche und seelenlos-graue Großsiedlungen am Rande der Städte mit breiten Zufahrtsstraßen, die diese quasi zerschnitten.
Im August 1961 wurde die Berliner Mauer gebaut. Damit war die Grenze zwischen der BRD und der DDR im wahrsten Sinne des Wortes zementiert - West-Berlin hermetisch abgeriegelt.
Ausgehend von den Universitäten bildete sich eine sogenannte außerparlamentarische Opposition (APO), die sich unter anderem gegen die Politik der seit 1966 regierenden großen Koalition aus CDU und SPD unter Kurt Georg Kiesinger richtete. Mit dem Motto wurde viel demonstriert, was letztendlich zu einer Demokratisierung der Universitätspolitik führte.
Ende der 60er-Jahre kam die erste Antibabypille auf den Markt und förderte eine sexuelle Revolution.
Ein großer Teil der Elterngeneration interessierte sich im Wesentlichen für den wirtschaftlichen Wiederaufbau. Die gesellschaftliche Verdrängung der Verbrechen des Nationalsozialismus ging sogar soweit, dass immer noch ehemalige Nazis in hohen Ämtern saßen.



Inhaltsverzeichnis

1. Karl
2. Eva
3. Der Streit
4. Im Lazarett
5. Reise nach Amerika
6. Im Spiel
7. Marie und die kanarischen Bananen
8. Sternfahrt nach Bonn


1. Karl

Schon als Kind hatte Karl sehr früh gedacht, was er nicht denken sollte. Die Ansichten, die sein Vater vertrat, missfielen ihm und er begann diesen immer mehr zu verachten. Sein Bruder hatte ebenfalls viel gedacht, aber dann auch getan, was er nicht hätte tun dürfen. Ursprünglich fühlte er sich zwar verpflichtet, den Arztberuf des Vaters in der Tradition fortzuführen. Doch es ging nur solange gut, bis dieser ihn derartig malträtierte, dass er nach dem Abitur sofort das Elternhaus verließ. Sein Notenschnitt reichte nicht aus, um einen Studienplatz für Medizin zu bekommen. Mit zwei Freunden gründete er eine Wohngemeinschaft und eröffnete mit diesen die ZWIEBEL, eine Kneipe in Övelgönne an der Elbe. Mit den Einnahmen finanzierte er sich ein Pädagogik-Studium. Mutter steckte ihm heimlich noch etwas vom Haushaltsgeld zu.

Karl war nach der elften Klasse des Gymnasiums wegen katastrophal schlechter Noten abgegangen und machte eine Lehre als Elektromechaniker, weil ihn alles, was mit Strom zu tun hatte, schon immer interessierte. Seinen Bruder hatte er dafür bewundert, dass der beschloss, sein eigenes Leben früh in die Hand zu nehmen. Den Mut brachte er selber nicht auf und passte sich weiter an. Die Eltern waren damit einverstanden, dass er bei ihnen noch wohnen konnte. Mit Vater gab es allerdings häufig Streit über Politik, wenn Karl in der Zeit etwas gedacht hatte, was er aus Vaters Sicht nicht hätte denken dürfen. Sie hatten eine konträre Meinung über den Faschismus, insbesondere die Judenvernichtung in Deutschland. Karl hatte sich nichts anmerken lassen und die Wut darüber in sich reingefressen. So entwickelte er sich zu einem introvertierten jungen Mann und wirkte auf andere Menschen aus der Zeit gefallen. Vor allem war er sehr schüchtern gegenüber Frauen.
Nach der Lehrzeit, einem Fachhochschulstudium in Elektrotechnik, ein paar Jahren Arbeit als Elektroingenieur bei den Hamburgischen Elektrizitätswerken wollte er ein Studium in Betriebswirtschaft beginnen – endlich raus aus dem Elternhaus. In Abendkursen hatte er die Hochschulreife nachgeholt. Er zog in eine Wohngemeinschaft am Hallerplatz in der Nähe der Universität ein.

In der großen Stadt lebte er jetzt mit der Ausdehnung seiner Sehnsucht und plante, in den Semesterferien alleine in die weite Welt zu reisen. In seiner Freizeit begann er ruhelos durch Hamburg zu streifen - durch Parks, über Plätze, um die Außenalster und an der Elbe entlang. Bei den dabei gesammelten Eindrücken und den vielen Diskussionen in der Wohngemeinschaft gewann er die Überzeugung, dass jeder Mensch, der ihm begegnete, in derselben Zeit lebte wie er. Doch wenn viele, wo auch immer, nebeneinander oder im Pulk zusammen standen, empfand er es so, als wenn doch jeder irgendwie seinem eigenen Rhythmus folgte. Der eine schnell, der andere langsam. Er konnte es im Gesicht sehen, an der Körperhaltung, in der Ruhe oder der Unruhe der Bewegungen.
Nach Beginn des Studiums war er schnell frustriert von dem, was er lernen sollte und schmiss die Uni nach dem ersten Semester. Er beschloss, Menschenforscher zu werden, kaufte sich einen Fotoapparat und nahm Frauen, Männer und Kinder auf - groß, klein, dick, dünn, alt und jung. Dann entwickelte er die Idee mit Überblendungen zu arbeiten, legte Gesichter übereinander und erkannte voller Schrecken, dass Schönheit Durchschnitt ist. Selbst, wenn er Gesichter sehr unsympathischer Menschen überblendete, war die so entstandene Figur am Ende schön, weil im Durchschnitt immer Symmetrie entstand. Damit hatte er nicht gerechnet. Deshalb suchte er in seinem fotografischen Schaffen weiter nach Menschenwahrheiten, die ihn beruhigen könnten.
Er richtete sich in einer stillgelegten Fabrik in Altona ein kleines Labor mit Schlafmöglichkeit ein. Mit seinen Fotos verdiente er inzwischen Geld.

