Ein Brief

Text

von  Mondscheinsonate

Liebster,


es passiert doch, Gott sei Dank, selten, jedoch bekam ich ein ungutes Gefühl, schreckliche Angst und eine Beklemmung als ich von dem Flugzeugabsturz in Brasilien erfuhr, ja, es sah (wie kann man sowas ins Netz stellen und wie kann man sowas ansehen!), mein erster Gedanke galt Dir, ja, absurd, jedoch irgendwie auch nicht, denn ich weiß ja gar nie wo Du bist, es ist Dein Leben, jedoch bitte ich Dich inständig, wenn wieder (wollen wir es hoffen, ganz lange nicht) ein Flugzeug irgendwo abstürzt, schreib mir, dass es Dich nicht betrifft, das wäre schön, wenn das ginge. Dann wäre ich beruhigter. 

Ich sitze da, lese "Weiße Nächte" von Fjodor Dostojewski, lese ein paar Sätze, dann sehe ich auf und schreibe Dir. Normalerweise bin ich zu sehr in eine Geschichte vertieft, aber unseres ist auch eine Geschichte und so verwebe ich zwei Geschichten im Kopf zu einem feinen Teppich, lesen wir gemeinsam. Für Dich das Beste, Dostojewski, immer nur das Beste wie es sich gehört. Gerade bin ich in Gedanken in Petersburg, denke gleichzeitig, dass Du, das ist schön, so viele Städte im Kopf hast, Du schlägst ein Buch auf und bist geistig dort, wie schön ist das! Ich mag es, wenn ich an den Orten bin oder zumindest in dem Klima, wo das Buch spielt, so versetze ich mich gut hinein. 
Viel habe ich Maguerite Duras in Thailand oder Vietnam gelesen, die Hitze in den Zeilen spürte ich tatsächlich, das war authentisch. 

Nun, ich bin gerade geistig in Petersburg, der Spaziergänger in dem Buch, liebt selbst die Häuser, vermenschlicht sie, pflegt fast schon eine Freundschaft mit ihnen, so schreibt Dostojewski: "Doch niemals vergesse ich die Geschichte mit einem reizenden hellrosa Häuschen. Es war so ein liebes steinernes Häuschen, es lächelte mich immer so freundlich an und blickte so stolz auf seine plumpen Nachbarn, dass sich mir jedesmal, wenn ich vorbeiging, das Herz im Leibe freute. Doch wie ich in der vorigen Woche vorbeigehe und meinen Freund anschaue, höre ich plötzlich seinen Jammerschrei: "Man streicht mich gelb an!" Diese Bösewichter! Barbaren!"

Entzückend, denke ich, ich mag solche Geschichten gerne. Ich mag aber keine alten Geschichten, die mir nicht gut taten, anders als unsere Geschichte, die sehnsüchtig begann, das Gefühl sich einnistete, niemanden weh tat und auch nicht weh tut, nur ein wenig zehrt, teenagerhaft, und in Wahrheit unmöglich ist, nein, ich meine erlebte Geschichten, die nicht hochgeholt werden sollten, weil sie grauenhaft waren. 
So dachte ich mir im Stillen, dass ich zwar überhaupt nicht bereit bin, nämlich gar nicht, mich dem männlichen Geschlecht zuwenden, jedoch dies völlig absurd ist, der Mensch ist nicht für das Alleinesein geboren worden und man muss ja nicht gleich heiraten, aber körperlicher Kontakt wäre doch schon schön und im Grunde bin ich keine Frau, die sich an einem Abend mit einem Wildfremden vergnügen möchte, der Gedanke ist mir zuwider, außer mit Dir, Du bist aber nicht fremd, nun ja, ich dachte also, gib Dir einen Ruck und da ich, obwohl wir doch unterschiedliche Berufe haben, doch behaupten darf, dass ich genauso viel arbeite, oft bis zwei oder drei Uhr Früh oder lerne, was auch Arbeit ist, nämlich Kopfarbeit, meldete ich mich wieder in so einer Partnerbörse an, die in Wahrheit "Puff" heißen sollte. 
Na gut, tat ich also wirklich, mein Blick streifte über Männer mit Fischen in den Händen, sich rekelnde halbnackte Türken auf der Motorhaube ihrer geleasten BMWs, Männer in Schwimmbecken, die sicher nicht die Freundin fotografiert hatten, ernsthaft gemeinte gerippte Unterhemdentypen in hässlich blaßgrünen und lila Bettwäschen liegend und ihn, der mir das Herz rausriss und mich in die Isolation drängte, dies vor sechs Jahren. Augenringe so schwarz, krank und süchtig. Ich war neugierig, ging auf das Profil, nicht einmal ein Satz war richtig geschrieben, die Fotos zeigten Kaputtes und da musste ich an Deine Worte sinngemäß denken, dass die Süchtigen oft lieb sind, aber komplett zum Schmeißen. 
Soll ich Dir etwas sagen? Ich musste mir zur Erholung Dein letztes Foto ansehen, auf dem Du zufrieden grinst und Wärme ging mir wieder durch. Da fühlte ich, dass DIESE Geschichte vorbei ist und ich kann Dir gar nicht sagen, in dem Moment hätte ich Dich gerne vor Glück umarmt. 
Und ja, mag sein, Du bist eine wunderschöne Illusion, aber eine, die mich geheilt hat, mir wieder Sonne brachte und Antrieb im Leben. Das Gefühl geht nur mich etwas an.
Ach ja, ich gab mein Vorhaben sogleich auf, ich stehe nicht auf Fische und Proleten. Komm mir nicht mit gehobenen Partnerbörsen, in so einer erklärte mir ein 80+ Typ, dass er nur auf junge russische Nutten steht. Wie dem auch sei, Du weißt, ich bin inkompatibel für die heutige Zeit. Mir fehlt das Botox-Gfries, dazu die falschen Wimpern und das "Hihi Haha" -Getue. Desweitern hasse ich es, mich aushalten zu lassen und shoppen ist für mich das Schlimmste. 

Ich bin auf Seite 11, nun, wir beide haben in Wahrheit keine alte Geschichte, dazu waren wir damals noch zu geschichtenlos, jetzt haben wir eine - eine, die von Sehnsucht und einem Traum erzählt, vielleicht von einer Möglichkeit, auf jeden Fall ist sie ein "liebes steinernes Häuschen, es lächelt mich immer freundlich an...", so wie in der Dir vorhin erzählten Geschichte, den Vergleich finde ich reizend. Einfach schön. 

Bussi.




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