Vom Gewissen und dem wackelnden Zahn der Zeit

Essay zum Thema Essen/ Ernährung

von  LotharAtzert

Wieviele Kühe mag ein Mensch in seiner Lebenszeit essen? Wieviel Schweine, wieviele Hühner, Fasane, Austernpilze?
Wieviel Eier esse ich, wieviele Früchte beißt mein inzwischen wackelnder Zahn in der Lebens-Zeit auf Erden? Viele viele ... kleine und größere Lebewesen.
Da ist nicht eines darunter, nicht eines von den Myriaden Wesen, das freiwillig auf sein Leben hätte verzichten wollen. Leichenäcker, Angstschweißwolken, Schmerzenslaute, Todesschreie, schmatzen, grunzen, verdauen, ficken für Nachschub weltenweit und -breit. Und unter Menschen fein geregelt. Jeder Furz ist bezahlt.
Jedem Einzelnen wurde und wird Gewalt angetan. Und jeder "Gesunde" übt Gewalt am Nächsten aus. Ein gewaltiges Fressmonster ist der Lebenstrieb.
Der natürliche Trieb, Vertreibung, Tod und Verdauungswinde (Ver-Wesung) bedingen sich permanent, meine sehr verehrten Fresser, liebe Scheißende. Der Fresser von allem ist am Ende der Tod. Er beendet das Wohnrecht des Geistes im Körper. Der hat dann keine Werkzeuge mehr, um nach etwas zu greifen. Nackt schwebt er über früher Erworbenem - und kann es nicht mehr nutzen.
Was man mag, geht durch den Magen. Ich mag Widersprüche, die das Wesen herausfordern, sich auf das Wesentliche zu beschränken. Das Wesentliche eines Wesens ist permanente Wandlung.

Was kann man da tun? Die Fresse halten? Verhungern?
Das zu erwägen gehört alles zur Bestandsaufname, der sogenannten "Realität".
Erst dann, wenn wir das Ausmaß denkend erahnen, wird es möglich, darin die Stimme des Gewissens wieder zu hören, das heißt, ihren Answeisungen folgend, den mittleren Weg des Mitgefühls mit allen Wesen als Lebensmaxime einzuschlagen und deren Position stets neu zu justieren: eben nur soviel töten, wie der sterbliche Körper für die Selbsterhaltung benötigt - und Dankbarkeit dem Geist der von uns Getöteten erweisen. Das ist die Haltung, welche unter Buddhisten Bodhisattva genannt wird. Bodhi, ein Begriff aus dem Sanskrit, ist Erleuchtung und Sattva das Wesen. Dankbarkeit gegen alle und Mitgefühl mit jedem, das ist bodhisattva-like.

Das Gewissen ist kein relativierendes Schuldgefühl, sondern eher Bestandsaufnahme im Bewußtsein. Es ist Voraussetzung für das, was die Lateiner mit religio meinten: die Wieder-Bindung an den Ursprung, dem sich der erd-gebundene Geist freudig unter-ordnet.
Wo das Unterordnen allerdings zum Zwang wird, zur Unterwerfung, ist es nicht mehr der Ur-Sprung, sonder nur noch die Vor-Stellung des Subjekts davon.

Das Ende der Zeit ist des Sterblichen Ende, nicht des Unsterblich-Zeitlosen. Was unsterblich ist und was nicht, wird sich am Lebensende zeigen: jedem wird, was er sich erwirkte. Und so wird jedem zukünftig auch das, was er im Hier und -jetzigen Leben durch Taten ansammelt.

Dankbarkeit denen gegenüber, die unser Leben mit ihrem Tode bezahlen ist die Haltung, zu der für den Bodhisattva noch das Versprechen kommt, dem Geiste der Getöteten fortan ein Diener auf dem Weg zur Befreiung von Anhaftungen zu sein - wann, wo und unter welchen Bedingungen, ist dabei nicht entscheidend, es geht in erster Linie um die Bewußtseins-Haltung, welche weit über den christlichen Eucharistiegedanken hinausgeht.

Diese Haltung kultivierten indische Krieger sogar auf dem Schlachtfeld: man jubelt nicht nach einem Sieg, sondern trauerte um die Gefallenen des Feindes ebenso aufrichtig, wie um die Freunde, ehrt beide gleichermaßen.

Bei uns? - Vergessen und gegessen, von Lethe, zum Frühstück verzehrt, auf dem Weg zur Uni ... vergessen und gegessen, unbewußt ausgeschissen. (Klopapier nicht vergessen!) Das Bild der heilen, ja fast heiligen Familie am gedeckten Tisch, die Mahlzeit dampft, wie das feine Benehmen, der Ballanceakt des Bissens vom Zerstückeln bis zum Transport auf der Gabel zum Mund, mit gespreiztem kleinen Kulturfinger, Solingen rostfrei ... so gedenkt un dankt man europäisch denen, die es mit ihrem Leben bezahlen. Danke, Herr Rach! ( ... das Restaurant, der Biß der Natter in den Rachen.)
Noch einen Nachtisch, einen Weinbrand zur Abrundung, mein lieber Gast? Zum Wohl denn Dir und aller Wesen.
 Wardruna - Loeyndomsriss

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Kommentare zu diesem Text

Festil (59)
(10.03.17)
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 LotharAtzert meinte dazu am 10.03.17:
Oha, der Eugen Drewermann.
Erst mal Danke für Empfehlung und Lieblingstext.
Aber muß es denn Pfarrer Drewermann sein, dem du mich zugesellst? Naja, es hätte ja noch schlimmer kommen können - Jürgen Fliege oder was es noch so gibt ... Jürgen Drews, nein, das ist ein anderer.
Was mich an D. stört, ist nicht so sehr der Inhalt, also was er sagt, sondern wie er es sagt: betroffen, leidend, nicht neutral für den Zuhörer. Die weinerlich klingende Stimme empfinde ich als manipulierend und deshalb bin ich ob des Vergleiches etwas erschrocken. Auch ist er am letzten Tag Zwilling geboren und somit noch kein Krebs. (die sind meistens seelenvoll)
Ein Offizieller, der die Offiziellen kritisiert - das nehme ich ihm nicht ab - aber wenn Du ihn gut findest, ich will ihn dir nicht madig machen, sondern mich wundert nur der Vergleich.
Danke Dir
Lieben Gruß auch
L.
Graeculus (69) antwortete darauf am 10.03.17:
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Festil (59) schrieb daraufhin am 10.03.17:
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 Jericho (12.03.17)
Der Eucharistiegedanke kann sehr tief gehen...ansonsten guter Text in einer Zeit, in der Dankbarkeit weitestgehend durch Selbstverständlichkeit ersetzt wird.
Gruß von einem veganen Christen (sowas gibts auch...)

 LotharAtzert äußerte darauf am 12.03.17:
Danke Jericho, ich wollt auch nicht despektierlich sein.
Hab’s nur bis zum vegetarischen Buddhisten geschafft.
Gruß
L.
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