Ein kleiner arabischer Kater

Erzählung zum Thema Mensch und Tier

von  Saira

Es lebte einst eine wohlhabende Familie namens Khaled nördlich von Bagdad in Samarra, am linken Ufer des Tigris. Sie bewohnte ein zweistöckiges, wunderschönes Steinhaus. In dessen Innenhof befanden sich duftende Rosen- und Myrtensträucher, zwei Dattelpalmen sowie ein großer Feigenbaum. In der Mitte zauberte ein Springbrunnen Wasserspiele. Die Familie Khaled bestand aus Urgroßeltern, Großeltern, Eltern, Kindern und Enkelkindern.

 

Eines Tages saß ein kleiner roter Kater mit weißen Pfötchen auf dem Rand des Brunnens und beobachtete das Plätschern. Urgroßvater Ibrahim fand ihn als erster und näherte sich ihm mit freundlichen Worten. Der Kater sprang von der Mauer und stupste den alten Mann mit seinem Köpfchen am Bein. Im Islam gelten Katzen als saubere Tiere, im Gegensatz zu Hunden und Schweinen. Außerdem werden sie als hervorragende Mäusefänger und Freunde des Menschen geschätzt.  Da der Kater sich bei der Familie sehr wohl zu fühlen schien, wurde er von allen wie ein Familienmitglied aufgenommen. Man gab ihm den Namen Moussa. Zwischen dem herrschaftlichen Urgroßvater Ibrahim und dem Kater entwickelte sich eine besondere Zuneigung.

 

In den kühleren Abendstunden saß die Familie im Schneidersitz an einem niedrigen großen Tisch zusammen und aß von den leckersten orientalischen Speisen, die die Frauen zuvor in stundenlanger Arbeit zubereitet hatten. Moussas Platz befand sich neben Ibrahim. Der Kater benahm sich vornehm-zurückhaltend. Er wartete darauf, dass ihm sein Futter auf einem Teller serviert wurde, da er sonst nicht fraß. Bekam er dann seinen Teller, bediente er sich Stück für Stück von den Fleischhäppchen. Dazu nahm er jedes einzelne mit einer Kralle seiner rechten Pfote auf und steckte es in sein Mäulchen. Danach putzte er sich ausgiebig und ruhte auf dem Kissen neben Ibrahim.

 

Moussa war gerne unterwegs, aber wegen der extremen Tageshitze, die im Sommer auf über 50 Grad kletterte, lief er bevorzugt in den frühen Morgenstunden oder am späteren Abend spazieren. Die meisten Menschen, denen er begegnete, kannten den kleinen Kerl und begrüßten ihn freundlich, aber eines Tages besuchte er das erste Mal den Hinterhof des Schlachters Zubin. Moussa konnte nicht wissen, dass der Schlachter ein Sadist war, der Tiere hasste und als er Moussa sah, hieb er mit einem Fleischklopfer auf den Rücken des kleinen Kerls ein. Für eine Flucht war es zu spät.

 

Schwer verletzt und mit letzter Kraft konnte Moussa sein Zuhause erreichen. Ibrahim war außer sich vor Sorge um seinen Liebling und bastelte ihm einen Rückenstock, den er um den Leib des Katers fixierte, damit der gebrochene Rückenknochen heilen konnte. Tagsüber bettete er den kleinen Kerl im kühlsten Raum des Hauses. Das Haus besaß einen sogenannten Badgir-sirdab (Wind-Catcher). Das ist ein turmartiges Bauelement, das den nächtlichen Wind einfängt und ihn in eine unterirdische Kammer leitet. Von dort gelangt die kühle Luft in die Wohnräume. Nachts legte sich Ibrahim zusammen mit dem Kater auf das Dach des Hauses. Hier konnten beide die kühle Nachtluft genießen. Gebettet auf einer alten Matratze und auf Decken schliefen sie Seite an Seite. Nach drei Tagen fraß Moussa das erste Mal etwas Hühnchen aus Ibrahims Hand. Tag und Nacht verbrachten sie gemeinsam. Für Moussas kleinen und große Geschäfte trug Ibrahim ihn viermal am Tag vorsichtig zu einem Kasten, der mit Sand gefüllt war und stützte den kleinen Katerkörper solange, bis er sich erleichtert hatte. Nach sieben Tagen und Nächten stand der Kater vorsichtig auf und konnte zwei, drei Schritte machen.  Es war wie ein Wunder. Nach weiteren zehn Tagen unternahm Moussa die ersten kleinen Spaziergänge.

