27.10.2022

Innerer Monolog zum Thema Innenwelt

von  Terminator

Die Sonne geht am 30. Lebensoktober am 30. Oktober auf. Tag und Lebenstag fallen zusammen. Selten der Fall. Diesen Lebenstag werde ich mit einem 20-jährigen Pedro Ximenez Sherry begrüßen, der hat duende. Dunkel wie die Nacht, und nur 15,5% Alkohol. Der Eiswein unter den Linkörweinen. Vom Genusstrinker zum Kulturtrinker geworden (nur soviel auf einmal, dass sofort danach wieder das Lesen anspruchsvoller Bücher möglich ist), werde ich Augustus auch einen sizilianischen Marsala aus der Jahr 1944 anbieten. Da war was los in Italien. 1989 wurde dieser Wein in die Flasche gegossen, nach 45-jähriger Reifung. Da war was los in meiner Heimat, der UdSSR. Die elegante dünne 375ml-Flasche für schlappe 200 Euro geholt, also 300 Euro gespart. Die Neue, eine junge und sehr freundliche Frau mit einem bildhübschen Gesicht und einem an die Kindheit erinnernden Blick, machte mir die Flasche im Laden auf, damit ich zu Hause keine Qual mit dem Korken habe. In den zwei Nächten danach hörte und sah ich den Star meiner Kindheit, Julia Natschálova, auf Youtube wieder. Sie war nur zwei Jahre älter als ich, und begeisterte mich 1993-1996 im Fernsehen als aufgewecktes niedlich-süßes singendes Traummädchen. Sie starb 2019, mit 38.   


Ich hatte 1997, mit 14, eine klare Vorstellung davon, wer (nicht was) ich werden wollte. Der wurde ich 2017, spätestens 2021. Wenn die Persönlichkeitsentwicklung keine logistische Kurve beschreibt, dann kann ich mir nicht vorstellen, was für eine Art Übermensch noch kommen soll. Derzeit findet bei mir exponentielles Wachstum statt. Das hat sicherlich auch mit dem intronormativen Turn im Frühjahr 2021 zu tun. Die Einseitigkeit aller möglich gewesenen beschränkten "Erfolge", die jeweils viel Geld und Weltruhm gebracht hätten, war mir noch vor fünf Jahren nur theoretisch bewusst. Aber war ich nicht in Wirklichkeit der Fuchs, der wie auf die zu hoch hängenden Trauben auf Buffett und Musk, Xi und Trump, Perelman und Einstein, Hannibal und Bach, den Punisher und den T1000, Superman und Thor blickte? Nein, denn jeder dieser Wege wäre ein einseitiger Weg gewesen. Fussballweltmeister, Literaturnobelpreisträger, Starregisseur, Imperator, "alles schön und gut", aber: nur der erfolgreichste Sportler der Welt? Nur der wichtigste Wissenschaftler? Nur der mächtigste Herrscher? Das wäre schnell langweilig geworden. Meine Phantasie erschöpft sich nicht so schnell. Ja selbst die Männer, die all dies erreichten, sahen unmittelbar danach in den Abgrund der Leere. Sadio Mané ist glücklich, weil er begriffen hat, dass er nur Sadio Mané ist. Aus dem Nur des Mangels ein Nur der Bescheidenheit zu machen: darum geht es. Ich entschied mich, nur Philosoph zu sein. Warum? Weil, wenn ich doch etwas Einseitiges wollte, dann wäre es, mich in ein 12-jähriges Mädchen zu verlieben. Als Gleichaltriger! Aber 12 werde ich nicht mehr. Der Imperator eines galaktischen Imperiums zu werden, wäre sogar wahrscheinlicher.


Die erste Liebesbeziehung hatte ich mit 6 mit einer Vierjährigen, und wir waren ein Traumpaar. Doch weil meine Familie zu oft umzog, und in meinen frühen Teenagerjahren sogar in ein fremdes Land emigrierte, verlor ich den Anschluss. Ich wurde nie als romantischer Kanditat wahrgenommen, vielleicht weil ich kulturfremd war, vielleicht wegen des Autismus, von dem ich damals selbst noch nichts wusste. Aber ich wollte von diesen zu groß gewachsenen und zu dicken Mädchen in Deutschland auch nichts, und verliebte mich in die zierlichen Ausnahmeerscheinungen zu einer Lebenszeit, in der die anderen Sorgen nicht nur auch da waren, sondern das Leben komplett beherrschten. Eine unschuldig-romantische "erste Liebe", erste in einem nicht zu kindlichen Alter, dann eine intensiv-unschuldigromantische Jugendliebe und schließlich eine unsterblich-unschuldigromantische "Liebe des Lebens" würde ich mir auf dieser Welt wünschen, wenn sie als Welt in Ordnung wäre. Diese drei Lieben, mit 11-13, mit 14-15, mit 16-18, wären mit lieber als alles, was ich theoretisch werden oder sein könnte. Welche davon sich im Nachhinein als meine Lieblingsliebe erwiesen hätte, kann ich nur spekulieren. Ich bin in die spätkindlich-frühpubertäre Liebesromantik nach wie vor verliebt, und schaue liebend gern sowjetische Kinder- und Jugendfilme. Auch die "westlichen" Liebesfilme sind nicht immer verdorben, doch meistens leider schon: es geht um erste "Erfahrungen", nicht um erste Gefühle. Die Mädchen sind schon früh seelenlose Schlampen und die Jungen charakterlose Vollwichser, selbst die Protagonisten.


