Es ist Heiligabend und Nakomi erzählt von dem Mädchen Angel in Haiti

Erzählung zum Thema Weihnachten

von  Saira

Nakomi erhob sich von ihrem Platz und entnahm von einer Feuerstelle einen Keramiktopf mit kochendem Wasser. Diesen trug sie vorsichtig in die Mitte des Kreises, neben das Lagerfeuer. Sie fügte getrocknetes Mariengras hinzu und sofort entwickelten sich starke Vanilledüfte. Nakomi kniete sich davor und begann, Gebete zu zelebrieren und den Dampf in alle vier Himmelsrichtungen zu pusten. Die Menschen im Kreis beobachteten andächtig das Ritual. Die alte Indianerin fiel in Trance und sang ein Klagelied, während sie ihren Kopf im Schneewind wiegte. Sie rief die Schutzgeister der Natur an, damit diese den Armen und Schutzlosen helfen sollten und sie bat um den Segen für die Erde.

 

Als Nakomi innehielt, wankte sie leicht. Dann füllte sie mit einem Muschellöffel zwei kleine Steinschalen mit der heißen Flüssigkeit, die wie eine Droge wirken konnte und reichte sie in den Kreis. Jeder trank einen Schluck davon, auch die Kinder. In größeren Mengen hätte dieses Getränk zum Rauschzustand geführt. Hier diente das Ritual zur inneren Reinigung.

 

Nakomi setzte sich wieder auf ihren Platz zurück, nahm im Schneidersitz eine gerade Haltung ein, blickte in den Kreis und legte einen Redestein vor sich auf den Boden. Die Indianer lauschten gespannt auf die Stimme der alten Frau, die einzig vom knisternden Lagerfeuer begleitet wurde:

 

„In dieser Nacht möchte ich mit euch allen gemeinsam für die vielen Menschen beten, die ein trauriges Weihnachten verbringen, weil sie hungern müssen, krank sind oder kein Zuhause, keine Familien haben. Es sind die Opfer von Kriegen, Gewalt und Naturkatastrophen. Ich bitte die Kraft unserer Natur, Manitu, uns vor großem Unglück zu beschützen und denen zu helfen, die täglich großes Leid erfahren müssen.

 

Ich werde euch jetzt von dem kleinen Mädchen Angel erzählen. Sie lebte im ärmsten Land der Karibik, in Haiti. Haiti liegt auf der Insel Hispaniola. Hispaniola gehört mit Kuba, Jamaika und Puerto Rico zu der Inselgruppe der Großen Antillen. Ein besonders schweres Erdbeben im *Januar dieses Jahres steigerte die Not der Haitianer ins Unermessliche. Es waren zehntausende Tote zu beklagen und über 1,3 Millionen Menschen verloren ihr Zuhause. Sie wurden obdachlos. Dann kamen im September schwere Regenfälle hinzu. Cholera brach aus. Täglich sterben Menschen an Unterernährung, mangelnder medizinischer Versorgung oder verdursten.

 

Angel hatte Träume gehabt. Sie wollte eines Tages mit ihrem Bruder und ihren Eltern Haiti verlassen und dahin gehen, wo die Menschen satt werden, wo es feste Häuser gibt und Schulen. Ihre Träume wurden mit den Hurrikans weggeschwemmt. Sie verlor ihre Familie in den Fluten und wurde sehr krank. Andere Opfer wollten sich ihrer annehmen, aber sie war zu schwach und im Herzen gebrochen, um für das Überleben kämpfen zu können.

