Blatt 17
Vilma an Gertrud
Liebe Gertrud, Glück im Unglück – Du bist noch in Himmelstein und wir sind in Verbindung. Schrecklich, was Du von Siegfried schreibst, auf den Du zuerst so böse warst, weil Du ihn für die Fehlgeburt verantwortlich machtest, und in den Du Dich dann verliebt hast. Leider habe auch ich mich von Ivar nicht verabschiedet, sondern er sich von mir, indem er, statt zu flüchten, wie ich ihm riet, eine Forderung von Moritz annahm. Es war sehr unvernünftig von ihm, aber plötzlich hatte ihn die Idee von der Mannesehre ergriffen, die er verlöre, wenn er dem Duell auswiche – er, ein Künstler ohne jede Waffenerfahrung, gegen einen Waffennarren wie Moritz, der zu Haus ganze Schränke voller Schießeisen hat … Meine Wut über Ivars Unvernunft deckt auch heute noch die Trauer um ihn zu. Aber manchmal wache ich nachts auf und weine, und dann tröstet es mich nur, wenn ich das Lied vom Herr Aage singe: „Herr Aage ist ein Reitersmann,/ der sitzt auf seinem Pferde,/ wie es kein anderer Reiter kann/ auf dieser dänischen Erde …“ Was hat er nun von seiner bewahrten männlichen und dänischen Ehre, wo er die Graswurzeln von unten beguckt? Anlass war nicht etwa Eifersucht (dann hätte Ivar Moritz herausfordern müssen, denn der hat mir mehrmals Küsse aufgenötigt, um die ich ihn nicht gebeten hatte, ich gehörte ja zum Personal und musste es hinnehmen), nein, es ging um den dänischen Wimpel, den Ivar am 11. August, dem Verfassungstag, unter die neue Reichsflagge gehängt hatte, was Moritz mit schäumender Wut erfüllte, er kletterte am Fahnenmast empor und riss Wimpel und Flagge herunter: Nordschleswig sei uraltes deutsches Gebiet und sei dem Reich mit unlauteren Mitteln und gefälschten Abstimmungen von Dänemark entrissen worden wie das Elsass von Frankreich und Teile Oberschlesiens von Polen. Da hat Ivar ihn Lügner genannt, und so war es nicht mehr aufzuhalten. Ich habe mich geweigert, diesem Männerirrsinn beizuwohnen, und der Ausgang war eben genau der, den ich vorausgesagt hatte, der Arzt hat Suizid diagnostiziert und Ivar ist nach Skagen überführt worden, wo er besser geblieben wäre und weiter gemalt hätte. Ach, wenn ich daran denke, wie er Ida den Hof machte und ihr von der Hand aufwärts immer kühnere Küsse aufdrückte! Wir spielten auf einer kleinen Bühne im Saal einen Stummfilm nach, den ich mit Ludwig einmal im Marmorhaus gesehen hatte, „Die vertauschte Braut“, auch da werben zwei Brüder um die eine Schöne, gar nicht so viel anders als bei Dantes Francesca da Rimini, ja, ich kannte Ludwig schon vorher und war nach Ivars Tod glücklich, auf ihn zurückgreifen zu können. Und dennoch muss ich auch jetzt wieder das Lied vom Herrn Aage anstimmen … Sind wir Mädels nicht alle Schön-Rohtrauds und warten auf einen Ritter, der vorbeikommt und uns mitnimmt? Ich werde sentimental, verzeih mir, Du schwer geprüfte! Es umarmt Dich Deine Vilma
(wird fortgesetzt)