Ungeboren

Groteske zum Thema Leben/Tod

von  LotharAtzert

‚Sophokles war damals 80 Jahre alt und hatte in seinem Leben alles erreicht, was er erreichen konnte. Und dennoch schrieb er das: "Nicht geboren zu werden, das besiegt alle Vernunft. Bist du es aber, so ist das Zweitbeste, möglichst schnell dorthin zurückzukehren, von wo du gekommen bist."‘

Soweit Graeculus

 

Gänzlich vierdimensional lehrte Wolfgang Döbereiner. Nach ihm und der Münchner Rhythmenlehre wird schon lange kaum noch einer als Mensch geboren. Ein körperliches Erscheinen ist ja an sich noch nicht besonders menschlich, nicht mehr als das Ei zum Schmetterling: erst muß es Raupe werden und dann, wenn es sich zu seinem Schicksal bekennt, zum vollkommenen Schmetterling – viel-leicht. Wenn aber die Raupe statt Schmetterling werden zu wollen, lieber zurück in den Ei-Zustand will, wird sie irgendwowann nach dem Tod … unwissend … als Raupe aus dem Ei kriechen, um erneut Schmetterling zu werden. Ich bitte darum, dieses als Gleichnis zu erkennen, nicht bloß zu lesen.

Die Weigerung, das werden zu wollen, was der Himmel für Menschen im Einzelnen bestimmt hat, damit es also Schick-Sal werde, der ver-ursacht sich diese kleinen fehlerhaften Kreise, wie, … ja mir fallen heut schlimme Bilder dazu ein, wie die Amöbe, deren „Forscherdrang“ es ist, ob sie die Reise im Tropfen rechts herum, oder links rum machen soll. Der Mensch, und da nähere ich mich mal der Flugbahn Nietzsches, soll in die übermenschliche Verwandlungsphase aufsteigen, oder untergehen.

Vom Wort her ist das, was über mir ist, übermenschlich, vorausgesetzt, ich bin als Mensch unter Menschen. Kein Mensch ist Übermensch, der nicht über sich selbst hinauswächst. Damit inspiriert der Philosoph natürlich auch die nach Macht Strebenden zur Ideologie der Unterwerfung.

 

Sophokles … was ist jetzt unter „hatte in seinem Leben alles erreicht“ zu verstehen? Alles, was wer entscheidet, daß es all-es sei? Da ist die Frage erlaubt, ob nicht „alles“ ein bißchen arg hochgegriffen ist und sich auch etwas übergriffig verhält, im Sinne von: „Ich weiß das alles und du von allem nur einiges!“.

 



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Kommentare zu diesem Text


 Graeculus (10.05.23, 16:21)
Alles, was wer entscheidet, daß es alles sei?

Er selber, Sophokles, nach seinen Maßstäben als Polis-Bürger: als erfolgreicher Politiker, als tapferer Hoplit, als gefeierter Dichter. Und seine beiden Söhne sind in seine Fußstapfen getreten.

Wer wollte so anmaßend sein, ihm seine Maßstäbe zu bestreiten? Du? Döbereiner?

 LotharAtzert meinte dazu am 10.05.23 um 16:55:
Alles erreichen ist ein Widersruch in sich. Oder Überdruß.
Ich maße mir konkret was an?

 Graeculus antwortete darauf am 10.05.23 um 17:01:
Nicht "alles erreicht", sondern "alles erreicht, was er konnte" (so das Zitat).

Wo habe ich behauptet, daß du dir etwas anmaßt? Ich habe nur gefragt, ob du oder Döbereiner euch etwas anmaßen wollt.

Sophokles hätte zufrieden sein können mit seinem Leben. Aber wie er es schrieb, wäre es ihm besser gewesen, nicht geboren zu sein. Meine Frage (!) lautet: warum?

 LotharAtzert schrieb daraufhin am 10.05.23 um 17:09:
Das Gleichnis von Ei, Raupe und Schmetterling läßt dich unberührt, weil ...?

Antwort geändert am 10.05.2023 um 17:09 Uhr

 Graeculus äußerte darauf am 10.05.23 um 17:17:
... weil es keine Antwort ist auf die Frage, auf die du mit deinem Graeculus-Zitat anspielst. Mit einem solchen Zitat sprichst du mich natürlich an.

Hättest du mich vollständiger zitiert, also inkl. der Diogenes-Anekdote, könnten wir über eine andere Frage sprechen: Warum hielt er die zahlreichen ihn umstehenden Menschen nicht für Menschen? Dann könnte man überlegen, ob er etwas Ähnliches meinte wie Döbereiner. D.h. gibt es Menschen und wahre Menschen? Und woran wäre das zu messen? Und wer mißt?

 LotharAtzert ergänzte dazu am 10.05.23 um 17:32:
Bist du es aber, so ist das Zweitbeste, möglichst schnell dorthin zurückzukehren, von wo du gekommen bist.
Das ist eine subjektive Ansicht. Sobald ich geboren bin, habe ich mein Schicksal anzunehmen, weil es so bestimmt ist. Es ist (mir, wie jedem anderen) bestimmt, die Gefahren, die widerfahren in Erfahrung zu wandeln. Nicht zu meinem persönlichen Nutzen, sondern für all diejenigen, denen es auf welche Weise auch immer ... nutzt.

 Graeculus meinte dazu am 10.05.23 um 17:38:
Da steht dann subjektive Ansicht gegen subjektive Ansicht. Wobei ich annehme, daß die des Sophokles für Sophokles maßgeblich ist. Für Gründe bzw. Argumente wäre er - lebte er noch - vielleicht offen, aber mit dem Begründen hast ja wiederum du es nicht.

