Zum alten und neuen Jahr

Text

von  Bergmann

Das Jahr 2023 war nicht leicht, für viele war es bedrückend. Mir kommt es so vor, als seien die Jahre des Kalten Kriegs zurückgekehrt. Während aber damals noch wirtschaftlicher Aufstieg und soziale Marktwirtschaft und demokratische Erstarkung für Hoffnung, Kontinuität und innere Einheit sorgten, wenn auch nie genügend, so sehe ich heute unser Land politisch zerstritten und in Subjektivismen sich verlierend. Die Weltlage ändert sich passend zum Klimawandel ...

 

Mein persönliches Leben ist von allen diesen Entwicklungen dennoch nur wenig beeinflusst, mal abgesehen von Stimmungen dann und wann. Allerdings, da ich ja nun immer älter werde und mir immer bewusster wird, dass meine Lebenszeit deutlich begrenzt ist, bemerke ich im Unterschied zu früheren Lebensphasen, dass Gefühle wie Sicherheit und Lebensfreude mir nicht mehr so selbstverständlich sind wie damals. Zwar hat sich nichts geändert an meiner Daseinsfreude und Begeisterung für vieles Neue (nicht für alles), besonders in der Literatur, Musik und Kunst, oder Freude am Reisen und Autofahren, an Aufenthalten in Cafés und Restaurants, am Zusammensein mit Freunden und Verwandten, - und doch hat sich lebensphilosophisch einiges sehr geändert. Meine innere Leichtigkeit ist getrübt von der Erkenntnis, dass die Narrative unseres Lebens oft schmerzlich divergieren, dass es sogar im realen Leben immer schwieriger wird, einst feststehende Wahrheiten zu glauben. Damit meine ich nicht Gott, daran konnte ich schon als Jugendlicher nicht mehr glauben. Daran leide ich aber nicht. Jon Fosse schreibt in seinem Roman Ich ist ein anderer (Heptalogie III-V), dass „das Sinnlose an sich einem eine Art Frieden gibt“, bezogen auf unerklärliche Schicksalsschläge. (Für meinen Enkel Felix: Auch das Feintuning-Problem verstört mich nicht, wie auch der Beweis der Stringtheorie mir keine Erlösung bringen kann.)

Mich betrübt, wie so viele heute, der Verlust meines jahrzehntelang sicheren Lebensgefühls. Um es konkret zu sagen: Mir macht der neue Hitler in Moskau Angst. Auch der Führer Chinas, Ungarns, der Türkei ... Und, mit Blick auf Parteienzersplitterung mit egoistischen Ideologieverhaftungen, die langsam wachsende Gefahr einer Wiederkehr Weimarer Verhältnisse in Deutschland. Und den Kapitalismus, der uns heute umgibt, der uns mit einer schrecklichen Unterhaltungsindustrie einlullt und viele sogar süchtig macht, der viele gesundheitsgefährdend stresst und verarmen lässt, kann ich nicht mehr so leicht wegstecken wie früher. Mich hat die Lektüre des Romans INFINITE JEST von David Foster Wallace aufgerüttelt, aber auch das, was ich selbst sehe. 

 

Diesmal kein Rückblick auf Reisen und Kulturerlebnisse. Da gleicht ein Jahr dem anderen. Wichtig ist mir, dass ich mich gut aufgehoben fühle mit Karin, meiner Frau, mit der ich seit 18 Jahren glücklich zusammenlebe; und auch in meiner Familie und mit meinen Freunden, früher im Beruf und jetzt noch in meinen Tätigkeiten, also in der Redaktion der Literaturzeitschrift Dichtungsring und in der Literaturwerkstatt Neuwied, die ich seit über 10 Jahren leite.

 

Ich wünsche allen eine schöne Weihnachtszeit und ein gutes neues Jahr!