2. Eva

Eines Tages trat Eva in Karls Leben. Er hatte sie auf einer seiner Fotoausstellungen kennengelernt. Sie veränderte Einiges, doch ließen seine Fragen nicht verblassen. Die Arbeit erschien ihm weiterhin allerdings nur noch mit ihr möglich. Das Fotografieren, die Leidenschaft zum Weitermachen und das Ertragen der Menschen.

Eva, Tochter eines Zahnarztes, bekam ihren VW nur mit Mühe in die Parklücke.
„Scheiß Politiker“, schimpfte sie, … „die versprechen immer wieder, dass größere Parkhäuser alle Probleme lösen würden. Genauso wie die vielen neuen Straßen, welche die Stadt zerschneiden, die Verkehrsprobleme nur vorübergehend gelöst haben.“
Nach endlich halbwegs gelungenem Einparken klapperte sie neugierig alle Boutiquen ab, begutachtete die Farben, die Qualität der Stoffe, die Extravaganz der Schnitte. Sie kaufte so viel, dass sie es gerade noch mit den Tüten und Päckchen zum Auto schaffte. Beim Rangieren aus der schmalen Parklücke zerschrammte sie den vorderen rechten Kotflügel an der rauen Mauer.
„Vater wird schimpfen!“, fluchte sie und fuhr aus dem Zentrum der Großstadt in die elterliche Villa an der Elbchaussee.
Die Sonne brach durch die Wolkendecke. Endlich, denn der Himmel war drei Tage verhangen. Überall blühte es in den Gärten und auf den Verkehrsinseln verneigten sich die letzten Osterglocken. Der Sommer kündigte sich an. Die Bäume schlugen aus und hatten ihre Kahlheit vergessen gemacht.
Sie nahm den Fuß vom Gaspedal, bog ein in die große Auffahrt und tippte auf die Fernsteuerung für das Garagentor. Stoppte im geräumigen Bau mit Platz für drei große Autos und atmete auf. Geschafft.

Eigentlich fand sie es eher schrecklich, immer noch bei ihren Eltern zu wohnen. Sie müsste mal raus, sich eine eigene Bude suchen, die mehr im Zentrum liegen sollte und unerschlossene Möglichkeiten bieten würde.
Ihr ein Jahr älterer Bruder hatte es doch auch geschafft. Lernte dauernd neue Frauen kennen, meisten schön anzusehen, aber ziemlich dumm.
„So sind die Männer eben - schwanzgesteuert“, murmelte sie beim Gang in die Villa vor sich hin.
Eva überlegte, demnächst mal mit ihrem VW einfach allein wegzufahren, zu verschwinden auf ein paar Tage. Das Leben musste doch noch anderes bieten. Das Ziel schien manchmal zum Greifen nah. Doch welches Ziel? Ihr Yogi sagte immer: „Der Weg ist das Ziel.“
Das hatte sie bis heute nicht begriffen.
Sie versuchte, sich an ihre drei Semester Biologiestudium zu erinnern. Wie war das noch mit der Evolution? Wenn Bäume in der Savanne immer höher wachsen, überleben nur Giraffen mit längeren Hälsen. Diese pflanzen dann ihre Gene fort.
Ihr war klar, dass sie etwas für ihre Muskulatur tun müsste. Denn nur durch hartnäckige Anstrengung ließe sich ihr Körper verändern. Das Leben war Konkurrenz und blieb ein Recken und Strecken. Von wegen <Der Weg ist das Ziel>. Sie wollte sich endlich mehr anstrengen, etwas erreichen. Mit Müßiggang in der Luxusvilla war nichts mehr zu bewegen. In jedem Menschen steckte der Drang zur Weiterentwicklung. Sonst blieb nur Resignation bis hin zum Untergang. Das war in der Tierwelt, aber auch bei den Pflanzen so.

Das Handy riss sie aus ihren Gedanken. Karl war dran. Er sagte:
„Ich komme heute etwas später nachhause. Muss noch etwas erledigen. Wir sehen uns dann am Abend bei mir.“
„Gut“, sagte sie.

Ihre Mutter kam ins Zimmer und sprach Eva sofort an. Sie sah aus, als ob sie gerade geweint hatte. Ihre Tochter fragte, was denn sei.
„Ach Kind, dein Vater geht dauernd fremd mit jungen Frauen und er denkt ich weiß nicht was Sache ist. Männer sind doch nichts weiter als gemeiner Löwenzahn, der mit strotzender Potenz jede Straßenritze markiert. Für wie blöd hält er mich eigentlich?“
Eva nahm ihre Mutter in die Arme, tröstete sie und meinte:
„Lass dich doch scheiden.“
„Wovon soll ich dann leben Kind?“
Eva hielt einen kleinen Vortrag:
„Du musst dich wie die Vorfahren von uns Menschen über das Steppengras erheben, um besser Ausschau halten zu können. Wieder aufrecht gehen lernen. Wenn du dich in dieser Luxusvilla vergräbst, verlierst du endgültig alle deine einmal erworbenen Fähigkeiten. Vieles ist schon verschüttet. Wie Wasser, das im Sand versickert. Die Muskeln sind erschlafft. Die Denkfähigkeit hat abgenommen.“

Abends allein im Bett schrieb Mutter in ihr Tagebuch:
Ja, ich will keine Unterstützung mehr von meinem Mann, diesem Heuchler. Ich werde es tun. Die Scheidung einreichen. Mein Leben war 25 Jahre die Aufzucht der Kinder. Was brauchen Menschen lange bis man sie in die Selbständigkeit entlassen kann. Kein Tier kann das toppen. Theoretisch war in der Zeit Anderes machbar, aber praktisch nichts. Unerschlossene Möglichkeiten habe ich nie genutzt, nur geträumt davon. Und dann war es jeden Tag doch nur dasselbe in meinem Scheinparadies.

