Vier Weihnachtsbäume

Kurzgeschichte zum Thema Weihnachten

von  AZU20

Das Jahr neigt sich dem Ende zu. Bevor die Stadt in winterlicher Dämmerung versinken kann, erstrahlt all überall weihnachtlicher Lichterglanz, und weihnachtliche Musik, vielmehr das, was man heute dafür hält, ertönt aus allen verfügbaren Lautsprechern. Stille Nacht, heilige Nacht.
Herr Hilgers eilt durch den Trubel der belebten Turmstraße seinem letzten Einkaufsziel zu. Dort an der Mauer der alten Herz-Jesu-Kirche hat der alte Mann mit Weihnachtsbäumen in allen Formen und Größen seit vielen Jahren seinen Stand. Dorthin treibt es  Franz Hilgers, dorthin watet er durch den Lärm und das um ihn herum zuckende und irisierende Leuchten von allen möglichen Lichterketten, Sternen, Kugeln und  Glocken.
„Früher,“ so geht es ihm durch den Sinn, „früher zu Hause in unserem Dorf ging Vater kurz vor Weihnachten mit uns in den Wald. Dann suchten wir uns einen Baum aus. Vater nahm die Axt, und die Fichte gehörte uns. Unser Nachbar war der Besitzer des Waldes. Doch das hat meinen Vater in all den Jahren nicht beeindruckt. Das weihnachtliche Ritual lief jedes Jahr in gleicher Weise ab, so lange ich zu Hause wohnte.“

Franz Hilgers nähert sich der Kirche mitten in der Fußgängerzone. Der alte Fritz mit seinem Rauschebart, der wie der heilige Nikolaus aussieht, bedient gerade eine Kundin, die bald darauf mit einer winzigen Fichte abzieht. „In den modernen Stadtwohnungen ist kaum noch Platz für einen richtigen Weihnachtsbaum,“ meint Fritz und streicht sich über seinen wallenden Bart. „Da haben Sie wohl Recht,“ pflichtet Franz ihm bei. „Aber Sie haben mehr Platz, und ne Kiefer muss es sein, oder? Aber diesmal nicht wieder stehen lassen.“   
Franz Hilgers verzieht seinen Mund zu einem flüchtigen Grinsen. Gerne wird er nicht an die Geschichte erinnert, die im letzten Jahr passierte. Er hatte wie immer in letzter Minute bei Fritz eine stattliche Kiefer erstanden und eilte nach Hause, wo seine Familie bereits auf das gute Stück wartete. An der öffentlichen Toilette machte er kurz Halt, lehnte seinen Baum draußen an die Wand und begab sich ins Innere. Als er kurze Zeit später wieder losgehen wollte, war der Platz an der Mauer leer. Seine Kiefer hatte einen neuen Besitzer, und das kurz vor Weihnachten. Der Dieb hatte das mit der Liebe zu seinen Mitmenschen offensichtlich falsch verstanden.
Also lief Franz, so schnell er konnte, zum alten Fritz zurück. Doch der hatte inzwischen seine letzten Bäume zusammengepackt und war verschwunden. Franz Hilgers erstand in seiner Not in einem Kaufhaus einen kleinen Plastikbaum und brachte wenigstens dieses Exemplar, über dessen Wiederverwertung sich die Verkäuferin wortgewaltig ausgelassen hatte, wohlbehalten nach Hause. Die Reaktion seiner Familie soll an dieser Stelle verschwiegen werden. Jedenfalls wurde im Familienrat eine Wiederverwendung des seltenen Prachtstücks im nächsten Jahr abgelehnt. Daraufhin hatte Franz Hilgers schon sehr früh bei Fritz eine Kiefer reserviert und ihm die Geschichte erzählt.

