Das Jahr neigt sich dem Ende zu. Bevor die Stadt in winterlicher Dämmerung versinken kann, erstrahlt all überall weihnachtlicher Lichterglanz, und weihnachtliche Musik, vielmehr das, was man heute dafür hält, ertönt aus allen verfügbaren Lautsprechern. Stille Nacht, heilige Nacht.
Herr Hilgers eilt durch den Trubel der belebten Turmstraße seinem letzten Einkaufsziel zu. Dort an der Mauer der alten Herz-Jesu-Kirche hat der alte Mann mit Weihnachtsbäumen in allen Formen und Größen seit vielen Jahren seinen Stand. Dorthin treibt es Franz Hilgers, dorthin watet er durch den Lärm und das um ihn herum zuckende und irisierende Leuchten von allen möglichen Lichterketten, Sternen, Kugeln und Glocken.
„Früher,“ so geht es ihm durch den Sinn, „früher zu Hause in unserem Dorf ging Vater kurz vor Weihnachten mit uns in den Wald. Dann suchten wir uns einen Baum aus. Vater nahm die Axt, und die Fichte gehörte uns. Unser Nachbar war der Besitzer des Waldes. Doch das hat meinen Vater in all den Jahren nicht beeindruckt. Das weihnachtliche Ritual lief jedes Jahr in gleicher Weise ab, so lange ich zu Hause wohnte.“
Franz Hilgers nähert sich der Kirche mitten in der Fußgängerzone. Der alte Fritz mit seinem Rauschebart, der wie der heilige Nikolaus aussieht, bedient gerade eine Kundin, die bald darauf mit einer winzigen Fichte abzieht. „In den modernen Stadtwohnungen ist kaum noch Platz für einen richtigen Weihnachtsbaum,“ meint Fritz und streicht sich über seinen wallenden Bart. „Da haben Sie wohl Recht,“ pflichtet Franz ihm bei. „Aber Sie haben mehr Platz, und ne Kiefer muss es sein, oder? Aber diesmal nicht wieder stehen lassen.“
Franz Hilgers verzieht seinen Mund zu einem flüchtigen Grinsen. Gerne wird er nicht an die Geschichte erinnert, die im letzten Jahr passierte. Er hatte wie immer in letzter Minute bei Fritz eine stattliche Kiefer erstanden und eilte nach Hause, wo seine Familie bereits auf das gute Stück wartete. An der öffentlichen Toilette machte er kurz Halt, lehnte seinen Baum draußen an die Wand und begab sich ins Innere. Als er kurze Zeit später wieder losgehen wollte, war der Platz an der Mauer leer. Seine Kiefer hatte einen neuen Besitzer, und das kurz vor Weihnachten. Der Dieb hatte das mit der Liebe zu seinen Mitmenschen offensichtlich falsch verstanden.
Also lief Franz, so schnell er konnte, zum alten Fritz zurück. Doch der hatte inzwischen seine letzten Bäume zusammengepackt und war verschwunden. Franz Hilgers erstand in seiner Not in einem Kaufhaus einen kleinen Plastikbaum und brachte wenigstens dieses Exemplar, über dessen Wiederverwertung sich die Verkäuferin wortgewaltig ausgelassen hatte, wohlbehalten nach Hause. Die Reaktion seiner Familie soll an dieser Stelle verschwiegen werden. Jedenfalls wurde im Familienrat eine Wiederverwendung des seltenen Prachtstücks im nächsten Jahr abgelehnt. Daraufhin hatte Franz Hilgers schon sehr früh bei Fritz eine Kiefer reserviert und ihm die Geschichte erzählt.
