Le Tigre
Roman zum Thema Suche
von Mutter
„Wir sind auf der Suche nach einem jungen Mann. Die Adresse, die uns ein Kumpel in Berlin gegeben hat, hat sich als wertlos rausgestellt.“ Big Bruno wartet ab, bis ich für Dirty übersetzt habe. Dann will er wissen: „Ein Freund von euch?“ Ich kann einen Hauch von Misstrauen in seiner Stimme erkennen. Das kann ich ihm kaum verdenken – in dieser Art von Umgebung zahlt sich eine gesunde Paranoia vermutlich aus.
„Wie man’s nimmt. Sagen wir: Ein guter Bekannter. Ich habe vor Jahren mit ihm in einer Einrichtung gearbeitet, und daraus hat sich eine lockere Freundschaft entwickelt.“
Big Bruno nickt. Ich fahre fort: „Jedenfalls wird er in Berlin polizeilich gesucht. Ich bin fest davon überzeugt, dass er unschuldig ist, würde die Sache aber gerne persönlich mit ihm klären.“
Wieder ein Nicken. Das scheinen Bruno eingängige Gründe genug zu sein, um aus Berlin ins Pariser Ghetto zu fahren. „Wie heißt er?“
„Lucien Lefevre.“
Diesmal gibt es ein Kopfschütteln. „Nie gehört. Wie sieht der Knabe aus?“
Ich greife in meine Tasche, hole das Blatt Papier heraus und falte vorsichtig Tigers Phantombild auf. Schiebe es Le Gorille rüber, aber er wirft kaum einen Blick darauf. Verächtlich sagt er: „Wer erkennt schon was auf den Scheiß-Bildern? Der Filz läuft auch immer mit denen herum – nicht mal meine eigene Mutter würde mich auf so einem identifizieren können.“
Ich zucke mit den Schultern. „Es ist alles, was wir haben. Sein Spitzname in Berlin ist Tiger.“
„Le Tigre“, kommt es sofort zurück. Er nickt und lächelt. „An den kleinen Tiger erinner ich mich. Der war oft drüben im Centre des arts de vivre.“
Der Name lässt mich lächeln. „Für Lebenskünstler? Was war das – so etwas wie ein Jugendzentrum?“
„In der Art, ja. Nur ohne Geld.“ Er grinst. „So wie alles hier.“
„Wann haben Sie Tiger das letzte Mal gesehen?“
Während er die Backen aufbläst, wuchtet er den Oberkörper zurück, lehnt sich nach hinten in den Stuhl. Legt die beiden Hände auf dem Kopf ab und starrt neben uns an die Wand. „Vier Jahre vielleicht? Er ist damals ohne Abschied einfach spurlos verschwunden. Aber das passiert oft genug hier – die wenigsten von meinen Jungs kommen zu mir, um sich zu verabschieden. Die meisten sind von einem Tag auf den anderen einfach weg.“
Ich nicke – das war bei uns nicht anders. Manchmal ist nach ein paar Monaten einer wieder zurückgekommen, hat verlegen „Hallo!“ gesagt. Aber wer aus der Gruppe raus ist, ist schon nach ein paar Wochen kein Rudelmitglied mehr, muss sich wieder von vorne eingewöhnen. Da bleiben die Kerle schon bald freiwillig weg.
„Was ist mit seiner Familie?“
Big Bruno schürzt die Lippen. „Die Mutter ist gestorben. Der Vater war ein echtes Arschloch. So jemand, den man sich gerne mal in einer dunklen Gasse vornehmen würde.“ Er lächelt verlegen. „Wenn man anders drauf wäre als ich.“
Ich nicke ungeduldig, um zu zeigen, dass ich verstehe, worauf er raus will. „Was ist mit dem Vater? Ist der damals mit nach Deutschland?“
„Der ist ermordet worden. Den haben sie ganz übel aufgeschlitzt, die Story ist monatelang hier im Ghetto kursiert. Den Täter haben sie nie gefasst.“ Er zuckt mit den Schultern. „Keine Ahnung – alles nur Hörensagen. Wir haben ja nicht mal erfahren, dass Tiger überhaupt nach Berlin ist - und nicht bloß hier im Ghetto verloren gegangen ist. Oder vielleicht im Jugendknast gelandet ist.“
„Gibt es vielleicht jemanden, der den Vater näher kannte?“
„Das bin ich der Falsche. So eng ist der Kontakt der Jungs untereinander oder zu mir nicht. Ich meine, da müsste ja ein richtig enges Verhältnis zur Familie bestanden haben, damit auch ohne Tiger weiter eine Verbindung besteht. Aber soweit ich weiß, gab es eine Großtante, bei der Tiger manchmal geblieben ist.“
Er scheint nachzudenken und ich unterdrücke den Impuls, ihn zu drängen. Meiner Ungeduld nachzugeben. Stattdessen nutze ich die Pause, um Dirty zu übersetzen, worüber wir gesprochen haben.