„Diesen Baum bringe ich auf jeden Fall wohlbehalten nach Hause, verlassen Sie sich darauf.“ Mit diesen markigen Worten klemmt Franz den Baum unter den rechten Arm, wünscht frohe Weihnachten und macht sich auf den Weg. „Diesmal mache ich keinen Halt, ich lasse ihn keinen Augenblick aus den Augen.“ Der alte Fritz nickt beifällig und macht sich an den wenigen, restlichen Bäumen zu schaffen. Sein verschmitztes Lächeln sieht Franz Hilgers nicht mehr.
Er schleppt die Kiefer mühsam durch die Einkaufsstraße, stößt hier und da mit anderen Passanten zusammen, deren festliche Laune sich angesichts des vorweihnachtlichen Stress in Grenzen hält. „Pass doch auf, wo du hingehst.“ „Was soll denn das?“  „Du hast wohl nicht mehr alle Tassen im Schrank.“  Franz lächelt freundlich und lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. „Frohe Weihnachten.“ Er hält  seinen Baum unter dem rechten Arm sorgfältig im Auge und will in diesem Jahr mit ihm zu Hause ankommen. Er nähert sich schon dem Marktplatz. Unter der großen Tanne, die hier jedes Jahr von den Geschäftsleuten der Stadt errichtet wird, steht ein kleines Blasorchester und intoniert das Lied vom Tannenbaum und dessen grünen Blättern. Franz Hilgers schaut seine Kiefer an. „Das Lied ist nur für dich.“ Langsam geht er vorbei, damit sein Baum das Ständchen auch genießen kann. Ihn durchfährt so etwas wie Vorfreude, wenn er sich vorstellt, wie prachtvoll er sich in vollem Schmuck  im Wohnzimmer ausnehmen wird. Ein schöner Weihnachtsbaum, seine Familie wird Augen machen. Noch der kurze Weg durch die Marktstraße, dann um die Ecke in den Grenzring, und schon ist er zu Hause. Er stellt den Baum kurz ab, holt seinen Hausschlüssel aus der Tasche und öffnet die Tür. Noch eine Treppe hoch und er klingelt erwartungsvoll an der Wohnungstür. Alle sollen kommen und ihn und seinen grünen Gefährten bewundern.
Seine Frau öffnet die Tür und stößt nach kurzer Besichtigung der Ankömmlinge einen spitzen Schrei aus, den Franz irrtümlich als Bekenntnis begeisterter Zustimmung deutet. Doch als seine Gattin sich wieder gefasst hat, tritt sie zur Seite, lässt ihn herein und deutet auf eine Ecke im geräumigen Flur. Dort stehen unübersehbar, Franz traut seinen Augen kaum, drei Weihnachtsbäume. Genauer gesagt, drei wunderschöne Kiefern.
„Und was nun?“ Im Hause Hilgers herrscht Fassungslosigkeit. Das gilt auch für die beiden Töchter, die von der ungewohnten Lautäußerung ihrer Mutter angelockt wurden. „Ihr traut mir wohl überhaupt nichts mehr zu.“ Franz lacht vergnügt. „Wie schön die Bäume sind.“ Die anderen blicken einen Augenblick irritiert in seine Richtung und stimmen dann in das Gelächter ein. Ist doch eigentlich schön, dass alle vier in diesem Jahr an einen Weihnachtsbaum gedacht haben.           
     
Bald ist Weihnachtsabend im Hause Hilgers. Eine Klingel ertönt. Dann öffnet sich die Wohnzimmertür und Franz lässt seine Familie, die brav draußen gewartet hat, während er als letzter seine Geschenke ausbreitete, in den Raum. Vier Weihnachtsbäume stehen bunt geschmückt nebeneinander. Ein herrliches Bild. Ergriffen singen sie das Lied von den Tannenbäumen mit ihren grünen Blättern, umarmen sich, wünschen sich ein frohes Fest und packen fröhlich Geschenke aus. Im Laufe des Abends lenkt Franz das Gespräch auf den alten Fritz, der aussieht wie der Nikolaus und in diesem Jahr zum ersten Mal keine Kiefer bei der Rückfahrt auf seinen Lieferwagen laden musste.

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Kommentare zu diesem Text

chichi† (80)
(16.12.07)
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 AZU20 meinte dazu am 16.12.07:
Vielen Dank für alles. Ich weiß auch nicht, wie die das mit dem Schmuck gemacht haben. Vielleicht haben sie sich doch für den schönsten entschieden. LG

 GillSans (16.12.07)
Sehr schön erzählt. Mir hat es sehr viel Freude gemacht diesen Text zu lesen. Auch wenn ich mir nicht vorstellen kann, wie man vier Kiefern in einem Zimmer unterbringen kann. Hehe. Aber wenn es eine Vierraumzimmerwohnung war......???? Liebe Grüße, Gill

 AZU20 antwortete darauf am 16.12.07:
Ich gehe davon aus, Sie haben sich auf einen geeinigt. Aber der war dann wenigstens da. LG und vielen Dank für alles
Herzwärmegefühl (53)
(16.12.07)
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 AZU20 schrieb daraufhin am 17.12.07:
Ja, gute Idee. Ich gebe sie weiter. Vielen Dank fürs Lesen und Kommentieren. LG

 Maya_Gähler (16.12.07)
Eine feine Geschichte. Ich werde sie am heiligen Abend vorlesen. :o)
Liebe Grüsse,
Maya

 AZU20 äußerte darauf am 17.12.07:
Da werden mir aber die Ohren klingeln. Herzlichen Dank für alles und lG in die Schweiz

 tulpenrot (17.12.07)
Das ist herzerfrischend zu lesen! Ich mag deine Geschichte.
LG
Angelika

 AZU20 ergänzte dazu am 17.12.07:
Liebe Angelika, dein Kommentar und dein Klick freuen mich sehr. LG Armin
schneerosenkind (38) meinte dazu am 18.12.07:
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 AZU20 meinte dazu am 18.12.07:
Ich danke dir sehr für alles, liebe sandy. Ein schönes Weihnachtsfest wünscht dir Armin
orsoy (56)
(20.12.07)
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 AZU20 meinte dazu am 20.12.07:
Das freut mich sehr. Vielen Dank für alles. LG

 souldeep (20.12.07)
ja, ein herrliches ende - ich erwartete dauernd, dass
dem franz auch diesmal die fracht streitig gemacht
würde...oder dass der fritz was im schilde führte...

gern gelesen.

ich grüsse dich herzlich
kirsten

 AZU20 meinte dazu am 21.12.07:
Liebe Kirsten, vielen Dank für alles, vor allem auch für die Fehlermeldung. LG Armin
Amada (38)
(26.12.07)
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 AZU20 meinte dazu am 27.12.07:
Liebe Amada, vielen Dank für den freundlichen Kommentar und die Empfehlung, guten Rutsch ins neue Jahr. LG
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