„Diesen Baum bringe ich auf jeden Fall wohlbehalten nach Hause, verlassen Sie sich darauf.“ Mit diesen markigen Worten klemmt Franz den Baum unter den rechten Arm, wünscht frohe Weihnachten und macht sich auf den Weg. „Diesmal mache ich keinen Halt, ich lasse ihn keinen Augenblick aus den Augen.“ Der alte Fritz nickt beifällig und macht sich an den wenigen, restlichen Bäumen zu schaffen. Sein verschmitztes Lächeln sieht Franz Hilgers nicht mehr.
Er schleppt die Kiefer mühsam durch die Einkaufsstraße, stößt hier und da mit anderen Passanten zusammen, deren festliche Laune sich angesichts des vorweihnachtlichen Stress in Grenzen hält. „Pass doch auf, wo du hingehst.“ „Was soll denn das?“ „Du hast wohl nicht mehr alle Tassen im Schrank.“ Franz lächelt freundlich und lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. „Frohe Weihnachten.“ Er hält seinen Baum unter dem rechten Arm sorgfältig im Auge und will in diesem Jahr mit ihm zu Hause ankommen. Er nähert sich schon dem Marktplatz. Unter der großen Tanne, die hier jedes Jahr von den Geschäftsleuten der Stadt errichtet wird, steht ein kleines Blasorchester und intoniert das Lied vom Tannenbaum und dessen grünen Blättern. Franz Hilgers schaut seine Kiefer an. „Das Lied ist nur für dich.“ Langsam geht er vorbei, damit sein Baum das Ständchen auch genießen kann. Ihn durchfährt so etwas wie Vorfreude, wenn er sich vorstellt, wie prachtvoll er sich in vollem Schmuck im Wohnzimmer ausnehmen wird. Ein schöner Weihnachtsbaum, seine Familie wird Augen machen. Noch der kurze Weg durch die Marktstraße, dann um die Ecke in den Grenzring, und schon ist er zu Hause. Er stellt den Baum kurz ab, holt seinen Hausschlüssel aus der Tasche und öffnet die Tür. Noch eine Treppe hoch und er klingelt erwartungsvoll an der Wohnungstür. Alle sollen kommen und ihn und seinen grünen Gefährten bewundern.
Seine Frau öffnet die Tür und stößt nach kurzer Besichtigung der Ankömmlinge einen spitzen Schrei aus, den Franz irrtümlich als Bekenntnis begeisterter Zustimmung deutet. Doch als seine Gattin sich wieder gefasst hat, tritt sie zur Seite, lässt ihn herein und deutet auf eine Ecke im geräumigen Flur. Dort stehen unübersehbar, Franz traut seinen Augen kaum, drei Weihnachtsbäume. Genauer gesagt, drei wunderschöne Kiefern.
„Und was nun?“ Im Hause Hilgers herrscht Fassungslosigkeit. Das gilt auch für die beiden Töchter, die von der ungewohnten Lautäußerung ihrer Mutter angelockt wurden. „Ihr traut mir wohl überhaupt nichts mehr zu.“ Franz lacht vergnügt. „Wie schön die Bäume sind.“ Die anderen blicken einen Augenblick irritiert in seine Richtung und stimmen dann in das Gelächter ein. Ist doch eigentlich schön, dass alle vier in diesem Jahr an einen Weihnachtsbaum gedacht haben.
Bald ist Weihnachtsabend im Hause Hilgers. Eine Klingel ertönt. Dann öffnet sich die Wohnzimmertür und Franz lässt seine Familie, die brav draußen gewartet hat, während er als letzter seine Geschenke ausbreitete, in den Raum. Vier Weihnachtsbäume stehen bunt geschmückt nebeneinander. Ein herrliches Bild. Ergriffen singen sie das Lied von den Tannenbäumen mit ihren grünen Blättern, umarmen sich, wünschen sich ein frohes Fest und packen fröhlich Geschenke aus. Im Laufe des Abends lenkt Franz das Gespräch auf den alten Fritz, der aussieht wie der Nikolaus und in diesem Jahr zum ersten Mal keine Kiefer bei der Rückfahrt auf seinen Lieferwagen laden musste.