Am nächsten Morgen bereitete sie wie immer das Frühstück für ihren Mann. Der fuhr mit seinem Porsche in die Praxis. Sie packte ein paar Sachen zusammen und befreite ihren Alfa aus der Garage, tankte ihn voll und fädelte sich auf die Autobahn mit Ziel nach Süden ein. Es war heller Nachmittag und gutes Wetter. Kaum Verkehr. Fast alle fuhren höchstens 120 km/h, obwohl keine Geschwindigkeitsbegrenzung angezeigt wurde.
Sie sinnierte vor sich hin:
Anscheinend wirken die aktuell wieder hohen Spritpreise. Evolutionäres und umweltbewusstes Handeln? Geht doch. Ein erster Schritt und notwendige Anpassung. Ich werde den Alfa verkaufen. Wieder in meinem erlernten Beruf als Lehrerin arbeiten und dem verstaubten Lehrplan des Gymnasiums Leben einhauchen. Vom Einfachen zum Komplexen, Strukturen verständlich machen. Die mir Anvertrauten entwickeln. Nicht mehr diese Faktenpaukerei.
In Kassel werde ich mich in ein Hotel einmieten und meinem Mann die Entscheidung, mich scheiden zu lassen und wieder als Lehrerin zu arbeiten, per Telefon mitteilen.



3. Der Streit

Am späten Abend trudelte Eva wie verabredet in Karls Wohnung ein. Sie erzählte ihm gleich vom Ehedilemma ihrer Mutter und dass diese sich scheiden lassen wollte.
Er meinte: „Kann ein Mann denn einer Frau trauen? Ich habe bisher Frauen nie getraut.“
„Männern doch auch nicht“, antwortete sie mit scharfer Stimme.
„Traust du denn Männern?“, fragte er.
„Niemandem, … aber ist das nicht schrecklich auf die Dauer?“
„Ach, die Menschen mit ihrem ganzen Liebes- und Beziehungsgedöns. Keiner ist ehrlich. Am Ende sind alle verletzt“, meinte er.
„Und wer am meisten geliebt hat ist der Dumme“, entrüstete sie sich, „doch ich könnte gar nicht anders als mit Liebe leben.“
Schweigen.

Er drehte den Kopf zu ihr hin, blickte durch sie hindurch und meinte,
was das Ganze solle.
„Man vögelt miteinander und verspricht sich die Liebe fürs Leben. Dann trennt man sich wieder. Jeder ist sich selbst der Nächste und flüchtet, wenn es schwierig wird. Mir ist es lieber, man schläft einfach ein paar Mal und fertig. Was soll dieser Romantikscheiß von euch Frauen. Muss man sich das wirklich antun?“
Sie glaubte ihm kein Wort. Seine Wut fraß sich in ihre Seele. Doch sie spürte auch die ungeheure Energie dahinter und glaubte, dass er ein großer Liebhaber sein könnte. Wenn er sich denn trauen würde.
Eva legte ihre Hand auf sein rechtes Knie und fragte:
„Bist du eigentlich nie neugierig, was für eine Frau du fickst?“
„Ich glaube nicht, dass da etwas Großes wartet. Wer bist du? Bestimmt hast du viel erlebt, … du kannst mir alles erzählen, … aber irgendwann haben wir die Geschichten durch, … und dann bricht die große Langeweile aus.“
Er glaubte nicht, dass ihn eine Frau auf Dauer fesseln und immer wieder überraschen konnte.
„Lass uns einfach Spaß miteinander haben. Und wenn du ehrlich bist“, … zögerte er, „bist du auch nicht bereit, für einen Mann, der dich interessiert, alles zu tun.“
„Du bist ein hoffnungsloser Fall“, schrie sie entrüstet, stand auf, warf sich ihren Trench über und knallte die Haustür hinter sich zu.


4. Im Lazarett

Nachdem Karl sich mit Eva wieder vertragen hatte, hielt der Frieden seit gut drei Monaten an und sie beschlossen nach ihrem Studienabschluss zu heiraten.
Seit sechs Wochen lag er jetzt schon im Bundeswehrlazarett Wandsbek, das nach Kriegsende bis 1958 vom britischen Militär genutzt wurde. Sein Vater bekam im Jahr 1959 kurz nach der Übernahme durch die Bundeswehr die Aufgabe, dort eine Chirurgische Abteilung aufzubauen. Da er den ganzen Krieg nach seiner Ausbildung an allen Fronten im Einsatz war, hatte er sehr viele praktische Erfahrungen sammeln können. Ein Karrieresprung für ihn zum Oberfeldarzt. Karl missbilligte die Entscheidung, weil er die Bundeswehr politisch ablehnte. Gemäß dem Begriff <Lazarett> wurden zunächst nur Soldaten behandelt. Doch wenn Betten frei waren, durften auch Zivilisten aufgenommen wurden. Karl nahm deshalb das Angebot seines Vaters an, sich in der Inneren Abteilung untersuchen zu lassen, weil er sich schon länger matt fühlte und fieberte. Es stellte sich die Diagnose Pfeiffersches Drüsenfieber heraus und er wurde gleich dabehalten und bevorzugt vom Leiter der Inneren Abteilung behandelt.
Sein Bettnachbar, ein älterer Leutnant, lag schon seit sechs Wochen dort, nervte durch ständiges Radiohören, mit Vorliebe deutscher Schlager. Gerade war er für einige Zeit in die Cafeteria verschwunden, um heimlich ein paar Zigaretten auf der Toilette zu rauchen. Das hatte ihm der Oberarzt wegen seiner angeschlagenen Lunge allerdings strengstens verboten.

