Der ungeliebte Freund

Anekdote zum Thema Erinnerung

von  Graeculus

Wir waren um 1968 herum eine Clique von Studenten, die täglich gemeinsam mit dem Zug von Düsseldorf nach Köln in die Uni fuhren, wo wir ähnliche, nämlich geisteswissenschaftliche Fächer studierten. Bald wurden wir Freunde und trafen uns auch privat.


Zu uns gehörte H., der etwas pummelig war und eine Nase wie Mike Krüger hatte. So erinnere ich ihn. Gutmütig war er, doch in einer Weise, die ihn für Mädchen nicht sonderlich attraktiv machte. Und er verliebte sich nun ausgerechnet in eine (künftige) Romanistin U., die von einer geradezu ätherischen Erscheinung war und mich an die Frauengestalten bei Edgar Allan Poe erinnerte, nicht ganz von dieser Welt. Gedichte schrieb sie und tanzte Ballett. Wie konnte H. sie beeindrucken? Es war rührend. Er begann, Gedichte zu schreiben und Tanzunterricht zu nehmen. Nicht Ballett zum Glück, denn das hätte ihn noch tragikomischer erscheinen lassen.


Der Erfolg war von der Art, wie ihn ein Weiser hätte erwarten können, auch wenn wahrlich niemand von uns ein Weiser war. Eines Tages sagte H. – zufällig erkältet und deshalb mit leiser, heiserer Stimme – zu mir: „Weißt du, Wolfgang, ich glaube, U. liebt dich.“ Selten in meinem Leben habe ich einen dermaßen tieftraurigen Satz gehört.


Mich? Das überraschte mich. Nun, sie schickte mir ihre Gedichte, die von einer unbestimmten Sehnsucht getragen waren, auch wenn sie nicht von Liebe sprachen. Aber ich hatte eine Freundin und nicht den Wunsch, daran etwas zu ändern.


H. jedenfalls hat sein Studium abgebrochen und ist weit weg nach Norden gezogen. Nie wieder habe ich etwas von ihm gehört. Hoffentlich hat er ein glücklicheres Glück gefunden.


U. aber hat sich bald darauf in einen anderen verliebt, einen – wie es schien – angehenden Starkünstler. In der Zeitung sah ich ein Photo von ihrer Hochzeit. Er strahlte in die Kamera, während sie, wie sie es oft tat, sanft und zurückhaltend lächelte. Mit noch recht jungen Jahren ist sie an Krebs gestorben.


Ich hoffe, das Gebot der Diskretion erhebt keinen Einspruch, wenn ich zu ihrem Gedächtnis eines ihrer Gedichte zitiere, das heute zu mir aus dem Nicht-mehr-Sein spricht:


Wir suchen,
suchen wie Verirrte im Wald,
aber wir finden nicht den Weg,
denn in unserem Dunkel gibt es keine Schatten.
Wir suchen die Antwort auf viele Fragen.
Fragen, die keine sind,
weil wir die Fragen sind,
weil fraglich ist,
ob wir sind ...
Doch wir nehmen es an,
und wollen dem Nichtsein vorgreifen,
wir suchen unser zukünftiges Sein,
und vergessen die Vergangenheit und Gegenwart,
die uns sein läßt,
wenn auch nur für Zeit, die für uns nicht meßbar ist,
weil wir ihr Ende suchen.


(U.D., 1969)


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Kommentare zu diesem Text


 EkkehartMittelberg (24.01.23, 16:40)
Hallo Graeculus,

ich bin berührt von dieser melancholisch-elegischen Anekdote, von denen es nicht viele gibt.
Hat sie aus deiner Sicht eine Pointe?

 Graeculus meinte dazu am 24.01.23 um 18:15:
Pointe? Vergeblichkeit und Vergänglichkeit. Zwei wichtige Elemente der condicio humana.

 EkkehartMittelberg antwortete darauf am 24.01.23 um 18:32:
Eine ganze Epoche gründete sich darauf, das Barock.

