Hennemanns Tod

Erzählung zum Thema Persönlichkeit

von  TassoTuwas

Hennemann war gestorben, war unübersehbar tot. Sechs Anzeigen in der Zeitung bewiesen es schwarz auf weiß.
Die erste von der Familie.
Wir trauern um unseren geliebten Vater, Großvater, Urgroßvater usw.
Das übliche halt, ...aber mein Gott war der Kerl alt geworden, ...fast hundert.
Die zweite von der Schule.
Wir nehmen Abschied von unserem langjährigen Kollegen, der seine Lebensaufgabe darin sah jungen Menschen usw. usw.
Zu seiner Zeit nannte sich der alte Backsteinbau noch "Carl Peters Gymnasium", dann wurde er in "Martin Luther King Schule" umbenannt. Da war Hennemann schon im Ruhestand. Es passte besser in die Zeit wegen der Neger, sogar im doppelten Sinn, und Hennemann hat das bestimmt zweifach nicht geschmeckt.
Die dritte vom Philologen-Verband.
Heute hat uns die traurige Nachricht erreicht, dass unser geschätzter Kollege usw. usw.
Die vierte hatte zuoberst ein putziges Wappen mit der Inschrift Angelesia.
Tief berührt hat uns die Nachricht vom Heimgang unseres Bundesbruders, usw. und dann noch was von Ehre, Volk und Vaterland.
Jetzt war auch klar woher die auffällige Narbe über der linken Gesichtshälfte stammte.
In der fünften gab sich der Heimatverein "Tru un fast" tieferschüttert über das Hinscheiden seines Ehrenvorsitzenden und in der sechsten beklagte die "Concordia" den Verlust des mit der goldenen Sängernadel Ausgezeichneten.
Fast eine ganze Zeitungsseite nur Hennemann. Kein Zweifel, Hennemann hatte tiefe Spuren hinterlassen, gehörte zu den herausragenden Persönlichkeiten dieses Nestes und ich hatte ihn einfach vergessen. Hatte ihn schon vor fünfzig Jahren ohne Bedauern sterben lassen.
Was hätte er dazu gesagt?
Wahrscheinlich mit schnarrender Stimme, "Klattke, das wundert mich nicht im Geringsten, du bist ignorant geraten!" Und dann nach einer viertel Drehung, "Karin, sei so doch so nett und mach bitte das hintere Fenster auf". Ganz freundlich hätte er das gesagt und dabei gelächelt.
Es gab nämlich zwei Lager quer durch die Klasse.
Im erste Lager waren Christian, Horst , Karin, Ingrid, Jens, Uwe und noch vier oder fünf. Zum zweiten Lager zählten Buschmann, Wegner, Kowalski, Bauer, Protschka, ich Klattke und der Rest.
Hennemann wusste natürlich zu unterscheiden.
Christians Vater war der Apotheker, dem von Karin gehörte das Autohaus, Sabine war die Tochter des Vorsitzenden vom Tennis-Club, Uwes Mutter Leiterin der Musikschule, Jens Eltern betrieben die Metzgerei am Markt und der Onkel von Horst gab den stellvertretender Sparkassenchef.
Kowalskis Vater schaffte auf dem Bau, Zimmers Vater war arbeitslos, Wegener war unehelich, die Mutter der zweiten Karin in der Klasse, die aber nie so gerufen wurde, hielt sich als Heimschneiderin über Wasser, Buschmanns Vater kam als einer der Letzten aus der Gefangenschaft, war seitdem krank. Prokschas Vater immer noch vermisst und meiner reparierte Fahrräder. Mit dem Elternhaus der anderen aus dieser Truppe war auch nicht viel Eindruck zu machen.
So stand also Hennemann drei Jahre vor uns Eingeteilten und gab die Aufsätze zurück.
"Ingrid, wie immer, sehr schöne Arbeit. Zettler, Thema verfehlt! Limperg, wieder mal nichts Gescheites. Jens, sehr erfreulich, ...ach grüß doch deine Eltern von mir. Dumsky, dein Name sagt ja schon alles. Sabine, du kannst es eben. Klattke, Hopfen und Malz verloren, usw. usw.
Immer die gleich Prozedur. Wenn er Jens Grüße an die Eltern ausrichten ließ, wussten wir, dass er am Samstag mit leeren Händen die Metzgerei betrat und mit einem dicken Paket wieder herauskam.
Immer die gleiche Prozedur, auch dass wir uns  jedes Mal in der letzten Stunde vor den Ferien anhören durften, wie er und seine Kameraden es dem Iwan am Kursker Bogen gegeben hatten.