Dieser Junge war der erste Übermensch, von dem ich Notiz nahm. Natürlich war er eigentlich ein transhumanes Wesen, ein Roboter. Und doch war es unmöglich, nicht danach zu streben, so zu werden. Ich werde nie aus flüssigem Metall bestehen und unverwundbar sein, und doch bleibt der T-1000 mein Vorbild, und ihn zu erreichen, meine Pflicht. Nur ein Mensch will ein Übermensch werden. Ein Übermensch will ein Gott werden. Als Kind unterscheidet man noch nicht zwischen Göttern und Titanen, zwischen dem Solaren, dem Lunaren und dem Chthonisch-Tellurischen. Und doch tritt hier zu Anfang ein apollinischer Orpheus auf, in der 7. Minute sehe ich zwei identische Jungen, sogar identisch angezogen, und doch ist die Mediokrität mit der Gitarre hässlich, und der erhabene Zuhörer ein schöner apollinischer Engel.


Die Pflicht ist getan, ich lebe im Modus der Kür. In 113 Tagen werde ich 40. Der Rekord der Zeit war eine Besessenheit in meiner Kindheit. Ich wollte das schnellste Abitur machen, den schnellsten Uni-Abschluss, der jüngste Doktor sein usw. Stattdessen hat das Leben meine quälende Schulzeit endlos in die Länge gezogen; dass ich mit 7 schon in die vierte Klasse kam, spielte keine Rolle mehr. Ich musste sogar einmal sitzenbleiben. Auch das Studium, ausgehend vom Ausgangszustand der Zeit, schon durchs bloße Überleben ein Erfolg, dauerte viel zu lange. Und nun schaffe ich etwas vorzeitig, das sich vielleicht, um es mit den Worten eines meiner großen Professoren zu sagen, ein gelingendes Leben nennen könnte. Die Eitelkeit des Leben wurde nicht durch das Feststellen der Einseitigkeit nach der Bewältigung einer Einzeldisziplin eingesehen, sondern umfassend und tiefgreifend. Das Leben selbst, das für die Menschen das Größte ist, da alles andere im Leben stattfindet, ist für mich nur der kleinste gemeinsame Nenner zwischen mir und dem Göttlichen. Ich muss am Leben sein, um zu denken und zu handeln, um mich am Schönen zu erfreuen, um zu lieben. Das Leben und alle seiner Sicherung und Wucherung untergeordneten Dinge wie Geld, Status, Beruf usw. sind mir ein Nichts. Am Göttlichen teilhaben zu können, die Ideen zu schauen, ja einfach nur auf dem Dach der allgemeinen Lebenswelt zu stehen über die Welt(en) zu blicken: darum geht es. Nächste Woche gehe wieder Blut spenden, und kann genausogut mein ganzes Geld spenden oder gleich mein Leben (einen Organspendeausweis habe ich schon lange, aus Mitleid mit denen, die das Leben mit seinen materiellen Bedingungen gleichsetzen). Ich lebe, um zu lieben. Leben muss ich (um zu lieben), lieben will ich (das ist Selbstzweck). Und jetzt höre ich meinen apollinischen Orpheus.


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Kommentare zu diesem Text


 franky (27.10.22, 09:05)
Einfach großartig! 

Grüße von Franky
Taina (39)
(27.10.22, 10:17)
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 AlmaMarieSchneider meinte dazu am 27.10.22 um 21:17:
Da schließe ich mich an. Weil, wozu lebt man denn dann.

 harzgebirgler (07.11.22, 11:15)
mozart, "das saitenspiel gottes" (lt. heidegger)
wurde keine vierzig - die messlatte liegt also hoch.

 harzgebirgler (15.12.22, 16:58)
"auf dem Dach der allgemeinen Lebenswelt zu stehen über die Welt(en) zu blicken: darum geht es"

du hast zu solchem überblick
aus deiner sicht total geschick -
es kommt halt auf den standpunkt an
den selten einer ändern kann!
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