Der schwergewichtige Sozialarbeiter hat in den Tiefen seines Gedächtnisses gefunden, wonach er geforscht hat. „Mathilde Fourchier. Fournier? Ja, Fournier. Ich glaube, dass war es.“
„Haben Sie eine Adresse von der Dame?“
„Schon möglich.“ Er dreht sich auf seinem Stuhl herum und bückt sich, um in einem Regal aus Ziegelsteinen und verzogenen Brettern mit dem Finger die Reihen aus Aktenordnern abzugehen. Seine Stimme durch die gekrümmt Haltung gedämpft, erklärt er uns: „Die meisten meiner Jungs habe in irgendeiner Form hier in meinen Unterlagen. Manchmal nicht mehr als ein Name und eine Adresse, manchmal sogar so Zeug wie Impfbücher oder offizielle Bücher.“ Er zieht einen der Ordner heraus, blättert darin herum. „Zu Hause kümmert sich oft niemand um solche Sachen. Deswegen bringen sie mir den Kram häufig von sich aus. Manchmal muss ich allerdings deutlich nachdrücklicher werden, bevor sie mir auch nur einen winzigen Teil ihrer Persönlichkeit überlassen.“ Ich kann sein Lächeln hören, auch wenn sein Gesicht weiterhin verdeckt ist.
„Ich kenne das – das war bei unseren nicht anders.“ Und ich muss daran denken, dass ich von Tiger jahrelang nicht mal den richtigen Namen kannte. Geschweige denn wusste, dass er Franzose ist.
„Hier ist er“, verkündet Bruno und knallt einen Ordner auf den Tisch. Leckt sich den Zeigefinger an, blättert. Seine Augenbrauen ziehen sich zusammen, dann sagt er: „Madame Mathilde Fournier – da ist die alte Dame.“ Nach einem Augenblick nennt er eine französische Adresse in Saint-Denis. Ich sehe Dirty fragend an – ob er sich die wohl merken kann. Er nickt. Als Bruno ihm Stift und Zettel anbietet, winkt er ab.
„Ich habe natürlich keine Ahnung, ob sie dort noch wohnt. Oder überhaupt noch lebt.“ Er schaut mich für einen kurzen Augenblick eindringlich an. Ich nicke. Mir ist völlig klar, dass sie unsere letzte Spur ist. Wenn wir nicht versuchen wollen, über das französische Landeseinwohneramt zu gehen, um Informationen über seinen Vater zu erhalten. Vermutlich würden sie jeden auslachen, der versuchen würde, Daten aus dieser Dystopie zu gewinnen.
„Von seinen alten Kumpels gibt es unter den Jugendlichen niemanden mehr?“
Er überlegt einen Augenblick, schüttelt den Kopf, denkt noch mal nach. „Alain. Der ist aber auch nicht mehr Teil der Truppe. Hat tatsächlich eine Lehrstelle als Mechaniker gefunden. Kfz-Mechaniker“, fügt er mit anerkennendem Gesichtsausdruck hinzu, als hätte sein Zögling den Nobel-Preis erhalten. Vielleicht kommt es in diesem dämlichen Ghetto tatsächlich einer Auszeichnung gleich, wenn einer von ihnen eine Lehrstelle bekommt, denke ich mit einem Seufzen.
„Ich schreib’s Ihnen auf“, sagt Bruno und kritzelt etwas auf einen kleinen Zettel. Als er in mir reicht, will ich ihn wegstecken, aber Dirty schnippt mit den Fingern. Er hat den Arm ausgestreckt und sieht mich kritisch an. Ohne Widerrede reiche ich ihm den Zettel und sehe zu, wie er ihn einsteckt, nachdem er einen kurzen Blick darauf geworfen hat.
„Es geht nicht um einen Diebstahl oder ein anderes Bagatelldelikt, oder?“, fragt Big Bruno unvermittelt und sieht mich dabei intensiv an. Mit seinen buschigen Augenbrauen macht er einen traurigen Eindruck – wie der alternde Clown, der weiß, dass ihm das Publikum längst weggelaufen ist. Ich schüttle den Kopf, verschiebe einen Spiralblock auf dem Tisch mit den Fingern.
Endlich raffe ich mich auf, sehe Bruno direkt an und antworte: „Ihm wird vorgeworfen, einen Mord begangen zu haben.“
Der Sarde verzieht das Gesicht, als verspürt er einen körperlichen Schmerz. Sieht dann rüber in den düsteren Gang – sieht seine Jungs draußen vor dem gedanklichen Auge. Tiger war mal einer davon.