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Kommentare zu diesem Text


 Terminator (27.12.23, 23:18)
Um es konkret zu sagen: Mir macht der neue Hitler in Moskau Angst.
Die EU hat 2014-2022 Verhandlungen mit Putin ins Leere laufen lassen, das war mehr Zeit als von Hitlers Machtergreifung bis zu seinem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen Polen. Die USA waren zufrieden, weil sie von beschädigten Beziehungen der EU zu Russland profitierten, und jetzt vom Krieg noch mehr. Der Krieg könnte sich noch bis nach Deutschland ausweiten, in die USA kommt er nicht.


Nicht vor Putin (der zweifellos ein Schurke ist) solltest du Angst haben, sondern vor der Inkompetenz der EU-Politiker. Der Feind ist nicht schuld, er ist ja der Feind, er kämpft gegen den "Westen", die dummen und unfähigen Politiker hier sind schuld, dass Europas Untergang naht. Zu dekadent zum Kämpfen, zu dumm, um Frieden zu erhalten, das ist Europa heute.

 Verlo meinte dazu am 27.12.23 um 23:45:
Danke, Terminator.

 Bergmann antwortete darauf am 28.12.23 um 14:15:
Ich gehe davon aus, dass Terminators Kritik nicht als Freibrief für den Überfall-Krieg gegen eine ehemalige SSR gemeint ist. 
Die amerikanischen Motive sehe ich wesentlich komplexer.
Die EU-Politiker sind nicht dumm. Die Uneinigkeit in der EU gründet auf verschiedener Geschichts- und Demokratieerfahrung und auf verständlichen Interessengegensätzen.

 Terminator schrieb daraufhin am 28.12.23 um 23:03:
Aus (Demokratie-)Erfahrung kann ich nicht sprechen, ich bin nur halb so alt, aber ich habe einen interessanten Videoessay gefunden, den man auf Deutsch vielleicht betiteln könnte: " Wenn Verschwörungstheoretiker Politiker beraten". Ich gehe davon aus, dass die Benennung Putins als "Hitler" nicht als Freibrief für die Verharmlosung der Taten Hitlers gemeint ist.

Die amerikanischen Motive sehe ich wesentlich komplexer.
Von Motiven war gar nicht die Rede. Die Lage ist auch ohne aktive Beteiligung beiden Lagern der innenpolitisch komplexen USA fast gleichermaßen nützlich.
Die EU-Politiker sind nicht dumm.
Dumm im Sinne, dass die EU weder gegen Russland kämpfen noch mit Russland kooperieren noch sich für eines davon entscheiden kann. Nicht im Sinne der intellektuellen Unzulänglichkeit; Fachexperten sind sie sicherlich.


Die Interessengegensätze, die du wahrscheinlich meinst, sind zu vernachlässigen, weil Ungarn ein eher kleines Land ist. Wären sich Deutschland und Frankreich einig, wie sie mit Putin umgehen wollen, gäbe es keinen nennenswerten Widerstand. Oder sind Interessengegensätze zwischen den Platzhirschen gemeint, wie sie seit der Teilung des Karolingerreichs bestehen? Dann haben die kleinsten der EU-Populisten auf einmal viel Gewicht, weil sie nur Zünglein an der Waage, und kein Gegengewicht gegen D und F sein müssen.

Antwort geändert am 29.12.2023 um 01:22 Uhr

 tueichler (28.12.23, 00:18)
Danke für diesen Text. Ergänzend - oder auch erklärend - muss ich dazu bemerken, das mir mit meiner ostdeutschen Sozialisierung von 64 bis 89 ein Gefühl geblieben ist, dass, wenn auch unter (noch) kapitalistischen Verhältnissen, Ideologien oberflächlich gesehen wieder die Oberhand gewinnen vor sachbezogenen Entscheidungen.

Es ist beispielsweise klar, dass ein Klimawandel stattfindet. Klar ist auch, dass dieser durch die Industrialisierung der letzten 150 Jahre zumindest beeinflusst wird. Ebenso klar ist aber auch die Trägheit des Klimasystems, das nicht auf irgendwelche x-Grad-Schalter bis Datum y reagiert und schon gar nicht auf ideologische Beschlüsse.

