Das geschenkte Jahr

Monolog zum Thema Beobachtungen

von  redangel

Mein Freund, als ich heute loslief um dich zu besuchen, wußte ich noch nicht, was mich erwartete. Ich war ahnungslos, unbekümmert schnürte ich meine Schuhe zu und steckte mir den Hausschlüssel ein. Meinen Weg hätte ich blind laufen können, so oft war ich ihn schon gegangen, diesen Weg zu dir.
Am Morgen, wenn das ganze Dorf noch schlief, oder abends in der Dämmerung, wenn die Schatten länger und länger wurden. An Frühlingstagen, Sommertagen auch im Winter, meistens kurz bevor die Sonne unterging. Ein paarmal kam ich auch um Mitternacht zu dir. Dann, wenn es mir schechtging oder auch damals, als ich überglücklich war. Traurigsein kam häufiger vor . du kennst sie alle, meine Geheimnisse, meine ganze Geschichte, mein Freund.
Weißt du noch, damals, als ich dir bei Vollmond im Schein von ein paar Fackeln vorgetanzt habe. Diesen Bauchtanz, den ich ihm am Abend vorher versprochen hatte, aber er hatte nie Zeit für mich. Aber du warst da, meine Anlaufstelle, wenn ich Kummer hatte. du warst immer da für mich. Ich ging nie an dir vorbei, ohne dich nicht zu begrüßen, zu umarmen. Nicht ohne meinen Rücken an dir zu reiben, mein Ohr an dich zu legen und zu hören, was du mir zu sagen hattest. Deine Ratschläge waren gut, sehr gut, deshalb befolgte ich sie auch. Du warst klug, Lebenserfahren, älter als ich. Jedes Jahr besuchte ich dich am Silvestermittag.
Fragte dich aus über das Kommende. Ob ich glücklich oder traurig sein würde im Neuen. Ob ich akzeptieren könnte. was kam. Ich wußte nichts darüber, wie schnell etwas zu Ende sein kann, mein Freund. nichts hatte mich vor deinem Ende gewarnt. Kurz bevor ich bei dir war, sah ich sie.
Ich habe dein Stöhnen und deinen letzten Schrei noch gehört, bevor du umfielst. Als ich bei dir ankam, lagst du schon dort am Boden. Sie standen alle um dich herum. Du hast nicht mehr gehört, wie ich sie angeschriehen habe. Wie ich wütend gefragt, habe warum ihn. ausgerechnet den? Warum gerade ihn? Sie haben es nicht verstanden, meine Wut nicht und die Tränen in meinen Augen auch nicht. Sie haben gesagt, sie hätten es letztes Jahr schon tun wollen. Daß du schon lange krank gewesen wärst und eine Gefahr für jeden, der ahnungslos an dir vorbei ging. Von einer Krankheit habe ich nie etwas bemerkt. Du hast nie geklagt, es war dir äußerlich nicht anzusehen. Sie haben mir gezeigt, wie alt du warst. Man konnte es dir ablesen, an den ringen. deine guten Jahre, die schlechten in denen du Probleme hattest. sie haben dich abgesägt, einfach abgesägt ohne sich besonders anstrengen zu müssen. Früher hätten sie dazu ihre Kräfte benötigt, heute erledigten sie es fast mühelos im Handumdrehen. Sie sagten zu mir, du wärst nur eine alte Buche gewesen, innen morsch. Mein Freund, ich habe mich auf dich geworfen, dich umarmt ein letztes mal und meine Tränen sind auf deinen Stamm gerollt. Die vier Männer haben mich für verrückt  gehalten. Eine Verrückte, die mit Bäumen redet. Ich konnte dich nicht mehr ausfragen über ihn. Über sein Schweigen und ob alles gut werden würde. Du warst tot, sie werden dich in Stücke schneiden und verheizen, haben sie gesagt. Sie haben mich gefragt, ob sie mir eine Scheibe von dir abschneiden sollen, zur Erinnerung. Mein freund, ich habe es nicht übers Herz gebracht. es hat mir mitten ins Herz geschnitten, du hast noch geblutet. ich roch das Harz, deinen Todesgeruch ein letztes mal. Dann habe ich mich umgedreht und bin schnell weggelaufen.
Ich habe solange um dich geweint, bis mir keine Tränen mehr kamen. Dann erst hörte ich seine klagenden Schreie. Der Himmel war tiefblau, was für ein schöner sonniger Tag. Der kleine Falke, der seine Kreise zog, er weinte auch um dich. Schrille hohe Klagelaute für dich, mein Freund. Du wirst ihm so fehlen wie mir.
Dabei hatten sie es letztes Jahr schon tun wollen.
Sie haben uns noch ein ganzes Jahr geschenkt.

(c) redangel

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