Draußen prasselte der Regen mit monotonem Rhythmus an die Fenster und steigerte Karls Trübsinn. Er schaute zu wie die Tropfen an den Scheiben abperlten. Doch dann hörte er Schritte den Flur entlanglaufen, sah zur Tür, die sich langsam öffnete. Es war Eva, mit der er sich wieder vertragen hatte und die ihn inzwischen heiraten wollte.
„Guten Tag“, sagte sie und wirkte dabei ungewohnt distanziert.
Ihre langen Haare hingen in nassen Strähnen auf die Schultern. Sie zog den triefenden Trench aus und hängte ihn über einen Garderobenhaken an der Seite des Spindes für die Kleidung der Patienten. Dann trat sie an sein Bett, drückte ihm einen Kuss auf die heiße Stirn und setzte sich vorsichtig auf die Bettkante. Er wollte sie weiter herunterziehen und sie küssen. Doch sie wehrte ab und sagte:
„Ich möchte mich nicht anstecken. Wie geht es dir denn jetzt?“
„Ganz gut. Der Arzt meinte, in vierzehn Tagen könnte ich die Klinik verlassen. Allerdings sollte ich einige Zeit nicht arbeiten, da ich noch zu geschwächt bin.“
„Das ist doch schön für dich!“, meinte sie.
„Wenn ich wieder ganz fit bin, möchte ich dich sofort heiraten“, sagte er.

Sie schwieg darauf eine Weile - zu lange.

Er fragte, was denn sei. Sie richtete sich auf und sprach mit gequältem Gesichtsausdruck:
„Ich habe mir überlegt, dass ich dich doch nicht heiraten möchte.“
Er schaute sie erschrocken an und war völlig konsterniert.
Nach einer langen Pause flossen die Tränen über seine heißen Wangen, ähnlich den dicken Regentropfen, die immer noch auf den Fenstern ihre Linien zogen.
Ihm fehlten die Worte. Nachdem er sich etwas gefangen hatte, fragte er:
„Warum denn nun plötzlich nicht mehr? Bloß, weil ich jetzt krank bin?“
Sie entgegnete, dass ihre Eltern das unabhängig voneinander nicht wollten. Mutter meinte, dass wir nicht zusammenpassen. Vater hielt es für viel zu früh, jetzt zu heiraten. Ich sollte erst mal mein Studium zu Ende bringen.
Er schwieg, war völlig konsterniert.
„Liebst du mich denn nicht mehr?“
Sie zögerte mit der Antwort.
„Doch, aber ich habe das Gefühl, dass meine Eltern Recht haben.“
Karl war wie vor den Kopf geschlagen. Nachdem er sich etwas gefangen hatte, fragte er:
„Wie meinst du das? Ich liebe dich wirklich. Ich bin verrückt nach dir. Warum hörst du auf deine Eltern? Du hast doch sonst dauernd Streit mit ihnen. Die wollen doch bloß, dass du noch länger bei ihnen wohnst.“
„Das mag stimmen“, sagte sie, „aber ich werde mir ein Zimmer in Uni-Nähe nehmen und von dort aus weiterstudieren.“
Karl wischte sich das tränennasse Gesicht ab und erhob seine Stimme:
„Ich finde das gemein von dir, mich hier im Krankenhaus damit zu überfallen. Wo ich mich nicht wehren kann. Ich möchte mit deinen Eltern reden. Kannst du sie nicht mal in dieser Woche hier her bestellen?“
„Nein, das will ich nicht, und sie wollen das auch nicht.“

Völlig erschöpft musste er realisieren, dass sie ihn wirklich nicht mehr heiraten wollte.
Plötzlich stand sie abrupt auf, griff ihren Trench und eilte zur Tür. Er sah ihr nach und verfolgte ihre Bewegungen. Zurück blieb nur noch der Schattenriss ihrer Abwesenheit. Sein Leben fiel in einen Abgrund.

Der Bettnachbar kam zurück und fragte:
„Was ist los? Hast du Ärger mit deiner Verlobten gehabt?“
„Ja, aber ich habe keine Lust darüber zu reden. Doch ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie heute das Radio nicht mehr anstellen.“
„Iss ja gut, wenn es denn sein muss!“ erwiderte er unwirsch.


