Eisessig

I.

Schon die alten Ägypter und Babylonier kannten sich aus mit der Essigherstellung.
Essigsäure, CH3COOH
Sie ließen Wein oder Bier an warmen Tagen in offenen Gefäßen stehen.
Essigessenz, Eisessig
Zutaten bei der Essigherstellung sind heute Alkohol, Sauerstoff und Essigsäurebakterien, die fast überall vorhanden sind.
Weinessig, Brandweinessig, Apfelessig, Balsamico, Estragonessig


II.

Es wurde wieder Zeit, dass jemand nach E. fuhr. Die Essigvorräte in Berlin neigten sich dem Ende zu. Aber, es gibt ja A., der sich als Ziel gesetzt hatte, die Welt mit Essig zu retten. So wie einst der arme Bettler mit Salz zum Edelmann wurde. 
Nur eines vergaß der alte Mann: Essig ist nicht beständig. 
Die Freude ist immer wieder groß, eine von diesen korkverschimmelten kleinen Flaschen geschenkt zu bekommen. Glaubt er wenigstens. Die Flüssigkeit sieht so trübe und so angeschmuddelt aus, dass man es niemals wagen würde, das Gefäß zu öffnen. Sollte doch jemals einer es wagen, kann keine Garantie übernommen werden. 
Ein kleiner Junge in Berlin hat eigens dafür einen Aufkleber entwickelt, darauf geschrieben steht: 
"Bitte erst öffnen am Tag des Untergangs"


III.

Als ich meinen alten Vater vor einigen Jahren in E. besuchte, erlebte ich folgende Szene in seiner Küche. Von weit her angereist war ich schon längere Zeit in seiner Wohnung und allmählich knurrte mir der Magen. Der Alte kam damals, als ich gerade in der Küche stand, aus seiner Speisekammer heraus, hielt in seinen Händen eine gelbe Packung Bahlsen-Kekse und meinte zufrieden:
"Diese Sorte kaufe ich immer wieder gerne!"
Sprach's und brachte sie wieder zurück an ihren Platz. Mein Magen knurrte nach wie vor. Grummel grummel...
Der alte Mann hörte es nicht und sagte:
"Ich geh' mal kurz in den Keller, was holen...."
und nach weiteren zehn Minuten war er wieder oben bei mir.
An seinem Arm baumelte nun eine Plastiktüte und er sprach zu mir:
"Ich habe hier noch einige Sachen zusammengestellt, die du vielleicht noch gebrauchen kannst. Und es wäre doch schade, sie wegzuwerfen..."
Ich war es nicht gewöhnt, viel von ihm geschenkt zu bekommen, so entwickelte sich bei mir eine verhaltene Vorfreude.
Er öffnete geschäftig die Tüte und zeigte mir einen gusseisernen, grünlichschwarz verrosteten Fleischwolf.
"Das wär' doch was für deine Weihnachtsbäckerei."
und er versäumte auch nicht, zu bemerken, dass es sich hierbei um den "kleinen" Fleischwolf handele.
"Der große, der ist doch nichts für dich."
Vermutlich hatte ihn schon längst mein kleiner Bruder bekommen.
Er lächelte jetzt stolz und verständnisvoll und dann brachte er endlich eine alte Flasche zu Tage. 
"Ich fand unten übrigens noch den alten Essig, kannst du vielleicht auch gebrauchen, du isst doch immer so gern Salat."
An dieser Stelle muss ich anmerken, dass ich zur Magersucht tendiere, seit meine Eltern mich als Teenager immer "Dickmamsell" nannten, quappenfett.und meine Beine polnische Kartoffelstampfer. Ich hatte als Kind immer Hunger und bekam nicht viel zu essen damals. Heute habe ich nur noch selten Appetit. Nun bekomme ich den Essig nur noch in Flaschen und als Metapher, die Zeiten der sauren Bemerkungen sind ausgestanden. Und wenn ich mir manchmal meine alten Fotos ansehe, kann ich auch nichts Fettes erkennen.
Die Geschichte mit dem Essig ereignete sich übrigens zu einer Zeit, da ich allmählich begann, die tiefere Bedeutung von Metaphern schätzen zu lernen...


IV.

Nachtrag: 
Stilvoll für den alten Mann wäre es auch gewesen - und er legt Wert auf Stil und Etikette - er hätte mir Ameisensäure anstelle von Essig angeboten, HCOOH statt CH3COOH. Ameisensäure ist kleiner als Essigsäure, sie verhält sich in der Anzahl der C-Atome so wie Ethanol zu Methanol...

aus: "Meine Moleküle"