 Graeculus schrieb daraufhin am 24.01.23 um 18:41:
Das stimmt. Und ich lese das auch gerne.
Was mir - bildungsgeschichtlich später - aufgefallen ist: wieviel davon schon in der Antike, speziell in der Spätantike ausgedrückt worden ist. Kennst Du den spätantiken Dichter Palladas? Darf ich Dir einige seiner Gedichte, überliefert in der Anthologia Graeca, vorstellen? Einiges davon paßt auch zu Deinen Aphorismen über den Tod. Vom Lebensgefühl her erscheint es mir geradezu als ein Protobarock.

 EkkehartMittelberg äußerte darauf am 25.01.23 um 09:29:
Ich bin sehr gespannt auf diese Gedichte.

 Graeculus ergänzte dazu am 25.01.23 um 15:27:
Sehr gerne! Ich liebe diesen melancholischen Palladas.

Σιγῶν παρέρχου τὸν ταλαίπωρον βίον
αὐτὸν σιωπῇ τὸ χρόνον μιμούμενος.
λαθὼν δὲ καὶ βίωσον, εἰ δὲ μή, θανών.

Geh schweigend durch des Lebens Widerwärtigkeit
und mach‘s genau so, wie die Zeit es macht: schweig still!
Leb unbemerkt! Und geht das nicht, stirb unbemerkt!
[Anthologia Graeca XV 20]


Γῆς ἐπέβην γυμνὸς γυμνός θ‘ ὑπὸ γαῖαν ἄπειμι.
καὶ τί μάτην μοχθῶ γυμνὸν ὁρῶν τὸ τέλος;

Nackt einst kam ich zur Welt, und nackt einst fahr ich zur Grube:
Seh ich das Ende so nackt – soll ich umsonst mich bemühn?


Προσδοκίη θανάτου πολυώδυνός ἐστιν ἀνίη.
τοῦτο δὲ κερδαίνει θνητὸς ἀπολλύμενος.
μὴ τοίνυν κλαύσῃς τὸν ἀπερχόμενον βιότοιο.
οὐδὲν γὰρ θανάτου δεύτερόν ἐστι πάθος.

Die Erwartung des Todes ist ständige Qual und Betrübnis;
frei von dieser jedoch ist der gestorbene Mensch.
Drum beweine nicht den, der fort aus dem Leben gegangen:
nach dem Tode geschieht keinem ein weiteres Leid.
[Anthologia Graeca X 58 f.]


Wenn dich der Stolz überkommt, dann wird dich wohl eine Erinnerung
heilen, o Mensch: bedenk, wie dich dein Vater gezeugt.
Der phantasierende Platon gab Hochmut ins Herz dir, er hat dich
einen Unsterblichen und „himmlische Pflanze“ [φυτὸν οὐράνιον] genannt.
„Dich, einen Kloß nur aus Lehm, ergreifet der Dünkel?“ so könnte
einer mit blendendem Schein schön es verhüllend gestehn.
Willst du die Wahrheit jedoch, dann merk dir, dein Dasein verdankst
du
nur einem geilen Gelüst und einem schmutzigen Saft.
[εἰ δὲ λόγον ζητεῖς τὸν ἀληθινόν, ἐξ ἀκολάστου
λαγνείας γέγονας καὶ μιαρᾶς ῥανίδος.]
[Anthologia Graeca X 45]


Nach der Zerstörung des Serapeums in Alexandria durch die Christen schrieb der trauernde Heide Palladas:

Ἄρα μὴ θανόντες τῷ δοκεῖν ζῶμεν μόνον,
Ἕλληνες ἄνδρες, συμφορᾷ πεπτωκότες,
ὄνειρον εἰκάζοντες εἶναι τὸν βίον;
ἢ ζῶμεν ἡμεῖς τοῦ βίου τεθνηκότος;

Sind wir nicht tot und bilden uns nur ein zu leben,
wir Griechen, die wir tief ins Unglück sanken, und
im Traume bloß das Leben sahen? Oder leben
wir selber zwar - indes das Leben unterging?
[Anthologia Graeca X 82]


Das Leben ein Traum - der Traum ein Leben, hier steht es schon.