5. Reise nach Amerika

Karl hatte immer mehr zu tun, weil er viele Anfragen seiner Kunden bedienen musste. Inzwischen auch von großen Magazinen, die nach neuen Fotos hungerten. Dem standen seine schlechten Angewohnheiten, wie das zunehmende Aufschieben notwendiger Arbeitsschritte und Entscheidungen im Wege. So hatte er Mühe, alle Kunden zufrieden zu stellen. Außerdem konnte er häufig im Stress nicht mehr Wichtiges von Unwichtigem trennen. Am schwersten fiel es ihm, Kunden und auch anderen Menschen aus seinem Privatleben Grenzen zu setzen.
Eines Tages beschloss er, sein Leben zu ändern, denn so ging es nicht weiter. Morgens nach dem Aufstehen um sechs Uhr machte er eine kleine Bewegungsmeditation und ließ dabei den durchs Gehirn schwirrenden Gedanken freien Lauf. Es war quasi ein mentales Loslassen, um sich dann auf seinen Tagesablauf zu fokussieren. Nach dem Frühstück arbeitete er zwei Stunden sehr konzentriert an einer Sache, ohne sich abzulenken. So hatte er das Gefühl, dass der Tag ihm gehörte.
Zweimal die Woche joggte er eine Stunde am Elbufer entlang. Außerdem stellte er seine Ernährung auf weniger Fett und Zucker um, achtete auf eiweißhaltiges Essen, wenig Fleisch, oft Fisch, viele Salate, Dinkelvollkorn- statt Weizenbrot und vor allem keine Cola mehr.
Auf mehreren Wochenendworkshops, die inzwischen in Hamburg und auch der näheren Umgebung angeboten wurden, offenbarten sich bei konkreten Übungen seine mitmenschlichen Defizite. Ihm wurde immer klarer, worauf es wirklich ankommt. Er arbeitete daran, mehr Achtsamkeit und Verbindlichkeit zu entwickeln, eine humanere Streitkultur zu pflegen und echte Freunde zu gewinnen. Ihm ging es nicht mehr darum, auf jeder Party zu erscheinen und mit möglichst vielen Menschen kurze Smalltalks zu haben. Vielmehr legte er großen Wert auf ein gutes Gespräch.

In Karls Atelier sausten inzwischen einige Ratten herum. Ihm war bekannt, dass diese Tiere Metall und Beton zerbeißen konnten. Doch sie hatten sich vermutlich durch zentimeterschmale Ritzen gezwängt, denn er fand keine Schäden an den Wänden, Türen und Fenstern. So begann er sich für die Spezies mit Überlebensfähigkeit in fast jeder Lage näher zu interessieren. Zum Beispiel konnten Ratten mit ihrem Geruchs- und Geschmackssinn Stoffe in minimalen Mengen analysieren und sie vorsichtig werden lassen, wenn sie etwas nicht kannten. Aus evolutionärer Sicht waren Ratten ein Erfolgsmodell, was damit zusammenhing, dass sie sich effektiv fortpflanzten. Häufiger Sex war dafür ein Grund. Nach der Ejakulation brauchte der Rattenmann etwa fünf Minuten Ruhe, dann konnte er es wieder.
Das hatte was, dachte Karl. Nur sehen konnten Menschen besser.
„Gut, aber manchmal ist es angebrachter, nicht alles sehen zu müssen“, murmelte er vor sich hin.“
In gewisser Weise war er fasziniert von diesen Tieren und überlegte, was er rattengemäß in seinem Leben verändern könnte. Vom Beobachten der Menschen und der Umsetzung in Fotoprojekte hatte er erst einmal genug. Deshalb plante er eine Reise in die USA, um dort per Globetrotter durch einige Staaten, vor allem im Norden und in Kalifornien zu reisen. Geld hatte er fürs Erste genug angespart. Ansonsten würde er sich mit Hilfsjobs so viele Dollars erarbeiten, dass er sein nächstes Ziel bezahlen könnte. Seine Wohnung konnte er an einen Studenten vermieten und das Atelier an eine junge Malerin, die ihm empfohlen wurde.
Er lernte die verschiedensten Menschen kennen und machte viele Landschaftsfotos, die bisher nicht auf dem Fokus seiner Motive standen. Eines Tages führte ihn sein Weg auch nach New York, der irrsten Stadt auf seinem Trip durch den Kontinent, auf die er neugierig war. Dort lernte er Patricia kennen, eine waschechte New-Yorkerin, Anglistikstudentin im letzten Semester. Er verliebte sich sofort. Doch immer, wenn er sie bei ihrer Begrüßung auf die Wangen küssen wollte, hielt sie ihn auf Distanz. Strich sich dann eine ihrer brünetten Strähnen aus dem Gesicht, verschenkte einen freundlichen Blick aus den dunkelbraunen Augen und streckte ihm die Hand entgegen. Sie machte so deutlich, dass es wohl nicht mit ihr zu einer herbeigesehnten liebevollen und sexuellen Verbindung kommen würde. Eine gewisse Distanz von seiner Seite war dann die Reaktion, obwohl sein Gehirn sich immer rattenmäßiger anfühlte.
Patricia war eine gute Kameradin, doch er wollte mehr, sie ganz, obwohl sie aus schwierigen Verhältnissen kam. Ihre Mutter war früh bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen und ihr Vater hatte neu geheiratet. Eine Frau, mit der seine Tochter überhaupt nicht klar kam.

Eines Abends kamen sie mit einem Professor für Linguistik beim Besuch einer Bar in Manhattan ins Gespräch. Dieser beschäftigte sich mit aussterbenden Sprachen. Der Extremfall in seiner Forschungsarbeit war Yaghan, was nur noch von einer alten Frau in Feuerland gesprochen wurde.
Die beiden waren begeistert und beschlossen, nach Patricias bevorstehendem Examen dorthin zu reisen. Die Frau wäre, so der Professor, eine spirituelle Seherin.

