Ich, Ludolf von Osten (1)

Erzählung zum Thema Wandel

von  Quoth

Das Lazarett von Mariupol ist es, das uns gelegentlich zusammenführt. Vater hat dort gelegen, nachdem er mit seiner treuen Lotte auf eine russische Kastenmine geritten ist, Kustos Eisenpflicht hat seinen Beinbruch dort ausgeheilt und Vater, ungleich schwerer betroffen, war sein Bettnachbar, so dass Eisenpflicht mir seine letzten Worte überbringen konnte: „Lies Karl May!“ Waren das wirklich seine letzten Worte? Hat er nicht vielleicht „Spiel Schalmei!“, gemurmelt? Denn die Schalmei war sein Lieblingsinstrument. Ich habe die Werke des sächsischen Vielschreibers durchforscht und unterhaltsame Spannung gefunden, aber nichts, worauf er sich bezogen haben könnte oder was mich besonders betraf. Und nun überbringt Eisenpflicht mir eine Schilderung Mays von meinem Domizil, die so zutreffend ist, dass ich sie publizieren muss – aber wo? Im Himmelsteiner Volksfreund? Das genügt nicht – sie muss öffentlich verlesen werden, aber von wem? Von Gustav Gründgens, der schon mehrfach mein Gast war und mit unglaublichen Rezitationen glänzte? Er rief zurück, er habe keine Zeit, er sei mit der Rolle des Mephisto so ausgelastet, dass er leider absagen müsse. Und die Flickenschildt? Von dieser maßlos überschätzten Selbstdarstellerin will ich mir keinen Korb holen. Aber Eisenpflicht hat eine Alternative: Warum nicht die Buchhändlersfrau, die das vergessene Jugendwerk Mays entdeckt hat? Minna spricht kein akzentfreies Hochdeutsch, aber sie ist Sächsin wie May – und außerdem, wie ich mich in der Buchhandlung habe überzeugen können, eine reizende Person; allerdings zierte sie sich lange, und erst nachdem ich sie einmal durch mein Gemäuer geführt und ihr gezeigt habe, wie der allgegenwärtige und fortschreitende Verfall mich drückt, da ich ständig ausbessern, retten, stützen und mit Mauerankern befestigen lassen muss, hat sie erkannt, dass sie mir einen Gefallen tut, wenn sie einen Beitrag leistet zu einer Veranstaltung, die sicherlich einiges an Spenden einbringen wird, zumal es mir auch gelungen ist, für musikalische Begleitung zu sorgen: Zwar leider nicht von der Himmelsteiner Schalmeienkapelle, denn die sind alle gefallen, aber Karla Janssen wird Ravel spielen auf ihrem Bechstein – nein, um Himmels willen, auf ihrem Blüthner, denn der Name Bechstein ist … Lassen wir das! Wie gut, dass ich zu spät geboren bin, um Nazi zu werden, sonst wäre ich jetzt womöglich Gauleiter von Böhmen/Mähren, habe es zum Glück aber nur zum Flakhelfer gebracht, und dann war es aus mit der Ganovenbande, die sich so blendend mit Idealen tarnte!

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