Am Abend rief Bauer an.
"Haste gelesen von Hennemann?" Wolln wir zur Beerdigung gehen?"
"Klar Kurt, ...", sagte ich, "...wir bilden Spalier, auf der einen Seite Ingrid, Eva, Horst, Christian, Karin, Jens und auf der anderen du, ich, Buschmann, Prokscha, Zimmer und Kowalski!"
"Gute Idee...", sagte er, "...und hinterher besaufen wir uns!"

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Kommentare zu diesem Text


 TrekanBelluvitsh (11.10.14)
Reinhard Heidrich war auch ein guter Geigenspieler.
(Oder ist das zu früh?)
Graeculus (69) meinte dazu am 11.10.14:
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 TrekanBelluvitsh antwortete darauf am 11.10.14:
Hahaha...
Ich habe erst Rainhard Heydrich geschrieben, es mir angeschaut und dann gedacht: 'Das stimmt doch nicht'. Ja, das kommt davon, wenn man zu viel herumeiert.
(Antwort korrigiert am 11.10.2014)

 TassoTuwas schrieb daraufhin am 11.10.14:
Trekan, der Führer hat ja Postkarten gemalt. Man versteckt sie aber vor uns, vielleicht sind sie so zu schön!!

 TassoTuwas äußerte darauf am 11.10.14:
Graeculus, wenn man lange genug sucht findet man bei jedem etwas Nettes.
Graeculus (69) ergänzte dazu am 11.10.14:
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 TassoTuwas meinte dazu am 11.10.14:
Vielleicht hatte er ja einen Hund, der ihn mochte!
OK, wenn ein Hund jemand ist??
Inis (48)
(11.10.14)
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 TassoTuwas meinte dazu am 11.10.14:
Hallo Inis,
Theater ist ein gutes Stichwort. So wie ein Regisseur ein Stück brillant gestalten kann, so kann er es auch zu Grunde richten. Lehrer sind Regisseure die Kindern auf die Lebensrolle vorbereiten sollen.
Es gab aber auch damals Gute.
LG TT

 princess (11.10.14)
Lieber TT,

oh wie vertraut es mir ist, dieses pädagogische Geschick. Ich habe es vor allem in der Grundschule erlebt: Da gab es für die einen Fleißbildchen und für die anderen den Rohrstock. Von sozialer Diskriminierung hatte ich damals noch keine Ahnung und welcher Makel einem Arbeiterkind anhaften sollte, das habe ich auch nie verstanden.

Eine Erzählung, die auf den ersten Blick nüchtern aus vergangenen Zeiten berichtet. Gerade diese vordergründige Sachlichkeit macht den Mief und die Kälte und die Ungerechtigkeit dahinter besonders spürbar.

Das Spalier am Ende: Ganz große klasse!

Liebe Grüße
Ira

 TassoTuwas meinte dazu am 11.10.14:
Hallo Ira,
auch wenn der Abstand alle Ecken runder macht, die Verletzungen der Kinderseele bleiben im Lebensrucksack.
Freut mich, dass das was ich sagen wollte genau so bei dir angekommen ist.
Liebe Grüße
TT

 Regina (11.10.14)
Rückschau auf eine Zweiklassen-Teilung im Schulzimmer, eine der möglichen Lehrerrollen ganz nüchtern und realistisch dargestellt. Man fragt sich: Wo waren die Eltern, die sich hätten beschweren sollen, wo der Direktor und der Schulrat, die ein solches Verhalten nicht abmahnten?

 TassoTuwas meinte dazu am 11.10.14:
Hallo Regina,
wo waren sie alle? Lass mich mit einem Beispiel antworten.
Kam ein Kind von der Schule nach Hause und sagte, "Der Lehrer hat mir eine Ohrfeige gegeben", konnte es passieren, dass es gleich noch eine bekam, mit der Erklärung, "Dann hattest du sie auch verdient!"
Noch gar nicht so lange her.
LG TT
LottaManguetti (59)
(11.10.14)
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 TassoTuwas meinte dazu am 11.10.14:
Die Grundstrukturen sind und bleiben wohl unveränderlich, was sich ändert sind die Methoden.
Die blauen Flecken auf der Seele lassen sich auch durch das neueste Smartphone nicht ungeschehen machen!
Liebe Grüße.
LottaManguetti (59) meinte dazu am 11.10.14:
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 TassoTuwas meinte dazu am 11.10.14:
Es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde, die lassen sich im Labor nicht beweisen.
Parapsychologisch gesehen
Gringo (60)
(11.10.14)
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 TassoTuwas meinte dazu am 11.10.14:
Es wird sich nicht vermeiden lassen, dass uns im Laufe des Lebens irgendwelche Vollpfosten eine Zeitlang begleiten.
Als Erwachsener kann man sich wehren, als Heranwachsender und dann noch in einem Abhängigkeitsverhältnis ist das kaum möglich.
Sensibilität scheint nicht erlernbar, Egoismus schon.
Sich Vorteile schaffen und durchs Leben mogeln ist die Kunst die sich auszahlt.
Danke für deinen Kommentar.
Liebe Grüße
TT
Graeculus (69)
(11.10.14)
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 TassoTuwas meinte dazu am 11.10.14:
Die Allermeisten waren ja nicht so, aber das tröstet die wenig, die an den Falschen geraten sind und es braucht fünf Gute um das auszugleichen was ein Ignorant beschädigt.
LG TT
(Antwort korrigiert am 11.10.2014)

