Ich lebe (nunmal) nicht in Russland. Ich war dort 1999 und 2003 jeweils im Sommer für drei Wochen zu Besuch. Und zwar in Omsk und Umgebung. Ich kenne weder Moskau noch Leningrad noch den Rest des Landes. Als Kind bin ich im Norden Kasachstans aufgewachsen. Erst als wir nach Deutschland übersiedelten, gingen meine russischen (nicht russlanddeutschen) Verwandten nach Russland.
Die Gesellschaften des Westens sind ultradekadent. Der Westen ist keine Erfindung seiner Feinde, denn es wird im Westen nach wie vor von "westlichen Werten" gesprochen, also braucht man nicht so tun, als wüsste man nicht, was der Westen ist. Wer den Westen als Entität anspricht, begeht keine Verschwörungstheorie. Ich lebe im Westen und der Gestank der ultradekadenten Gesellschaft ist unerträglich. Leider habe ich keine Alternative, denn die Gesellschaft, in der ich aufgewachsen bin (späte UdSSR) ist zerstört. Den postsowjetischen Raum kenne ich nur als einen postapokalyptischen Raum (der 1990-er).
Ich kann nicht sagen, dass mich die westliche Dekadenz in die Arme des rusischen Autokraten getrieben hat, denn dafür bin ich zu klug. Aber jede Kritik an den Zuständen, in denen ich leben musste, war mir willkommen. Die Positivaussagen der russischen Propaganda betrafen die russische Gesellschaft, über die ich nichts sagen konnte, aber die Negativaussagen über die westliche Gesellschaft waren überwiegend wahr. Russland war für mich bis 2020 eine Autokratie, die, angesichts historischer Umstände, durchaus ihre Existenzberechtigung hatte: als konservatives Gegengewicht zu einem ultradekadenten und für das Wohl der Menschheit zunehmend destruktiven Westen.
2020 häuften sich Ereignisse, die auch einem Außenstehenden zeigten, wie verrottet Russland von innen war. Erst die Vergiftung des gefährlichsten Oppositionspolitikers Nawalny, mit der Putin natürlich nichts zu tun hatte, dann die offene Unterstützung für den weißrussischen Diktator Lukaschenko, dessen Abwahl offensichtlich war, und der sich nur noch durch massiven Terror gegen die eigene Bevölkerung und die Hilfe Putins an der Macht halten konnte.
2021 war ein Jahr, in dem ich, sofern Zeit dafür übrig blieb, mich über die wahren Zustände in Russland informierte und die letzten Illusionen über die Legitimität des politischen Systems Russlands verlor. Als bei der berüchtigten Pressekonferenz kurz vor dem Überfall auf die Ukraine Putin tief in seine Seele blicken ließ, empfand ich nur noch Ekel für seine Person und Verachtung für sein politisches System. Die Unmöglichkeit, selbst etwas zu tun, bedeutete nun nicht mehr weitere Jahre Autokratie in Russland (die zumindest die Ziviligesellschaft einigermaßen in Ruhe ließ), sondern Zeuge sein zu müssen bei sinnloser Zerstörung. Ich hoffte auf eine Absetzung Putins Ende Februar oder zumindest ein schnelles Kriegsende. Doch die russische Gesellschaft erwies sich als genauso atomisiert und sediert wie die westliche, und reagierte auf jedes Leid, das ihre Mitglieder nicht persönlich betraf, mit Gleichgültigkeit. Und im Dezember ist der Krieg immer noch nicht vorbei. Egal wie beschissen die Situation den Menschen im Westen erscheint, jemand, der ursprünglich aus der Sowjetunion kommt, nimmt sie als noch viel beschissener wahr, und damit wirklichkeitsgemäß.