Während ich auf dem U-Bahnsteig sitzend auf einer Bank saß und

Text

von  Mondscheinsonate

... ein Buch las, Annie Ernauxs "Eine Leidenschaft", sah ich kurz auf, neben mir stand ein junges Mädchen, ihr Handy in der Hand, sie starrte mich an. Ich hob das Buch zum Gruße, sagte: "Das ist ein Buch", weil sie mich ansah als ob ich eine Außerirdische wäre. Aber, ich irrte mich, sie war wirklich an meinem Buch interessiert, ignorierte meinen Zynismus, fragte, was ich denn lesen würde? Sie sagte, meine Vertiefung hat sie neugierig gemacht, denn gerade als sie die Rolltreppe herauf kam, sah sie, dass ich nicht bemerkt hätte, dass ich eine U-Bahn verpasste. Sie lächelte. Vielleicht war sie 16, man weiß es nicht mehr genau, trug ein gelbes Kleid, ihre Füße steckten in weißen Sportschuhen. Ich sagte erstaunt: "So? Das ist mir schon lange nicht passiert," ärgerte mich zugleich, denn durch den Sommerfahrplan kommen Garnituren unregelmäßig, das bedeutete eine lange Wartezeit. 

Ich sagte weiter, dass das Buch von einer obsessiven Affaire handelt, aber eher die Aufgabe des eigenen Lebens beschreibt, dass es nur vom Augenblick des Sehens bis zum nächsten Augenblick handelt. Großartig, das sagte ich. 

Das Mädchen nickte und tippte in ihrem Handy, während ich sprach, dann sah sie auf, lächelte und meinte, sie hätte es sich jetzt bestellt und als die U-Bahn kam, verabschiedete sie sich freundlich mit dem Wienerischen "Baba!"

Ich war erstaunt und konnte, obwohl ich wollte, kurz nicht weiterlesen, das war doch ein schönes Erlebnis, das dachte ich im Stillen.

Ich habe ihr nicht gesagt, dass sie noch viel zu jung sei, um so eine Obsession zu begreifen und hoffte insgeheim, dass sie es niemals erleben würde.

Wort für Wort habe ich erlebt, es ist, als ob Ernaux hinter meinen Vorhängen gestanden wäre, während ich nicht mehr lebte in dieser Zeit. Diese Beklemmung, die ich während des Lesens hatte, kam von der ersten Seite an. Mein Abstand ist jedoch noch nicht so groß, dass ich nüchtern erzählen könnte. Und ja, ich habe mir geschworen, dass so etwas nie wieder passieren darf und wird. Man schwört so einiges...

Und, dann las ich doch weiter, das schmale Büchlein begann zu ziehen, nicht in die Länge, sondern an meinem Nervenkostüm, es war nicht, als ob ich lesen, sondern einfach nur nachdenken würde, das über eine Zeit, die ich noch nicht ganz verdaut habe. Aber, wie sollte ich verdauen, passierte sie mir doch zweimal hintereinander, fast ein drittes Mal, aber ich zog gedanklich die Notbremse. Der Zug hielt bei der Endstation, ich stieg aus, las durch die Leute hindurch, sah kurz auf, bemerkte, dass mir die Menge, ja, Masse wich, mich im Gehen lesen ließ, das fand ich nett. Ich werde es jetzt zu Ende lesen, ich brauche den Ausweg, den Exit. Ich hoffe, der kommt.


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Kommentare zu diesem Text


 DanceWith1Life (09.07.24, 20:16)
Ich empfehle diesen Text, weil das Zusammentreffen der einzelnen Komponenten, Irrtum, Vorurteil (wenn ich es kurz so nennen darf),  Obsession, Nervenkostüm und Exit, schon ein Theaterstück ergeben würden.

 Mondscheinsonate meinte dazu am 09.07.24 um 20:25:
Wie schrieb Brecht im Der gute Mensch von Sezuan:

 "Verehrtes Publikum, los, such dir selbst den Schluß! / Es muß ein guter da sein, muß, muß, muß!" (S. 295)
Ich weiß es noch nicht.

 DanceWith1Life antwortete darauf am 09.07.24 um 20:29:
der Clou deiner Geschichte beginnt ja schon am Ort des Geschehens( müssen in den U-Bahntunneln nicht alle "Exits" ausgeschildert sein?

 Mondscheinsonate schrieb daraufhin am 09.07.24 um 20:33:
Sind sie, wenn man schaut.

 Pearl (09.07.24, 20:30)
Oh, das klingt in der Tat nach einem spannenden Buch. Die dünnen, wo viel drinnen steckt, sind unbezahlbar. Ich denke da (z.B.) an Jean Cocteaus "Kinder der Nacht".

Dass man in der U-Bahn (oder beim Warten darauf) ins Gespräch kommt, ist eher selten.
Die netteste U - Bahnbekanntschaft hatte ich vor einigen Jahren. Und auch diese hat ein Buch geschaffen. Ich las Gedichte einer (ich glaube) bulgarischen Dichterin. Da setzte sich eine Mann mittleren Alters im Blaumann neben mich. Er roch etwas nach Alkohol und sah zu mir. Das war mir unangenehm. Und dann passierte, was ich befürchtete. Er sprach mich an.
Aber nur, um in mein Buch sehen zu dürfen! Er war aus Bulgarien und erkannte das Gedicht und kannte die Dichterin und freute sich so, dass der Zufall ihm wieder eines ihrer Gedichte in die Hände spielte. Dann erzählte er, dass er in seiner Heimat Ingenieur (oder war es Anwalt?) war. Doch in Österreich hatte er nur die Chance auf einer Baustelle zu arbeiten. Es war eine <3 zu <3  Begegnung, die mir wieder einmal zeigte. Wirf deine Vorurteile von Bord!
Daran ließ mich deine gut erzählte Story denken.

Grüße in deine Ecke des zu heißen Wiens. Stefanie

Kommentar geändert am 09.07.2024 um 20:31 Uhr

 Mondscheinsonate äußerte darauf am 09.07.24 um 20:35:
Viel zu heiß, ja, es wird wenig miteinander geredet und auch ich war skeptisch. Bücher verbinden.

 Regina (10.07.24, 03:47)
Etwas Spannendes zu lesen, kann einen die Umgebung vergessen lassen. Die Identifikation der Prot. mit dem Gelesenen macht den Text hier interessant.
 "auf dem U-Bahnsteig sitzend" macht auf mich den Eindruck, da säße eine im Schneidersitz auf dem Boden des Bahnsteigs, das wäre recht ungewöhnlich.

 Mondscheinsonate ergänzte dazu am 10.07.24 um 05:30:
Natürlich auf einer Bank.
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