Nach einem Flug mit einer Boeing 727 nach Santiago de Chile fuhren sie mehrere Wochen lang mit Bahn und Bus bis nach Bariloche, südlich der Magellanstraße. Unterwegs machte Karl viele Fotos mit spektakulären Bergpanoramen in den Anden.
Nach zwei Tagen Ruhepause nahmen sie am Morgen den Bus zu den Cascadas de los Duendes, um die alte Frau aufzusuchen. Faltenzerfurcht empfing sie die beiden in ihrer kleinen Hütte. Nachdem alle auf Sitzkissen Platz genommen hatten, richtete die Seherin ihre Adlernase auf und schaute ihnen tief in die Augen, ohne etwas zu sagen. Karl war das unangenehm und er räuspere sich.
Nach einer Weile gab sie die Anweisung, sich einander zuzuwenden, sodass beide gut in die Augen des jeweils anderen schauen konnten. Dann noch die Vorgabe, fünfzehn Minuten lang nicht zu sprechen und den Blick zu halten. Sie sagte es sehr bestimmt und vermittelte damit, keinen Widerstand zu dulden. Den beiden blieb nur die Wahl, sich darauf einzulassen oder zu gehen.

In Karls Gehirn liefen während dieses unendlich langen Schauens alle Gefühle ab, die er kannte: Trauer, Wut, Angst, Scham, Freude und Lust, … Er konnte den Blick in die Augen von Patricia halten und sehen, was sie gerade fühlte: Trauer, Wut, Angst, Scham, Freude, Lust ….
Am Ende der Übung – Karl kam es wie eine Unendlichkeit vor - sagte die Seherin: „mamihlapinatapai“.
Patricia fragte vorsichtig auf Spanisch, was das bedeute.
Die alte Frau antwortete mit leicht brüchiger Stimme ebenso auf Spanisch:
Patricia übersetzte:
„Der Blick zwischen zwei Menschen, die wollen, dass der andere was in Gang setzt, was beide begehren, aber keiner bereit ist es zu tun.“
Das junge Paar fiel sich in die Arme, tauschte einen intensiven Kuss aus und wollte die alte Frau bezahlen. Doch die wehrte ab und bedeutete ihnen, dass sie für das eine Wort und ihr Schweigen nicht zu zahlen bräuchten.


6. Im Spiel

Zurück in Hamburg konnte Karl sofort wieder in seine Wohnung einziehen, da Harald, sein studentischer Mieter auf Zeit, vor zwei Wochen ausgezogen war, um in Berlin weiter zu studieren. Carmen, die sein Atelier nutzte, hatte es inzwischen geschafft, die Rattenplage mit Gift zu beenden. Sie fragte ihn, ob sie noch eine Ausstellung mit ihren Landschaftsbildern machen dürfte.
„Klar doch“, meinte er und strahlte sie dabei an, ... „wenn du möchtest können wir auch mal eine Ateliergemeinschaft anpeilen. Ich habe in Amerika - vor allem in den Anden - sehr viele Landschaftsfotos gemacht. Vielleicht können wir dann auch mal ein gemeinsames Projekt angehen.“
Sie fiel ihm um den Hals und küsste ihn ab.

Nachdem Karl sich wieder in Hamburg eingelebt hatte, lernte er eines Tages Leute kennen, die gerne Doppelkopf spielten und ihn fragten, ob er nicht Lust hätte mitzumachen. Ihm fiel sofort ein, dass er in seiner Kindheit mit Mutter und Bruder gern Rommé und später Skat gespielt hatte. Vater lehnte jegliches Spiel ab. Als Erwachsener machte Karl die Erfahrung, dass man einen Menschen in einer Stunde Spiel besser kennenlernte als bei einem Gespräch in einem Jahr. Er fragte sich, warum so viele jegliches Spielen ablehnen und viel Zeit mit sinnlosen Redereien verpulvern würden. Seien es Gespräche aneinander vorbei, Scheindiskussionen, um Schwächen nicht zu offenbaren, oder gar wissenschaftliche Auseinandersetzungen, die auf nicht bewiesenen Hypothesen basieren würden.
Der Mensch schwätzte halt lieber als sich auf ein Spiel einzulassen, welches er gar verlieren könnte.
Karl hatte einmal in seiner Jugendzeit beim Mensch-Ärgere-Nicht mit seiner Mutter und dem Bruder ein Tonband mitlaufen lassen. Den Mitschnitt empfand er damals als sehr witzig. Bei einem späteren Abhören wurde ihm klar, dass die Charaktere der Spieler sich dabei total offenbarten.

In der Doppelkopfrunde, der er sofort zusagte, gab es viele Momente, in denen es um Situationen ging, in denen etwas deutlich wurde, was einen Menschen ausmachte. Wie ging er mit Siegern um, wie mit Verlierern? Wie kooperierte er mit einem Spielpartner? Resignierte er beim Verlieren oder entstand der Wunsch sich weiterzuentwickeln? Wurde er zum Einzelkämpfer oder beschloss er, sich in der Zukunft kooperativer zu verhalten? Was spornte ihn an, etwas zu verändern? Wollte er seinen Blick auf die eigene Perspektive von der Welt schärfen?

Im Lauf der Zeit erkannte Karl immer klarer, dass alle Menschen mehr oder weniger Rollen spielten. Interessant dabei waren vor allem die Konflikte und Widersprüchlichkeiten, mit denen sie adäquat im wahren Leben agierten. Zum Beispiel die Momente des Triumphierens über andere oder in denen sie Angst bekamen, das Gesicht zu verlieren. Das führte dann oft in einen Konflikt mit ihren Instinkten. Besonders dann, wenn sie in ihrer Selbstbetrachtung gut und fair erscheinen wollten.

