Unter Kannibalen

Beschreibung zum Thema Hilfe/ Hilflosigkeit

von  LotharAtzert

"Hilf dir selbst, so hilft dir Gott"
Gottfried Keller - Das Fähnlein der sieben Aufrechten

"Wir sind eine Hausgemeinschaft, da hilft man sich gegenseitig, wenn einer in Not ist, das ist doch selbstverständlich. ..."
Diese Worte meiner sechs Jahre jüngeren Schwester bekam ich zu hören, nachdem ich also auf Krücken ging und sie nur recht zögerlich mit diversen Angelegenheiten belästigte, deren dringlichste der Lebensmitteleinkauf war.
Eine Hausgemeinschaft, ja - die Schwester, politisch weit links der Mitte, und ich, wir hatten nicht viel gemeinsam, sieht man einmal vom Elternhaus ab, in welches wir nach dem Tod unserer Erzeuger irgendwann wieder aus finanziellen Gründen zurück zogen. Das geschah anfangs nicht ohne Gruselmomente - die ganzen unangenehmen Kindheitserinnerungen schienen in den Wänden überlebt zu haben und kamen, vor allem abends, wenn es draußen stiller wurde, so je und je wieder zum Vorschein. Wobei es weniger die Schläge waren, die ich durch den Vater oft zu erdulden hatte, sondern mehr die seelische Vereinsamung, unter der ich litt. Als Kind dachte ich sogar, daß ich bei der Geburt vertauscht wurde - bis ich irgendwann begriff, daß das bei einer Hausgeburt faktisch unmöglich ist.
Doch sei's drum, ich war von Anfang an stiller, zurückgezogener, grübelnder, als der Rest der Familie und merkte rasch, daß niemand sich für das Ergrübelte interessierte, so daß ich mich mehr und mehr verschloß, während man diesem "aus der Art Geschlagenen" mit platten Ratschlägen begegnete, wie: "Bub, geh doch mal an die frische Luft, du bist ja ganz blaß ..."

Als ich eingeschult wurde, kam dann die Schwester zur Welt und soweit ich es mitbekam, wurde sie nicht mehr geschlagen, da Vater sich schon an mir abreagierte und ihm möglicherweise auch die Körperkraft ausging. Dafür prügelte er mich alle vier Wochen zum Friseur. Kam ich zurück, mußte ich erneut hin, weil die Haare ihm nicht kurz genug erschienen. Das wurde zum Ritual - die mitfühlende Friseursgattin sprang ein und trocknete mir jedesmal die Tränen. All das und vieles mehr schlummert bis heute in den Wänden des Elternhauses. ...

Man hilft sich also gegenseitig. Klar bin ich dankbar dafür, daß ich noch nicht verhungern muß, gar keine Frage!  Aber schon grübelt die alte Leidenschaft in mir fort: Es ist die körperliche Versehrtheit, die an der Person sichtbare, welche die meisten dazu animiert, "selbstverständlich" zu helfen. Man könnte ja jederzeit selbst in die Lage kommen, auf diese Art Hilfe angewiesen zu sein. Eine moralische Haltung also.
Nur was ist mit der seelisch-emotionalen Hilfe, deren Bedürftigkeit nicht sogleich ins Auge springt? Dabei leidet manch empfindsames Wesen viel ärger an Ignoranz und Grobheit der Zeitgenossen, als an körperlichen Mängel. Gerade in unserer Zeit. Und ob der staatlich examinierte Psychiater, der dafür vorgesehen ist, wirklich geeigneter ist, als ein lebenserfahrenes, freigiebiges Herz, da melden sich die Zweifel. Einem Staatsdiener würde ich sowieso nie mein Innerstes anvertrauen.
Und nicht genug damit, die zahllosen Krankheiten oder auch nur Verwirrungen des Geistes - jene mitunter bizarren Mischungen aus Gier, Haß, Unwissenheit - wer soll die denn überhaupt "objektiv" diagnostizieren? - Schaue ich auf die Entwicklung der Welt, so scheint mir die Geisteskrankheit sogar als Standart wahrscheinlicher, denn eine Gesundheit. Und der Rest, jene sieben "Aufrechten", wird durch Anpassung gezwungen, mitzumachen - oder man geht in die innere Emigration. Das heißt, von dieser Seite Hilfe zu erwarten, ist selbst schon ein Indiz für Geisteserkrankung.

Eine Geisteskrankheit ist auch der Stolz. Womit ich wieder zur Knieverletzung komme. Das  Knie, als Gelenk, verleiht dem Bein erst seine Bestimmung, nämlich die des Gehens, indem es diesem - sinnvollerweise zwischen Oberschenkel und Wade angeordnet - einen fließenden Bewegungsablauf ermöglicht.
Je mehr der Geist sich jedoch in einer ausschließenden, "exklusiven" Haltung versteift, umso hölzerner (-Stolz und Stelze-) zeigt es sich als Entsprechung in der Gangart. Das heißt, die innere Haltung der "Unbeugsamkeit" wird in der Physis als Einschränkung der Beweglichkeit des Knies erfahren.
Das Wissen hierüber nutzt freilich zunächst wenig, solange keine Änderung im Verhalten geschieht - und dennoch ist es ein erster Schritt: sobald man um das Falsche einer Handlung weiß, ist sie nicht mehr so leicht zu ignorieren.