 

Drei Monate später starb Ibrahim an Herzversagen. Moussa trauerte sehr um seinen geliebten Menschen. Die Familie versuchte, ihn trotz ihrer eigenen Trauer, zu trösten. Doch Moussa fraß nicht mehr. Die Tage verbrachte er auf Ibrahims Bett und die Nächte auf dem Hausdach, wo er irgendwann friedlich einschlief.

 

 

 

©Sigrun Al-Badri




Anmerkung von Saira:

Nach einer wahren Begebenheit

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Kommentare zu diesem Text


 AchterZwerg (15.01.24, 16:19)
Das ist herzzerreißend, liebe Sigi!
Bei Tiergeschichten ist der Grat zum Kitschigen schmal - aber du umwanderst ihn aus meiner Sicht gekonnt, berichtest (sprachlich), eher sachlich, doch eindringlich. ---

Ich kenne solche wundervollen Häuser auch und denke gern an sie zurück. <3

Herzlichst
Heidrun

 Saira meinte dazu am 15.01.24 um 16:34:
Liebe Heidrun,

deine Gedanken und deine Wertung freuen mich so sehr! Du kannst die Bilder sehen und die Geschichte nachempfinden. Das ist für mich ein wunderschönes Feedback!

<3 liche Grüße
Sigi

Antwort geändert am 15.01.2024 um 16:47 Uhr

 Mondscheinsonate (15.01.24, 16:34)
Das ist wunderschön geschrieben, ich bin äußerst entzückt und gebe Zwergi Recht, was Kitsch angeht, das ist hier überhaupt nicht, einfach nur Zauber.

 Saira antwortete darauf am 15.01.24 um 16:49:
Mit meiner Erzählung verzaubern zu können, ist schön!

Danke und liebe Grüße
Sigrun

 Teo (15.01.24, 18:12)
Hi Sigi,
eine rührende Geschichte, in der Tat.
Lieben Gruß
Teo

 Saira schrieb daraufhin am 15.01.24 um 18:35:
Danke Teo, auch für deine *chen!

Liebe Grüße
Sigi

 GastIltis (15.01.24, 19:27)
Liebe Sigi, deine Geschichte ist so ehrlich traurig, dass ich mir Sorgen um meine Nachbarsfamilie mache. Brigitte, Bernd, Lotte und Uschi. Die beiden Erstgenannten haben einen eingetragenen Nachnamen, die letzten nicht. Lotte ist eine Hündin und Uschi eine Katze. Bekommen wir Grüße, dann von allen. Zum Essen sitzen sie alle am Tisch, Lotte wohl disziplinierter als Uschi. Lotte schläft bei Brigitte, Uschi ist über Nacht weg. Bernd schnarcht separat. Wehe, wenn einem etwas passiert. Außer vielleicht Bernd. Darüber mag ich nicht nachdenken.
Aber zum Glück sind die Eltern noch etwas jünger, wer weiß.
Liebe Grüße von Gil.

 Saira äußerte darauf am 16.01.24 um 09:14:
Da hast du ja eine ganz zauberhafte Familie neben dir wohnen. Kennst du niemanden, der für Lotte und Uschi die Patenschaft übernehmen würde? :)
 
Nun wollen wir mal hoffen, dass Brigitte und Bernd ein Testament „für alle Fälle“ beim Notar hinterlegt haben …
 
Lieber Gil, bitte grüße deine zwölfbeinige, illustre  Nachbarsfamilie unbekannterweise von mir!
 
Herzliche Grüße
Sigi

Antwort geändert am 16.01.2024 um 09:16 Uhr

 willemswelt (15.01.24, 21:55)
sehr berührend deine Geschichte,liebe Sigi-einen lieben Gruß,Willem

 Saira ergänzte dazu am 16.01.24 um 09:15:
Danke, lieber Willem, das freut mich.
 
Liebe Grüße
Sigi

 plotzn (16.01.24, 09:21)
So ein Schicksal geht unter die Haut! Toll geschrieben - berührend aber nicht rührselig...

Liebe Grüße
Stefan

 Saira meinte dazu am 16.01.24 um 09:27:
Lieber Stefan,

deine Gedanken zu meiner Erzählung freuen mich. Ich danke dir!

Liebe Grüße
Sigi
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