Mit den gewonnenen Erkenntnissen der letzten zwei Jahre bereicherte Karl sein Privatleben, schaffte gleichzeitig effektiver die Arbeit, die zu tun war, und bekam mehr Freiraum für seine neuen Ideen in der Landschaftsfotografie. Das Arbeitsverhältnis mit Carmen entpuppte sich als sehr kreativ, vor allem auch, weil es nicht durch intime Begehrlichkeiten belastet wurde.


7. Marie und die kanarischen Bananen

In den nächsten Jahren quälte Karl sich manchmal mit schwerfälligen Gedanken über seine Beziehungen zu Frauen herum. Doch die konstruktive Zusammenarbeit mit Carmen in der Ateliergemeinschaft klappte gut. Sie diskutierten viel über ihre jeweiligen Werke und befruchteten sich gegenseitig mit neuen Ideen.

An einem Wintersonntag – das Atelier war für Besucher geöffnet – schneite eine junge Frau herein. Sie stellte sich mit dem Namen Marie vor, studierte an der Kunsthochschule und verwickelte Karl in ein langes Gespräch. Im Verlauf bekam er immer mehr den Wunsch, sie auch privat näher kennenzulernen. Seine zunehmende Nervosität darüber, wie er das angehen könnte, fühlte sich an wie eine greifbare Substanz, sodass Marie fragte, was denn los sei.
„Es gibt doch keinen Grund so aufgeregt zu sein. Du kannst offen mit mir reden. Mir ist nichts Menschliches fremd“, meinte sie.
Karl atmete auf und freute sich, dass sie eine Frau war, die den Blick anscheinend nicht abwendete, wenn es schwierig wurde. Er spürte deutlich dabei ihre Präsenz. Sein Atem, der Herzschlag wühlten ihn auf und er stellte sich vor, dass Marie nicht erst in seine Zukunft gehören sollte, sondern sehr bald ins Jetzt.
Beim Abschied erwähnte sie gespielt beiläufig:
„Mein Vermieter hat mir die Wohnung wegen Eigenbedarfs gekündigt und ich muss spätestens in zwei Wochen raus.“
Ohne lange nachzudenken bot Karl ihr an, dass sie bei ihm in ein Zimmer einziehen könnte, das er kaum nutzen würde. Wenige Tage später tat sie das und ließ ein paar überflüssige Möbel zu ihren Eltern transportieren, um sie in deren Keller im Haus Nähe Hannover zu lagern.

Es stellte sich schnell heraus, dass Marie ständig Sex wollte, am liebsten jeden Tag. Karl war zunächst begeistert – endlich eine Frau mit Begierden. Doch mit der Zeit schaffte es ihn völlig. Sie war offensichtlich sexsüchtig. Er suchte immer mehr nach Gründen, mal einen Abend sich drücken zu können.
Vor dem Beginn ihres Wintersemesters - Mitte Oktober - verbrachte Marie jedes Jahr ein paar Wochen Urlaub auf La Palma, um die warme Jahreszeit etwas zu verlängern. Sie brauchte die Wärme und die Eltern halfen ihr großzügig bei der Finanzierung. So wie sie auch ihr Studium bezahlten.
Bisher flog sie immer mit wechselnden Freunden, doch jetzt nach langer Zeit zum ersten Mal allein auf ihre Trauminsel. Karl wollte nicht mitkommen, weil er zu viele Aufträge in der Zeit erledigen musste. Doch er war froh, für ein paar Wochen mal wieder allein die Zeit in seiner Wohnung genießen zu können.

Das Flugzeug schwebte langsam ein. Landung. Fahrt mit dem Auto nach El Paradiso auf der grünsten Canare. Ringsum Bananenplantagen. Im letzten Jahr genoss Marie noch wunderbare Wonnewochen mit Mike. Gutes Essen, viel Schlaf, Schwimmen im Pool und vor allem Sex am Abend und Morgen, manchmal auch mittags. Ein Orgasmus jagte den anderen. Der Sex war ähnlich beständig wie der Passatwind, der dort immer wehte.
Beim Abschied auf dem Flughafen Hamburg eröffnete Karl ihr, dass es so nicht weitergehen könnte und sagte:
„Marie, du bist eine Nymphomanin, dauernd willst du Sex. So geht das mit uns nicht weiter.“
Sie fiel aus allen Wolken und dachte darüber nach. Stimmt! In gewisser Weise hatte er Recht. Vermutlich fühlte er sich überfordert und wollte in Anbetracht seines Alters eine Familie gründen, mit Kindern und einem beschaulicheren Leben. Doch das war nicht ihr Ding.

„Ha, er wird es bereuen!“, stieß sie bei der Landung auf La Palma verächtlich aus.

