die unvergessene zeit

Prosagedicht

von  Redux



denke ich an meine ersten jahre zurück

damals im tiefsten münsterland

denke ich an jahre voller glück

und jahre an mühseligkeit und einsamkeit zurück

es sind immer diese erinnerungen

die man in sich trägt und formulieren möchte

obwohl es kaum von interesse ist

es ist alles schon verschnürt

in dem großen paket

das richtung ozean vergessenheit verschickt wurde

schon so viele liegen unter der erde

nur meine mama und einige andere sind noch da

die da sagen könnten: ja so war es

aber auch sie sind schon selbst etwas vergessenes

so wie man selbst

unsere erinnerungen sind wie kleinste stöpsel

die auf dem meer der vergessenheit

auf- und abwippern und sie werden immer wieder

unsere geschichten schmücken

als sei jede sequenz der nabel der wahrheit

und die geschichte wird zu etwas anderem

als sie tatsächlich jemals war

vielleicht ahnte ich zumindest

wie das mit dem vergessen geschieht

na klar am ende wird nichts bleiben

als ein leeres expandierendes universum

und unsere geschichten und blumen

unsere augenblicke und organe

unsere sonntagnachmittage und abende

draußen im sommer unser größtes glück

und der jammer vieler tage unsere ersten schritte

und abende an den gräbern werden

nur noch sternenstaub sein der durch

leere unendlich leere räume verfliegt

bis ein staubkorn lichtjahre vom anderen staubkorn

entfernt grüßt – aber vielleicht war da ein ahnen

denn schon mit fünfzehn begann ich

ein tagebuch zu führen das am 18.8.1979

das licht der erinnerung erblickte und der

verrückte pubertierende wollte von nun an

und ewig jeden tag seines lebens dokumentieren

natürlich ahnte ich das so etwas fehlschlagen musste

aber weit über tausend tage später am 16.7.1982

riss der tägliche bericht ab…

viele viele abende saß ich in der küche meiner kindheit

die es nicht mehr gibt und füllte immer eine seite

es war eine zwangsjacke die ich mir schnürte

und dennoch riss ich dem großen ganzen

dem riesenvogel wirklichkeit ein paar wenige

federchen aus sie liegen noch zwischen den seiten

und kein sturm kann sie in die weite welt befördern

auch wenn die schrift aus blauer tinte verblasst

und manche seiten sich aus dem einband lösen

bleibt zu lesen ich hasse die welt oder ich bin so verliebt

oder heute gab es mal wieder pfannkuchen oder

mecki ist vielleicht doof drauf heute oder papa

hat mal wieder eine leere flasche schnaps

hinter der futterkiste im stall versteckt oder heute

bin ich beim rauchen hinter der turnhalle erwischt worden

oder ich habe jetzt die gute erde von pearl s. Buck

zu ende gelesen oder oma hat sich schon wieder

in die hose gemacht sie bekommt jetzt pampers

oder heute morgen am ersten februar

schaute ich auf ein glutrotes morgenrot

das ist doch etwas in einem leeren universum



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Kommentare zu diesem Text


 Mondscheinsonate (07.09.23, 18:32)
Ich liebe deine Texte überalles.

 Redux meinte dazu am 07.09.23 um 18:43:
Das freut mich sehr. Wirklich...

 Mondscheinsonate antwortete darauf am 07.09.23 um 18:44:
Ich tauch da immer ein, dieser Hauch Nostalgie bezaubert mich wie ein verschneiter Wald.

 Redux schrieb daraufhin am 07.09.23 um 18:47:
Es war sowas von süßsauer.
Danke....für die Worte

 Janna (08.09.23, 06:05)
Der Text zieht einen rein, man kann nicht mehr aufhören zu lesen. Spannend und ein wenig traurig machend, weil vieles so nachvollziehbar ist. 

Lieben Gruß

Janna

 Redux äußerte darauf am 08.09.23 um 08:05:
Das freut mich , Janna, und genau so sollte er sein: süßsauer....

 AchterZwerg (08.09.23, 06:45)
Lieber Redux,

wie gern hielte man über vielen Gegebenheiten den Stöpsel geschlossen. Aber gerade die unangenehmen, zuweilen schuldbehafteten drängen ans Licht.
Ein Tagebuch kann helfen, die Banalität des Alltäglichen zu erkennen; der Schritt zum eigenen "te absolvo" ist dann nicht mehr allzu groß.

Herzlichst
der8.

 Redux ergänzte dazu am 08.09.23 um 08:06:
Dein Schlußsatz passt wie ...du weißt...Faust aufs Auge...oder ähnlich.
Danke, lieber achter
Agnete (66)
(08.09.23, 13:34)
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 eiskimo (08.09.23, 13:37)
Klasse!
Teolein (70)
(08.09.23, 16:33)
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