Mit dunkel belegter Stimme fragt er: „Und diese Geschichte hat etwas mit euch zu tun, sehe ich das richtig?“ Mir fällt auf, dass er das ‚Sie‘ fallengelassen hat.
Ich nicke ein weiteres Mal. Antworte: „So wie es aussieht, hat er meine Freundin brutal ermordet.“
„Wie man’s nimmt. Sagen wir: Ein guter Bekannter. Ich habe vor Jahren mit ihm in einer Einrichtung gearbeitet, und daraus hat sich eine lockere Freundschaft entwickelt.“
Big Bruno nickt. Ich fahre fort: „Jedenfalls wird er in Berlin polizeilich gesucht. Ich bin fest davon überzeugt, dass er unschuldig ist, würde die Sache aber gerne persönlich mit ihm klären.“
Wieder ein Nicken. Das scheinen Bruno eingängige Gründe genug zu sein, um aus Berlin ins Pariser Ghetto zu fahren. „Wie heißt er?“
„Lucien Lefevre.“
Diesmal gibt es ein Kopfschütteln. „Nie gehört. Wie sieht der Knabe aus?“
Ich greife in meine Tasche, hole das Blatt Papier heraus und falte vorsichtig Tigers Phantombild auf. Schiebe es Le Gorille rüber, aber er wirft kaum einen Blick darauf. Verächtlich sagt er: „Wer erkennt schon was auf den Scheiß-Bildern? Der Filz läuft auch immer mit denen herum – nicht mal meine eigene Mutter würde mich auf so einem identifizieren können.“
Ich zucke mit den Schultern. „Es ist alles, was wir haben. Sein Spitzname in Berlin ist Tiger.“
„Le Tigre“, kommt es sofort zurück. Er nickt und lächelt. „An den kleinen Tiger erinner ich mich. Der war oft drüben im Centre des arts de vivre.“
Der Name lässt mich lächeln. „Für Lebenskünstler? Was war das – so etwas wie ein Jugendzentrum?“
„In der Art, ja. Nur ohne Geld.“ Er grinst. „So wie alles hier.“
„Wann haben Sie Tiger das letzte Mal gesehen?“
Während er die Backen aufbläst, wuchtet er den Oberkörper zurück, lehnt sich nach hinten in den Stuhl. Legt die beiden Hände auf dem Kopf ab und starrt neben uns an die Wand. „Vier Jahre vielleicht? Er ist damals ohne Abschied einfach spurlos verschwunden. Aber das passiert oft genug hier – die wenigsten von meinen Jungs kommen zu mir, um sich zu verabschieden. Die meisten sind von einem Tag auf den anderen einfach weg.“
Ich nicke – das war bei uns nicht anders. Manchmal ist nach ein paar Monaten einer wieder zurückgekommen, hat verlegen „Hallo!“ gesagt. Aber wer aus der Gruppe raus ist, ist schon nach ein paar Wochen kein Rudelmitglied mehr, muss sich wieder von vorne eingewöhnen. Da bleiben die Kerle schon bald freiwillig weg.
„Was ist mit seiner Familie?“
Big Bruno schürzt die Lippen. „Die Mutter ist gestorben. Der Vater war ein echtes Arschloch. So jemand, den man sich gerne mal in einer dunklen Gasse vornehmen würde.“ Er lächelt verlegen. „Wenn man anders drauf wäre als ich.“
Ich nicke ungeduldig, um zu zeigen, dass ich verstehe, worauf er raus will. „Was ist mit dem Vater? Ist der damals mit nach Deutschland?“
„Der ist ermordet worden. Den haben sie ganz übel aufgeschlitzt, die Story ist monatelang hier im Ghetto kursiert. Den Täter haben sie nie gefasst.“ Er zuckt mit den Schultern. „Keine Ahnung – alles nur Hörensagen. Wir haben ja nicht mal erfahren, dass Tiger überhaupt nach Berlin ist - und nicht bloß hier im Ghetto verloren gegangen ist. Oder vielleicht im Jugendknast gelandet ist.“
„Gibt es vielleicht jemanden, der den Vater näher kannte?“
„Das bin ich der Falsche. So eng ist der Kontakt der Jungs untereinander oder zu mir nicht. Ich meine, da müsste ja ein richtig enges Verhältnis zur Familie bestanden haben, damit auch ohne Tiger weiter eine Verbindung besteht. Aber soweit ich weiß, gab es eine Großtante, bei der Tiger manchmal geblieben ist.“
Er scheint nachzudenken und ich unterdrücke den Impuls, ihn zu drängen. Meiner Ungeduld nachzugeben. Stattdessen nutze ich die Pause, um Dirty zu übersetzen, worüber wir gesprochen haben.