An ihrem ersten Tag auf der Insel war es sehr heiß. Sie fuhr mit dem georderten Mietauto ins nahe gelegene Los Llanos und kaufte in der schattigen Markthalle Obst und Gemüse. Die kleinen süßen kanarischen Bananen, einmalig auf der Welt, waren natürlich auch dabei.
Am Abend kochte sie ein Essen mit Fisch, Gemüse und Kartoffeln in ihrem Appartement. Sie genoss es mit einem Glas Wein und verdrängte ihre Sehnsüchte.
Dann der Nachtisch. Da lagen sie, die Bananen, in der Schale auf dem Tisch. Sie schauten Marie an, klein und gelb mit braunen Flecken. Forderten sie auf, enthäutet zu werden. Sanft nahmen ihre Finger eine zur Hand und glitten zur Spitze, wo einst sich die Blüte befand. Ihre Nägel drückten leicht hinein. Daumen und Zeigefinger griffen die Schale, zogen und wanderten weiter nach hinten zum Schaft. Helles Fleisch wurde sichtbar. Die Finger wiederholten das zarte Spiel, bis die Frucht entblößt war. Mit einem scharfen Messer trennte Marie die nun Nackte in zwei lange Hälften. Diese kamen als Paar in eine Pfanne mit warmer Butter. Sie beträufelte beide Teile mit Honig, sodass sie immer süßer, brauner, zarter wurden.
Marie legte sie auf den schönsten Teller. Das Wasser lief ihr im Mund zusammen. Mit einem kleinen Löffel schob sie die Kost häppchenweise zwischen ihre Lippen. Schlürfte, saugte und zerdrückte sie sanft in ihrem lüsternen Mund. Langsam glitten sie hinein ins Dunkle, Umfassende, Geborgene, wurden eins mit ihr.
Sie musste an ihre Tage und Nächte mit Karl denken. Vor allem an seine krumme Banane, wie sie scherzhaft sein bestes Stück nannte. Die stand in guten Zeiten auf, wenn Marie sich nackt darbot, aber blieb immer etwas krumm dabei. Nach einer Verneigung sackte sie langsam in sich zusammen. Doch das sinnliche Spiel klappte immer seltener.

„Ein neuer Mann muss her, Hauptsache Banane!", entwich ihr seufzend aus dem gesüßten Mund, kurz vor dem Einsickern in neue Träume.


8. Sternfahrt nach Bonn

Seit einigen Jahren wurde in Westdeutschland intensiv über die Schaffung einer Notstandsgesetzgebung diskutiert. Die Politiker wollten den Missbrauch von Regelungen aus Sicht der Großen Koalition von CDU/CSU und SPD unter Kanzler Kiesinger verhindern. Grund waren die schlechten Erfahrungen mit den Notverordnungen in der Weimarer Republik. Da die große Koalition über eine Zweidrittelmehrheit verfügte, war eine Grundgesetzänderung grundsätzlich möglich. Politisch aktive Menschen waren allerdings strikt dagegen, vor allem unter den Studenten.
Am 9. Februar 1968 debattierte der Bundestag über die Pläne. Ziel war es, eine Gesetzesänderung noch vor der Sommerpause zu verabschieden. Zudem beunruhigten die im April verübten Kaufhausbrandstiftungen und die massiven Reaktionen nach dem Attentat auf Rudi Dutschke die Bevölkerung. Die drei Westmächte verzichteten letztendlich auf ihre Vorbehaltsrechte, das Grundgesetz zu ergänzen.
Viele Menschen in der sogenannten außerparlamentarischen Opposition (APO) fanden das empörend. Karl beschloss deshalb an der Sternfahrt nach Bonn teilzunehmen, um dort zu protestieren. Die Bahn setzte mehrere Sonderzüge ein.
Beim Warten auf Gleis 1 des Hauptbahnhofes, begegnete ihm völlig überraschend seine Exfreundin Eva, die er mal heiraten wollte. Sie begrüßte ihn und wirkte sehr viel reifer als damals bei der von ihr ausgelösten Trennung. Beide beschlossen, zusammen in ein Abteil zu gehen, um sich auf der Fahrt über die letzten Jahre zu unterhalten. Der Zug war gerammelt voll.

Sie erzählte, dass ihr Vater vor knapp einem Jahr einen Verkehrsunfall hatte. Er wollte nach der Arbeit mit seinem Wagen rechts herum in die Elbschlossallee einbiegen, hatte aber das Tempo des von links heranbrausenden Daimlers mit Vorfahrtsrecht falsch eingeschätzt. Das schwere Auto rammte seinen PKW mit voller Wucht genau im Bereich der Fahrerseite. Ihr Vater war sofort tot. Offensichtlich spielte auch ein erhöhter Alkoholpegel eine Rolle. Am Freitag nach Feierabend trank er gern mit seinem Praxispersonal einen Schluck über den Durst.
Mutter war schon seit einiger Zeit in den Schuldienst zurückgekehrt und hatte die Villa verkauft. Von dem vielen Geld konnte sie sich zwei Eigentumswohnungen leisten und es war immer noch ein beträchtlicher Betrag übrig. Die Bleibe in Rahlstedt gehörte nun Eva, die sich sehr wohl dort fühlte. Das Biologiestudium hatte sie inzwischen beendet und zusätzlich ihre Pädagogikprüfung bestanden. Jetzt machte sie ihr Referendariat an der neu geschaffenen integrierten Gesamtschule <Alter Teichweg>. Der Hamburger Ansatz, Gesamtschulen zu gründen, gefiel ihr ganz besonders.

Vom Bahnhof Bonn zogen die Protestierenden zur Kundgebung im Hofgarten.  die trotz aufgeheizter Stimmung ohne Krawalle verlief. Erschöpft fuhren Karl und Eva zurück nach Hamburg und hatten keine Lust mehr zu diskutieren. Die anderen Vier im Abteil waren ebenfalls geschafft. Alle zogen die Sitzflächen beidseitig nach vorn, sodass eine große Liegefläche entstand. Eva und Karl kuschelten sich eng aneinander.
Beim Abschied am Hauptbahnhof meinte Eva ganz unvermittelt:
„Ich würde dich gerne heiraten, wie wir das damals schon angepeilt hatten.“
Karl war völlig überrascht und sagte: „Jaa,… na endlich! Wir sehen uns die nächsten Tage.“
„Super!“, meinte sie und drückte ihm einen großen Schmatzer auf den Mund.

Am 30 Mai beschloss der Bundestag die Notstandsgesetze mit einigen Gegenstimme



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