Die Verbreitung von Angst - Du erwähntest es bereits - ist zum Machtinstrument geworden.
Das wirklich noch perfidere daran ist, dass die vermeintlichen Ideologen in Führungspositionen meiner Meinung nach ihrer eigenen Ideologie noch nicht einmal so folgen, wie das durch sie
beeinflusste Wahlvolk. Vielmehr habe ich den Eindruck, dass viel Politik davon abhängt, wann der mit dem Posten verbundene Versorgungsanspruch erfüllt ist.
Man kann das am Verhalten der Ampel nach etwas mehr als der Hälfte der Legislaturperiode stark vermuten. Angst ist es und die daraus resultierende vermeintliche Machtlosigkeit, die die Menschen im Land - mich eingeschlossen - mehr oder weniger lähmt. Aus diesem Paradigma der Angst auszubrechen, Qualifikation und meinetwegen auch ein Maß an Technokratie könnte hier helfen. Oder aber ehrliche Eliten mit Format, dene es gelingt, Wichtiges von Unwichtigem und Dringendes von weniger Dringendem in unserem Land zu trennen, damit der Stillstand aus Angst(*) endlich aufhört.

* Angst des Einzelnen um Existenz und Beständigkeit ebenso, wie die Angst der Bürokratie, justiziable Fehler zu begehen
und deshalb lieber untätig zu sein - entscheidungsträge.

vgl. Bartleby der Schreiber “Ich möchte lieber nicht”

Kommentar geändert am 28.12.2023 um 00:24 Uhr

 Bergmann äußerte darauf am 28.12.23 um 14:09:
Ich stimme dir zu: Ausbrechen aus dem Angstdenken ist erforderlich - es gibt allerdings kaum etwas Schwierigeres. Vorsicht bleibt in Kriegsgefahr geboten. Aber die Regierung muss den Mut haben, dem Volk die Wahrheit zu sagen, dass der bisherige Wohlstand nicht mehr bezahlbar ist.

 AZU20 (28.12.23, 11:08)
Lieber Herr Bergmann. Zunächst herzlichen Dank für Ihre Wünsche. Das wünsche ich auch Ihnen.
Seit der Pensionierung bin auch ich unter die Schreiberlinge gegangen und tausche mich mit einigen von ihnen regelmäßig aus.
Den Dichtungsring hab ich gestern mit Interesse gelesen. Lesungen hielt ich mit Freunden mehrfach im Zehnthaus in Odendorf ab. Nun fiebere ich meiner Goldhochzeit entgegen und erfreue mich am Zusammensein mit drei goßartigen Enkeln.
Alles Gute.

 Bergmann ergänzte dazu am 28.12.23 um 14:21:
Lieber Herr Schmitt, zum Glück gibt es das private Glück. Das Schreiben, die Kommunikation mit Literaturinteressierten und Freuden in der Familie und mit Freunden, das können wir alles hoffentlich lebenslang behalten. - Wenn ich meine zweite Ehe zur ersten addiere, habe ich auch (in 1 Jahr) Goldene Hochzeit.
Herzliche Grüße Ihnen und an die Frau Gemahlin!
Ihr Ulrich Bergmann

 eiskimo (28.12.23, 14:45)
Ein gut formulierter und kluger Kommentar zur Lage. Sehr Vieles darin erlebe und sehe ich genauso, wobei ich in Puncto "Sicherheit und Lebensfreude" anmerken möchte, dass mir die sozialen Medien und z.T. auch das Fernsehen die Ereignisse zu stark hochjazzen -  Ängste werden dabei künstlich geschürt, für die Quote.
Gruß
Eiskimo

 Bergmann meinte dazu am 28.12.23 um 21:33:
Das "Hochjazzen" der Ereignisse in den Medien gefällt mir auch nicht. Oft sind (teils gutgemeinte, aber letztlich kontraproduktive) populistische Beiträge geradezu störend und rufen sogar den Verdacht manipulativer Berichterstattung hervor. Mehr Distanz und Beschränkung auf das, was mit einiger Sicherheit feststeht, wäre angemessener. Weniger kommentieren! Dafür mehr Hintergrund und Zusammenhänge darstellen.