Der schwergewichtige Sozialarbeiter hat in den Tiefen seines Gedächtnisses gefunden, wonach er geforscht hat. „Mathilde Fourchier. Fournier? Ja, Fournier. Ich glaube, dass war es.“
„Haben Sie eine Adresse von der Dame?“
„Schon möglich.“ Er dreht sich auf seinem Stuhl herum und bückt sich, um in einem Regal aus Ziegelsteinen und verzogenen Brettern mit dem Finger die Reihen aus Aktenordnern abzugehen. Seine Stimme durch die gekrümmt Haltung gedämpft, erklärt er uns: „Die meisten meiner Jungs habe in irgendeiner Form hier in meinen Unterlagen. Manchmal nicht mehr als ein Name und eine Adresse, manchmal sogar so Zeug wie Impfbücher oder offizielle Bücher.“ Er zieht einen der Ordner heraus, blättert darin herum. „Zu Hause kümmert sich oft niemand um solche Sachen. Deswegen bringen sie mir den Kram häufig von sich aus. Manchmal muss ich allerdings deutlich nachdrücklicher werden, bevor sie mir auch nur einen winzigen Teil ihrer Persönlichkeit überlassen.“ Ich kann sein Lächeln hören, auch wenn sein Gesicht weiterhin verdeckt ist.
„Ich kenne das – das war bei unseren nicht anders.“ Und ich muss daran denken, dass ich von Tiger jahrelang nicht mal den richtigen Namen kannte. Geschweige denn wusste, dass er Franzose ist.
„Hier ist er“, verkündet Bruno und knallt einen Ordner auf den Tisch. Leckt sich den Zeigefinger an, blättert. Seine Augenbrauen ziehen sich zusammen, dann sagt er: „Madame Mathilde Fournier – da ist die alte Dame.“ Nach einem Augenblick nennt er eine französische Adresse in Saint-Denis. Ich sehe Dirty fragend an – ob er sich die wohl merken kann. Er nickt. Als Bruno ihm Stift und Zettel anbietet, winkt er ab.
„Ich habe natürlich keine Ahnung, ob sie dort noch wohnt. Oder überhaupt noch lebt.“ Er schaut mich für einen kurzen Augenblick eindringlich an. Ich nicke. Mir ist völlig klar, dass sie unsere letzte Spur ist. Wenn wir nicht versuchen wollen, über das französische Landeseinwohneramt zu gehen, um Informationen über seinen Vater zu erhalten. Vermutlich würden sie jeden auslachen, der versuchen würde, Daten aus dieser Dystopie zu gewinnen.
„Von seinen alten Kumpels gibt es unter den Jugendlichen niemanden mehr?“
Er überlegt einen Augenblick, schüttelt den Kopf, denkt noch mal nach. „Alain. Der ist aber auch nicht mehr Teil der Truppe. Hat tatsächlich eine Lehrstelle als Mechaniker gefunden. Kfz-Mechaniker“, fügt er mit anerkennendem Gesichtsausdruck hinzu, als hätte sein Zögling den Nobel-Preis erhalten. Vielleicht kommt es in diesem dämlichen Ghetto tatsächlich einer Auszeichnung gleich, wenn einer von ihnen eine Lehrstelle bekommt, denke ich mit einem Seufzen.
„Ich schreib’s Ihnen auf“, sagt Bruno und kritzelt etwas auf einen kleinen Zettel. Als er in mir reicht, will ich ihn wegstecken, aber Dirty schnippt mit den Fingern. Er hat den Arm ausgestreckt und sieht mich kritisch an. Ohne Widerrede reiche ich ihm den Zettel und sehe zu, wie er ihn einsteckt, nachdem er einen kurzen Blick darauf geworfen hat.
„Es geht nicht um einen Diebstahl oder ein anderes Bagatelldelikt, oder?“, fragt Big Bruno unvermittelt und sieht mich dabei intensiv an. Mit seinen buschigen Augenbrauen macht er einen traurigen Eindruck – wie der alternde Clown, der weiß, dass ihm das Publikum längst weggelaufen ist. Ich schüttle den Kopf, verschiebe einen Spiralblock auf dem Tisch mit den Fingern.
Endlich raffe ich mich auf, sehe Bruno direkt an und antworte: „Ihm wird vorgeworfen, einen Mord begangen zu haben.“
Der Sarde verzieht das Gesicht, als verspürt er einen körperlichen Schmerz. Sieht dann rüber in den düsteren Gang – sieht seine Jungs draußen vor dem gedanklichen Auge. Tiger war mal einer davon.
Mit dunkel belegter Stimme fragt er: „Und diese Geschichte hat etwas mit euch zu tun, sehe ich das richtig?“ Mir fällt auf, dass er das ‚Sie‘ fallengelassen hat.
Ich nicke ein weiteres Mal. Antworte: „So wie es aussieht, hat er meine Freundin brutal ermordet.“