 Graeculus meinte dazu am 25.01.23 um 15:33:
Kannst Du damit etwas anfangen?

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 25.01.23 um 19:44:
Gratias, Graeculus, ich kannte Palladas als Vorboten des Barock nicht. Freilich ist das Barock dichotomisch, indem der irdischen Vergänglichkeit das ewige Leben in Gott gegenübergestellt wird.

 Graeculus meinte dazu am 25.01.23 um 23:10:
Das ist zutreffend, lieber Ekkehart - diese Antithese kommt bei Palladas nicht vor. Das heißt nicht, daß sie in der Antike nicht vorkäme, aber dann müßte man sich eher an Platon bzw., was die Spätantike angeht, an den Neuplatonismus halten.

Der Begriff "Protobarock" stammt übrigens von mir und ist nur ein spontan entstandener Eindruck. Ein Verdacht, sozusagen, und ich wollte wissen, ob er Dir einleuchtet.

 Graeculus meinte dazu am 26.01.23 um 18:11:
Ich überlege gerade, ob man nicht die Epoche des Hellenismus als den Barock der Antike ansehen könnte.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 26.01.23 um 21:15:
Aus meiner Sicht fehlt das zweite Standbein, das religiöse.

 Graeculus meinte dazu am 26.01.23 um 22:06:
Wir kommen um diesen Unterschied, die Transzendenz, nicht herum.
Danke für Deine Gedanken.
Taina (39)
(24.01.23, 18:07)
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 Graeculus meinte dazu am 24.01.23 um 18:14:
Er leider nicht. Und wenn das in Liebe aufeinandertrifft ...

 Tula (25.01.23, 00:29)
Hallo Graeculus
Eine lebensnahe Geschichte, alltäglich und tragisch zugleich, die Realität der Liebe ist nicht unbedingt poetisch, d.h. nicht für alle. Ein Jüngling liebt ein Mädchen, doch die ...

Wenn es schon ein Literat sein muss (weil ein Rock-Star o.ä. nicht zur Verfügung bzw. Vergnügung steht), mögen die Damen wohl ohnehin eher den Bestseller-Autoren als einen verkrachten Poeten  :ermm:

Ich hätte H. und U. in der kurzen Erzählung dennoch einen Namen verpasst, den richtigen oder einen erfundenen, das müsste der Leser nicht unbedingt erfahren.

LG
Tula

 Graeculus meinte dazu am 25.01.23 um 15:33:
Ja, der Geschmack der Damen ... aber ist der der Männer besser? Versager gelten allseits als unattraktiv.

Den Beteiligten fiktive Namen zu geben (wie Journalisten es oft tun), hätte ich in meiner Erinnerung an sie nicht als passend empfunden. Klarnamen hingegen wären mir zu indiskret erschienen, auch wenn die Wahrscheinlichkeit, daß Beteiligte oder deren Hinterbliebene das hier lesen, sehr gering ist.
Schon der Name, der sich hinter dem Initial H. verbirgt, ist altmodisch und war es damals bereits.
Schimmel (60)
(02.02.23, 00:02)
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 Graeculus meinte dazu am 02.02.23 um 00:08:
Der Äther ist in seiner ursprünglichen Bedeutung die Himmelsluft. Gemeint ist daher etwas wie: mehr Geist als Körper.
Die Frauengestalten bei Edgar Allan Poe hatte ich ja noch als Bezug angegeben.

 TrekanBelluvitsh (14.02.23, 03:44)
Das Leben steckt voller Entscheidungen. Die meisten sind schlecht.

 Graeculus meinte dazu am 14.02.23 um 17:40:
Mehr als 50 %. Deshalb sollte man überlegen, ob man sich nicht besser immer für das Gegenteil von dem entscheiden sollte, wofür man sich entscheidet.
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