 Regina (29.12.23, 05:38)
Was erhält den Frieden? Verhandlungen und Handel. Das sollte sich jede Regierung hinter die Ohren schreiben.
Wir können es nicht laut genug ausdrücken: Wir wünschen keinen Krieg gegen Russland. Und ja, Terminator.

 Bergmann meinte dazu am 29.12.23 um 22:56:
Die Politik von Angela Merkel, Putin in Handel und Verhandlungen einzubinden, ist gescheitert. Schon mit der heimtückischen Annexion der Krim und ostukrainischer Gebiete wurde deutlich, dass Putin eine kriegerische Revisionismuspolitik betrieb. Nein, Terminator, der 'Westen' hat Russland nicht zu diesem Revisionismus getrieben, schon gar nicht zur Diktatur und zur Wiedererrichtung des Archipel GULAG, auch nicht zur Korruption im eigenen Land und zu einem pathologischen Nationalismus einer höchst fragwürdigen Mehrheit, der ich wünsche, dass sie aufwacht.

 Terminator meinte dazu am 29.12.23 um 23:10:
Nein, Terminator, der 'Westen' hat Russland nicht zu diesem Revisionismus getrieben
"Nein, Strohminator", müsste es heißen. So Unterkomplexes hatte ich nie behauptet. Das verlinkte Video lohnt sich in voller Gänze. Der Youtuber Sarcasmitron scheint politisch ungefähr dort zu stehen, wie du selbst, Bergmann, sowohl im Panorama als auch innerhalb des linken Spektrums selbst nimmt er eine ähnliche Position ein.

 Regina meinte dazu am 30.12.23 um 08:14:
Nein, Bergmann, die Kriegsdrohungen der Russen gegen die BRD hat uns die Ampelregierung eingebrockt, durch Waffenlieferungen und Einfrieren der Wirtschaftsbeziehungen. So oder so musste man Putins Agieren nicht gut finden. Altgrüner Trittin vertrat 2022 noch den Grundsatz "Keine Waffenlieferung in Kriegsgebiete".

 Bergmann meinte dazu am 30.12.23 um 22:13:
Die Ampel hat Schuld ... Na, dann ... kleine weiße Friedenstaube, fliege übers Land ... wir wünschen für die Reise Freude und viel Glück; kleine weiße Friedenstaube, komm recht bald zurück!

 Regina meinte dazu am 31.12.23 um 00:08:
Es ist tragisch, dass man sich über den Willen zum Frieden lustig macht. Wenn es dann zu spät ist, wird es wieder heißen "Bedingungslose Kapitulation".
https://www.msn.com/de-de/nachrichten/other/sahra-wagenknecht-partei-will-dumme-energiesanktionen-gegen-russland-beenden/ar-AA1mbDSx

 Russland droht mit Angriffen auf deutsche Fabriken (dagens.de)

Antwort geändert am 31.12.2023 um 00:22 Uhr

 Bergmann meinte dazu am 31.12.23 um 18:25:
Nichts für ungut. Wenn du dich bei Sahra Wagenknecht und Dagens.de gut aufgehoben fühlst, na dann ist doch für dich alles in Ordnung.

 Regina meinte dazu am 31.12.23 um 19:59:
Wagenknecht bleibt auch mit stolzen 14% in der Opposition. In Ordnung ist es erst, wenn die Mehrheit keinen Krieg will.

Argumentation ist das nicht, was du da rekommentierst.

Antwort geändert am 31.12.2023 um 21:41 Uhr

 Didi.Costaire (29.12.23, 14:39)
Gut reflektiert, Uli! Die letzten Jahre und insbesondere dieses haben Spuren hinterlassen und machen es schwer, zuversichtlich zu bleiben.

Ich wünsche auch dir ein gutes neues Jahr!

Liebe Grüße,
Dirk
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