Das Mädchen.

Text

von  Willibald


Das eine kann ich Ihnen sagen: So  schrecklich diese Geschichte auch ist, im Grund müssen diese Leute froh sein. Ich kenne die Familie seit Jahren, die Familie und ihre Leiden. Die Mutter des Mädchens ist in meinem Alter. Aber sie sieht, ohne jetzt übertreiben zu wollen, um zwanzig Jahre älter aus. Wie fünfzig, mindestens. Abgeschafft und ausgelaugt von den jährlichen Geburten.
Manchmal glaube ich, die sind wie Tiere, die weiden ihre Frauen aus, ohne über die Folgen nachzudenken. Was verdient er denn in der Fabrik? Bei unsereinem würde es kaum für vier Personen reichen. Wie gesagt, für das Mädchen muss der Tod eine Erlösung gewesen sein. Ich sehe sie vor mir, die Drittälteste, das erste Mädchen nach zwei Brüdern, der war die halbe Last des Haushaltes aufgebürdet. Das scheint bei denen üblich zu sein.
Oder lag's daran, dass Ayshe mit dieser Hasenscharte auf die Welt gekommen war? Sie hatte zweifellos wunderschöne Augen und dieses dichte, bläulich schimmernde Haar. Aber die Fratze darunter. Sie war das Gespött der Kinder auf der Straße. Was wäre ihr erst in der Schule passiert! Na gut, man hatte sie ohnedies zurückgestellt. Angeblich weil sie so schmächtig war. Aber man erzählte sich auch, sie ist nicht ganz richtig im Kopf. Wie hätte das alles enden sollen? Die Wespe erscheint mir als eine Art Vorsehung, wenn man so sagen darf.
Dass sie überhaupt Zeit hatte, ihren Brüdern beim Spielen zuzuschauen. Dort unten bei den Bäumen. Verstehen Sie? Sie schrie nicht. Sie konnte nicht schreien. Sie bekam keine Luft. Als die Sanitäter sie in den Wagen trugen, wirkte sie auf der Bahre noch kleiner. Fast, als wäre sie schon nicht mehr da.

Die Mutter Ayshes, groß, ein blaues Kopftuch, saß im Krankenwagen und hielt die Hand ihrer Tochter: das kleine Gesicht, der verzerrte Mund, die geäderte Schläfe. Die hätte nie einen Mann gekriegt, sie wäre der Familie erhalten geblieben und das wäre gut gewesen, denn sie war nicht dumm, auch wenn sie selten sprach. Sie war der Tante Ofra ähnlich, ein stummes Mädchen zuerst. Dann hatte Ofra sich aufgerafft, als der Bruder getötet wurde, der LKW hatte ihn getötet. Sie hatte den reichen Onkel bekniet, 20.000 hatte sie bekommen und die Familie konnte mit dem Bus von Istanbul nach München fahren. Der Neffe Heitham hatte sie alle aufgenommen fürs erste. Und dann hatten sie Arbeit bekommen. Und im Dorf eine Wohnung.

Der Wagen schaukelte und der Arzt legte Ayshe die Hände auf die Brust, der Schlauch in ihrem Mund atmete. Ayshe stand langsam auf, mit zärtlicher Leichtigkeit. Sie streichelte die Mutter über die Wange und sie sah die braungesprenkelte Haut. Ayshe wandte sich um und sie sah das Mädchen, das da lag. Es hatte Tante Ofras Augen und ihr Mund war Ofras Mund und die Hasenscharte konnte nicht verbergen, wie schön Ayshe  war. Sie wollte jetzt tanzen.  Oder schaukeln.  So wie sie es manchmal getan hatte.
Ihr Lieblingsbaum im Brachfeld, ein Baum mit schuppiger Borke, den hatte das Mädchen erstiegen. Sie saß oben in der Baumspitze, die Beine um den Stamm geschlungen, den Rücken zurückgelehnt, die Hände zogen so lange, bis der schwarze Baum schaukelte. Es war, als ob der Wind den Baum zog und sie war der Wind. Die Dorfbewohner würden sich wundern über den Baum im Brachfeld. Er bewegte sich, die Bäume daneben bewegten sich nicht.
Die Leute wussten überhaupt so wenig, so wenig, sie waren sehr weit weg und sie waren sehr klein. Und wenn Ayshe sich weiter wiegte, wirkten sie noch kleiner. Fast, als wären sie schon nicht mehr da.

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Kommentare zu diesem Text


 LottaManguetti (08.07.20)
Titel und Text und Erzählweise überhaupt - ein Genuss!

Lotta

 Willibald meinte dazu am 08.07.20:
Grazie, Lotta-

Ayshe wandte sich um und sie sah das Mädchen, das da lag. Es hatte Ofras Augen und ihr Mund war Ofras Mund und die Hasenscharte konnte nicht verbergen, dass Ayshe schön war und dass sie tanzen wollte. Oder schaukeln. So wie sie es manchmal getan hatte.