Stolz ist nach Auffassung der Buddhisten das charakteristische Geistesgift der Götter: Obwohl sie im Vergleich zu Menschen viel mehr Freiheiten genießen, hängen sie doch noch an der Vorstellung eines beharrenden Selbst, welches das Wahre und Gute um jeden Preis will. Dh. sie sind stolz auf Vollkommenheiten, wie Freigiebigkeit und Weisheit etc. und das führt irgendwann, wenn ihre Zeit gekommen ist, zu ihrem Untergang.
Alles ist im Fluß und Bleiben eine Illusion.

Nicht daß mir die anderen Geistesgifte fremd wären - aber der Stolz war stets dominant. Doch wenn ich mich frage, auf was ich denn so unwahrscheinlich stolz bin, dann überkommt mich so ein Zögern, als möchte das Enttarnte nicht ohne Schutz ins Bewußtsein: stolz auf mein eigenständiges Denken, für das ich oft und vieles bezahlt habe. Bezahlt mit Abgelehntwerden selbst im Freundeskreis, gesellschaftlich sowieso. Der Mangel an Stallgeruch witterten sie alle und ich floh in die Einsamkeit kalter Geistesgipfel. Meine erste Freundin, das war, als die Kinks "You really got me" herausbrachten, fragte mich eines Tages, da ich viel Zeit dem Gitarrespiel opferte: "Was ist dir wichtiger - die Gitarre, oder ich?"
Es brach mir fast das Herz, aber hatte ich eine Wahl? Keinerlei Grund für Eifersüchtelei gab's doch von meiner Seite bis da hin ...
"Die Gitarre ist mir wichtiger." hörte ich mich folglich sagen. So gingen wir durch meine starre Haltung im Schmerz auseinander. Das war der Auftakt zu noch weit schlimmerem. Ich hörte vom Barden  Leonard Cohen, daß er sich sein Fleisch selber schlachten wolle, oder im Falle des Scheiterns ein vegetarisches Leben zu führen gedachte. Das nannte ich Konsequenz und folgte ihm diesbezüglich, dh. ich lebte fortan als Vegetarier, da ein "Kehle durchschneiden" für mein Empfinden nicht infrage kam. Die Folge: ich sah auf jeden sich beim Metzger bedienenden "Kannibalen" voller Verachtung herab und steckte die Zunge ums Verrecken in keinen Frauenrachen mehr, in dem zuvor Wurst gekaut wurde.

Im Vajrayana, anders als bei den Hindus, gibt es Initiationen, innerhalb derer ein Essen von Fleisch, sowie das Trinken alkoholischer Getränke gefordert wird: Man geht bewußt eine karmische Verbindung ein mit den getöteten Tieren und verspricht feierlich, ihnen in einem späteren Leben nützlich zu sein. Das ist eine Haltung, die mir eher zusagt, als das westliche würdelose Umgehen mit "Schlachtvieh" und ich aß das Fleisch ...  offenbar nur halbherzig: bei mir ist Hopfen und Malz verloren. ...

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Kommentare zu diesem Text

BabetteDalüge (67)
(24.11.15)
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 LotharAtzert meinte dazu am 24.11.15:
"Hilf dir selbst, so hilft dir Gott";-)))
BabetteDalüge (67) antwortete darauf am 24.11.15:
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 LotharAtzert schrieb daraufhin am 24.11.15:
Babette, die Welt dreht sich nicht nur um Dich oder mich. Das doppelsinnige Zitat von Keller, jetzt verdoppelt, ist des Nachdenkens durchaus wert.
Wegen dir schämen - das hättest Du wohl gern.
BabetteDalüge (67) äußerte darauf am 24.11.15:
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 LotharAtzert ergänzte dazu am 24.11.15:
ja bitte bitte, gern geschehen. ...
@ Babette - von einem "guten" Ruf war nie die Rede. Das wäre ja eine Katastrophe.
(Antwort korrigiert am 24.11.2015)

 LotharAtzert meinte dazu am 24.11.15:
@ kojote - es schmerzt ein wenig, daß Dir der eigentliche Text offenbar nichts sagt, aber ich werde wohl auch das überleben, da oben auf dem Krückenberg ...
BabetteDalüge (67) meinte dazu am 24.11.15:
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 LotharAtzert meinte dazu am 24.11.15:
Die Rede war vom schlechten Ruf, der einem Inoffiziellen ziemt. An dem hab ich hart gearbeitet, ja. Auf einen gute Ruf unter Offiziellen ist hingegen geschissen. Komisch, was Du hier alles so in meine Worte interpretierst.
Und ob im kV ein Staubsauger von Interesse ist, also ... hm ... Kojote hat recht, eine witzige Konversation.
BabetteDalüge (67) meinte dazu am 25.11.15:
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