 

Die Menschen in Angels Umgebung sitzen jetzt traurig da und nehmen Abschied von dem kleinen toten Mädchen. Ihre Augen zeigen Trauer und Leid. Sie wissen um Weihnachten, aber für sie gibt es nur das nackte Überleben, jeden Tag aufs Neue.“

 

Nakomi senkte den Kopf und alle Indianer sprachen gemeinsam ein Indianergebet an den Großen Geist:

„Oh Großer Geist, dessen Stimme ich höre im Wind, dessen Atem Leben gibt auf der ganzen Welt.
Höre mich; ich brauche deine Stärke und deine Weisheit.
Lass mich in Anmut gehen und lass meine Augen immer die Abendröte erblicken.
Lass meine Hände die Dinge respektieren, die du gemacht hast, und gebe mir ein gutes Gehör, um deine Stimme wahrzunehmen.
Gebe mir die Weisheit, damit ich die Dinge, die du mein Volk gelehrt hast, verstehen kann.
Hilf mir, angesichts dessen was auf mich zukommt, ruhig und stark zu bleiben.
Lass mich die Lektionen lernen, die du in jedem Blatt und Felsen versteckt hast.
Lass mich reine Gedanken finden und mit dem Vorhaben anderen zu helfen, handeln.
Helfe mir Mitgefühl zu empfinden, ohne das Empathie mich überwältigt.
Ich suche Stärke, nicht um größer zu sein als mein Bruder, aber um gegen meinen größten Feind zu kämpfen – mich selbst.
Lass mich stets bemüht sein, mit sauberen Händen und ehrlichen Augen zu dir zu kommen.
Dann, wenn das Leben schwindet, so wie die Abenddämmerung verblasst, möge mein Geist ohne Schande zu dir kommen.“ (Quelle: https://stjosefs.de/aktuelles/kultur/lakota-gebete/)

 


Kuckinniwi und Chumani blickten gedankenverloren zum leuchtenden Polarstern am Himmel.



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Kommentare zu diesem Text

Taina (39)
(15.12.22, 12:05)
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 Saira meinte dazu am 15.12.22 um 13:27:
Liebe Taina,

ich freue mich, dass du Chumani und Nakomi in meiner Weihnachtsgeschichte begleitet hast. Danke auch für deine Empfehlungen!

Herzliche Grüße
Sigrun

 EkkehartMittelberg (15.12.22, 12:24)
Liebe Sigi,
das Schicksal von Angel ist traurig, aber die Solidarität der Indianer erwärmt das Herz.
Herzliche Grüße
Ekki

 Saira antwortete darauf am 15.12.22 um 13:28:
Lieber Ekki,

es ist schön, dass meine Geschichte Herzen erwärmen kann.

Herzlichst
Sigi

 AchterZwerg (15.12.22, 16:22)
Welch ein schönes, respektvolles Gebet!
Es unterscheidet sich fundamental von den Gebeten der Christen ...
schließt nichts aus und sieht die Gottheit als einen Teil der lebendigen Natur.
Du ummantelst es mit einer anrührenden Geschichte, die gut in die Adventszeit passt. <3

Liebe Grüße
Heidrun

 Saira schrieb daraufhin am 15.12.22 um 17:06:
Liebe Heidrun,
 
ja, aus dem Gebet ist die tiefe Verbundenheit der Indianer zur Natur und ihrem Respekt allem Leben gegenüber zu erkennen.  
 
Ich danke dir für dein schönes Feedback!
 
<3 liche Grüße
Sigrun

 TassoTuwas (17.12.22, 10:48)
Liebe Sigrun,

die Karibik lockt mit Hochglanzbildern in den Reisebüros, blaues Wasser, weiße Strände, bunt gekleidete Menschen und mitreißende Musik!
Haiti, diesen vergessenen Fleck der allergrößten Armut und des Elends, laufen keine Schiffe an!
Dazu gibt es kaum Worte.

Herzliche Grüße
TT

 Saira äußerte darauf am 17.12.22 um 19:49:
Lieber Tasso,
 
es trifft immer wieder die Ärmsten der Armen. Haiti kann sich einfach nicht erholen. Die in den letzten Jahrzehnten zugenommenen Naturkatastrophen, die zu 97% abgeholzten Wälder, der fehlende Erosionsschutz, die Hungersnot, Wasserknappheit … Es ist beschämend, dass hierüber in den Medien – wenn überhaupt - nur am Rande berichtet wird.
 
Traurige Grüße
Sigrun
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