Ayshe wandte sich um und sie sah das Mädchen, das da lag. Es hatte Ofras Augen und ihr Mund war Ofras Mund und die Hasenscharte konnte nicht verbergen, wie schön Ayshe war. Sie wollte jetzt tanzen. Oder schaukeln. So wie sie es manchmal getan hatte.

p.s.
Das "Dass" schien mir die Faktizität noch einmal zu unterstreichen, nach dem "nicht verbergen". Aber das ist gar nicht notwendig oder besonders gut. Das "wie" scheint mir auch besser, weniger distanziert, nah an der Bewunderung, die das Mädchen verdient.

p.p.s.
Bin ein wenig über die Rhythmussache im Deutschen Duktus am Überlegen. Englisch gefällt mir irgendwie besser:

Ayshe turned around and she saw the girl lying there. She had Ofras eyes and her mouth was Ofras mouth and the harelip couldn't hide how beautiful Ayshe was. She wanted to dance now. Or swing. Like she did sometimes.

greetse
ww

Antwort geändert am 08.07.2020 um 12:51 Uhr

 LottaManguetti antwortete darauf am 09.07.20:
Moin, Willibald.
Englisch ist nicht so meine Sprache, wenngleich ich mich beruflich in dieser Sprache bewegen muss. Ich bin zwar schon uralt (für Sechsjährige bspw.), aber noch immer suche ich nach den Gründen.

Du nimmst Bezug auf meinen privaten Kommi.
Und ich mag besonders die zweite Version.

"Ayshe wandte sich um und sie sah das Mädchen, das da lag. Es hatte Ofras Augen und ihr Mund war Ofras Mund und die Hasenscharte konnte nicht verbergen, wie schön Ayshe war. Sie wollte jetzt tanzen. Oder schaukeln. So wie sie es manchmal getan hatte."

Das hat tatsächlich etwas Lyrisches und liest sich wunderschön.

Meinen Roman "Frieda" habe ich u.a. gezielt nach der Konjunktion "dass" durchforstet. Dabei lernte ich z.B., dass diese Konjunktion dem Schreiber vieles vereinfacht, wohingegen bei Vermeidung derselben der Text an Ästhetik gewinnen kann.
Mein Versuch, dir diese meine Erkenntnis mitzuteilen, hast du also aufgenommen. Tatsächlich (sehe ich jetzt) verschönert sich dein Textabschnitt dadurch.
Das heißt ja nicht, dass man das "dass" (lach) nicht verwenden sollte.

Ich meine ja nur ...

Dein Text gefällt mir außerordentlich. Da will ich gar nicht dran rumfeilen. Sicher haste selbst schon genug dran gearbeitet.
Es hat sich gelohnt!
Für mich: der bislang beste Text seitdem ich bei kV bin (2007)!

Plapper-Lotta (der Morgenkaffee tut seine Wirkung!)

 Willibald schrieb daraufhin am 11.07.20:
Ich danke dir sehr.
greetse
ww

 Mondscheinsonate (08.07.20)
Wunderbar erzählt, atmosphärisch, wirklich gerne gelesen!

 Willibald äußerte darauf am 08.07.20:
Danke, Monscheinsonate, das hilft und tut gut.

 Judas (08.07.20)
Sind die Illustrationen von dir? Ich find die gut.

 Willibald ergänzte dazu am 08.07.20:
Sind sie, danke für Zuspruch/Rückmeldung.

greetse
ww

 Mondscheinsonate meinte dazu am 08.07.20:
Wow!

 Lluviagata (08.07.20)
Der fließende, fast zärtlich zu bezeichnende Übergang vom Leben zum Tod tröstet über die beklemmende Atmosphäre hinweg, die zum Anfang der Geschichte entstanden ist.

Was weiß der Mensch, wie der andere ist, wie der denkt, fühlt, leidet und liebt. Das Äußere eines Menschen ist so wichtig geworden, geradezu in dem Maße, wie die inneren Werte unwichtig geworden sind. Leider.

Bildschöne Geschichte!

Liebe Grüße

Llu ♥

 Willibald meinte dazu am 08.07.20:
Gratias zu Deinem Kommentar, Llu!
greetse
ww

 AchterZwerg (08.07.20)
Die erste Zeichnung, liebster Willibald,
ist sehr, sehr gut. :)
Der Text nicht minder. - Du lässt diesmal den Sprachduktus des Intellektuellen links liegen und lieferst ein einfühlsame, lebensnahe Geschichte.
Nicht ohne einem klassischen Migrantenschicksal Raum zu geben. -
Ach, und dann die Beschreibung des Todes und seiner kurzen Vorstufe! Formidabel.

Rundherum entzückt
der8.

 Willibald meinte dazu am 08.07.20:
ok, sowas wie "Ich denke, also bin ich", sagt ein Intellektueller, der die Wirkungsmächtigkeit von Zahnschmerzen unterschätzt. Oder das Wunderbare der einfachen Geschichten.

Willibald dankt Dir sehr für deine Zeilen, liber8.

greetse
ww

Antwort geändert am 09.07.2020 um 07:50 Uhr
Aha (53)
(11.07.20)
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 Willibald meinte dazu am 11.07.20:
Danke an Dieter, Moja, Franky, Graeculus...für Empfehlung.
greetse
ww
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