 LotharAtzert meinte dazu am 10.05.23 um 17:46:
Nee, mit den vier Gründen oder Quadranten hab ich nix am blauen Eisenhut.

Es geht mir um nichts anderes, als daß drei von vier Gründen zerstört sind und deshalb eine Geburt nicht mehr ohne weiteres möglich ist. Man kennt bloß noch die Erscheinung und stürzt sich auf sie. Das ist kein Leben.

 Graeculus meinte dazu am 10.05.23 um 17:57:
Ich meinte die Begründung einer Aussage bzw. Ansicht, und sei es einer Aussage über die vier scholastischen causae. Der Grund einer Sache ist nicht dasselbe wie der Grund einer Aussage über den Grund/die Gründe einer Sache - was man halt Begründung (einer Aussage) nennt.

Sophokles, immerhin ein älterer Zeitgenosse des Sokrates, war für dieses "Gib mir eine Begründung!" vermutlich offen. Diese Offenheit finde ich bei dir halt nicht.
Und da Sophokles bedauerlicherweise tot ist, wird das mit der Diskussion ohnehin schwierig. Ich kann also nur vermuten, warum er - im Rahmen des Griechischen Pessimismus - dem Chor in seinem letzten Drama "Ödipus auf Kolonos" diese Worte über das Leben in den Mund gelegt hat.
"Nicht geboren zu werden, das besiegt alle Vernunft (hapánta nikâ lógon)", das ist ein Hammer. Und wie gesagt, das war ein im antiken Griechenland häufig zitiertes Wort.

 Graeculus meinte dazu am 10.05.23 um 18:00:
Beispiel:
- "Du bist an Pest erkrankt, weil du gesündigt hast." Das gibt den Grund einer Sache (Erkrankung) an.
- "Wie kommst du darauf, daß es da einen kausalen Zusammenhangt gibt?" Das fragt nach der Begründung einer Aussage über den Grund einer Sache.

 LotharAtzert meinte dazu am 10.05.23 um 21:08:
Du willst eine Begründung?
Nicht geboren zu werden, das besiegt alle Vernunft
Um vernünftig zu werden, (Causa efficiens, der bewirkende Grund) musst du geboren sein. Ohne Vernunft, die durch Anpassung an jeweilige Bedingungen entsteht, kann dieselbe nicht besiegt werden. (Dh. auch ich kann nur dann der Pest entkommen, wenn ich sie habe, unabhängig von Sünde oder Nichtsünde).

Erwarte von mir nicht mehr Respekt vor Sophokles, als du  vor Döbereiner an den Tag legst.

 Graeculus meinte dazu am 10.05.23 um 23:21:
Wenn du dich für meine Döbereiner-Mißachtung an dem armen Sophokles rächen möchtest, dann tu das. Auge um Auge, Zahn um Zahn, Mißachtung um Mißachtung.

Ja, mich interessiert es, wie Sophokles & Co. auf ihren Pessimismus gekommen sind - habe ja auch ein Buch darüber geschrieben.
Selbstverständlich muß man geboren sein, um seine Vernunft entwickeln zu können. Wie tragisch, wenn die Vernunft dann feststellt, daß es sie besser nicht gäbe. Es geht bei Sophokles ja auch um eine Tragödie, in der jemand (Ödipus) feststellen muß, daß er ohne jegliche Schuld die beiden entsetzlichsten aller Verbrechen begangen hat.
Vielleicht steht es so, daß die Vernunft erkennen muß: man kann nicht leben und anständig bleiben.
Ein bißchen in die Nähe des Buddhismus gerückt: man kann nicht leben ohne zu töten. Also wäre es besser, nicht zu leben. Und je früher man zurückkehrt in den Zustand wie vor der Geburt, desto weniger tötet man.
Ist nur eine Überlegung.

 LotharAtzert meinte dazu am 11.05.23 um 09:40:
Auge um Auge, Zahn um Zahn - damit ist Saturn-Pluto (der "Moses-Aspekt") hinlänglich beschrieben. Zwar hat man mich nicht im Körbchen im Sumpf ausgesetzt, aber geistig irgendwie schon ...

Wie tragisch, wenn die Vernunft dann feststellt, daß es sie besser nicht gäbe
Was soll daran tragisch sein, wenn nicht die Weigerung, die nächste Stufe in der Entwicklung erreichen zu wollen, nämlich das Bewußtsein. Vernünftig ist die Jungfrau, sie ist zugleich das letzte Zeichen der untere Hälfte, die obere beginnt mit der Waage, die für Begegnung und Bewußtsein steht.Gegenüber der Jungfrau ist das, was ihr am fernsten ist: das Unbestimmte, Unbewußte der Fische.
Ein bißchen in die Nähe des Buddhismus gerückt: man kann nicht leben ohne zu töten. Also wäre es besser, nicht zu leben. Und je früher man zurückkehrt in den Zustand wie vor der Geburt, desto weniger tötet man.
Ist nur eine Überlegung.
Eine extreme Überlegung. Der Buddhismus, so habe ichs gelernt, vermeidet Extreme. Es geht ja nicht um Quantität der Tötungen von Leben, sondern um die bewußte Haltung, die von Mitgefühl begleitet werden sollte, ein Mitgefühl mit jedwedem Leben. Das alles findet beim Pessimisten nicht statt, wenn er nicht geboren werden will. Berührt der Gedanke nicht auch die biblische Schuldfrage? Und auch überbordender Optimismus wäre ein zu verwerfendes Extrem.
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