 Annabell (11.10.14)
Immer wieder sind in allen Nachrufen nur Lobhudeleien zu lesen und zu hören. Wie oft steckt ein böser Mensch, ein Schuft dahinter. Wie soll man das auseinander halten und wann kommt die Wahrheit zutage? Wenn ich daran denke, welchen Nachruf H. Kohl bekommen wird... Heute beschimpft er "sein Mädchen" (A. Merkel) mit dem Spruch, "sie konnte noch nicht einmal mit Messer und Gabel essen". Prost Mahleit"
LG Annabell
(Kommentar korrigiert am 11.10.2014)

 Dieter_Rotmund meinte dazu am 11.10.14:
Medias in res: Im Text fehlen ein paar Kommas und insgesamt vielleicht doch ein wenig zuviel "usw."?
Dennoch gern gelesen, ist knackig, leider schimmert mir etwas zuviel Sozialneid des Erzählers durch.

Wirft schlussendlich die Frage auf: Zu welchen Teil hat man selbst gehört? Hier wollen offenbar alle zu den "Guten" gehören. Das scheint mir doch allzu einfach.

 TassoTuwas meinte dazu am 12.10.14:
Hallo Annabell,
Nachrufe und Büttenreden sind nicht Ernst zunehmen. Sie sind nur Selbstzweck aber immerhin haben sie etwas Erheiterndes.
Liebe Grüße
TT

 TassoTuwas meinte dazu am 12.10.14:
Hallo D_R,
die vielen usw. sind bewusst eingesetzt und sollten auf die bekannten Gemeinplätze, die bei diesen Gelegenheiten gebetsmühlenartig gebraucht werden hinweisen.
Sozialneid, den es ja in dieser Zeit noch gar nicht gab, steht nicht im Vordergrund. Es ging mehr darum den Wandel im Schulbereich, ich gebe zu an einem drastischen Beispiel, zu zeigen.
Gruß TT

 EkkehartMittelberg (12.10.14)
Gut erzählte Satiren wie diese sind dicht an der Wirklichkeit und manchmal sind sie sogar real.
Herzliche Grüße
Ekki

 TassoTuwas meinte dazu am 13.10.14:
Und manchmal verschwimmen die Grenzen zwischen Realität und Fiktion.
Herzlichen Gruß und Dank
TT
Scrag (28)
(13.10.14)
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 TassoTuwas meinte dazu am 13.10.14:
Hallo Markus,
ich musste mich erst mal am Boden fest dübeln, sonst wäre ich nach deinem Kommentar in die Stratosphäre abgehoben. ;.))
Schreiben dient ja nicht dem Selbstzweck, so ist die positive Rückmeldung Bestätigung und Freude und gibt neue Schubkraft für weitere literarische Versuche.
(wie du wohl selbst bestätigen kannst)
Hab herzliche Dank dafür.
LG TT

 irakulani (16.10.14)
Soviel zur klassenlosen Gesellschaft. Früh lernen schon die "Kleinen", dass es Unterschiede gibt...

L.G.
Ira

 TassoTuwas meinte dazu am 17.10.14:
Hallo Ira,
es kommt auf den Unterschied an.
Manche sind übel, andere ganz amüsant! )
Liebe Grüße
TT

 harzgebirgler (21.03.21)
so pauker hatt' ich auch - bereiteten viel'n ungemach
und starben uralt - weinte denen keine träne nach!

grandios geschrieben & auf den punkt gebracht!

lg
harzgebirgler

 TassoTuwas meinte dazu am 21.03.21:
Diskriminierung gibt's in allen Lebenslagen
wir mussten sie als Schüler schon ertragen!

Herzlichen Dank für deine lobenden Worte
LG TT
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