Fragwürdigstes

Erzählung zum Thema Schmerz

von  Quoth

Hedwig sah toll aus in ihrem schwarzen Witwenkleid von Balmain, d.h. es war ein anthrazitfarbener Hosenrock mit Weste und Bluse aus Crêpe de Chine, und sie hatte schon gesagt, dass sie anschließend noch zu den Freimaurerinnen gehen wollte. Erwartungsvoll sahen Herta, Else, Ellinor und Ute sie an. Sie waren alle auf der Beerdigung von Amandus gewesen und hatten geweint, als sie sahen, mit welcher Liebe sie die blauweiß gestreifte, von der IBM gespendete Urne mit den Armen umfing. Aber Hedwigs Eröffnung war enttäuschend. Sie berichtete nämlich nur von ihrem kaputten Receiver. Sie benötigte einen, weil sie fürs Fernsehen einen brauchte. Ihr Haus, ein alter Dreiseithof, war auf die Dachantenne angewiesen, weil es unter Denkmalschutz stand, ein Satellitenspiegel hätte die Harmonie des Denkmals verunziert – aber der Receiver funktionierte nicht, dauernd fiel er aus und musste neu booten, was besonders während eines Krimis sehr ärgerlich war, und Hedwig schaute gern Krimis. Sie erklärte die Umstände so gründlich, dass Else bereits mit den Augen rollte, was Herta gern als frommen Blick zum Himmel gedeutet hätte.

„Nun, und da habe ich Fernseh-Schmidtchen angerufen und sie haben mir diesen – Techniker geschickt, von dem ich euch erzählen muss. Ich verdanke ihm – nein, das glaubt Ihr mir einfach nicht, ich muss es anders anfangen.“ Hedwig ließ ihren Kuchen zurückgehen, sie müsse sich mit Fett und Zucker zurückhalten. Ellinor blinzelte Ute zu – sie waren sich einig, dass die frischgebackene Witwe figurbewusste Pläne für die Zukunft schmiedete.

„Ich muss ein wenig ausholen,“ fuhr Hedwig fort. „Ihr erinnert euch sicherlich an Amandus und an seine Stimme. Er war ein stattlicher Mann – in seinen guten Jahren – aber seine Stimme war ein wenig zu hoch, selbstkritisch nannte er sie seine Fistelstimme und war der Meinung, er hätte bei IBM mit einer ordentlichen Stimme ganz anders Karriere machen können. Wenn er sich aufregte und laut werden wollte, überschlug sie sich – und dann verstummte er sofort und war wütend auf sich selbst und dieses unkontrollierbare Organ … Soviel vorweg, ihr Lieben, denn was sich dann zutrug, als Herr Schlodenski, so hieß er, meinen Receiver reparierte, ist unfassbar. ‚Sie sind in Trauer,‘ sagte er und schraubte. ‚Wie kommen Sie darauf?‘, erwiderte ich schroff. ‚Das spüre ich,‘ sagte er, ‚es gehen immaterielle Algorithmen von Ihnen aus, die ich entschlüsseln kann.‘ Nun fing ich an zu weinen, denn er hatte ja Recht, und Mitgefühl von unerwarteter Seite ist so – wohltuend! ‚Und die Trauer um Ihren Mann ist besonders heftig aus einem bestimmten Grund – aber den vermag ich nicht zu entschlüsseln. Haben Sie ihm etwas Wichtiges nicht mehr sagen können?‘ Nun heulte ich noch mehr, denn es war genau das Gegenteil. Amandus ist Anthroposoph und weigerte sich, Schmerzmittel zu nehmen, und wenn die Schmerzen ihn überwältigten, schrie er so furchtbar, dass ich selbst verrückt zu werden fürchtete, ihn anschrie, als Heulsuse beschimpfte und ihm mit der Morphiumspritze drohte, aber die fürchtete er noch mehr und schrie noch lauter und mit sich überschlagender Fistelstimme: ‚Nein – nein – der Krebs tötet nur meinen Leib, Morphium tötet meine Seele!“ Ich rannte raus, schlug die Tür zu, legte ‚Je ne regrette rien‘ auf und stellte es so laut, dass ich Amandus nicht mehr hörte, rauchte mehrere Gitanes und trank Rotwein, aber als ich es zehnmal gehört hatte, merkte ich, dass er still geworden war, schaute zu ihm ins Zimmer – und da lag er mit offenem Mund in einem See von erbrochener schwarzer Galle …“

„Hör auf!“, rief Ute, „das ist nicht auszuhalten!“

„Das sagte Herr Schlodenski nicht, dem ich das erzählte. Er beendete seine Reparatur, testete den Receiver, er lief gut. Er stand auf und fragte: ‚Würde es Ihre Trauer lindern, wenn Sie noch einmal mit Ihrem Mann sprechen könnten?‘ ‚Das ist ja leider unmöglich!‘, war meine Antwort. ‚Nicht so ganz,‘ erwiderte Schlodenski. „Wenn Sie mir seinen Lieblingsplatz zeigen, könnte ich versuchen, ihn in mir immateriell zu konkretisieren. Ich leihe quasi seiner Seele meinen Leib!‘ ‚Meinen Sie das ernst?‘ Er nickte. ‚Es ist aber sehr anstrengend, weil die Berechnungen sehr komplex sind,‘ sagte er, als er sich auf Amandus‘ Lieblingssessel niederließ. ‚Was machte er hier?‘ ‚Er trank Pastis und las Le Monde. Hier liegt noch das letzte Exemplar, das er in Händen gehalten hat.‘ ‚Bring mir einen Pastis, Edvigue!‘, sagte er, lehnte sich zurück und hob die Zeitung vor sein Gesicht. Mir lief es kalt über den Rücken. Woher kannte er meinen Namen in der französischen Form? Ich brachte ihm den Anislikör, er goss ihn auf und trank ihn wie Amandus in kleinen genießerischen Schlucken. ‚Warum gönnst du mir nicht meine Ruhe?‘ fragte plötzlich die unverkennbare Fistelstimme, ich wich zurück – aber dann fiel ich auf die Knie und sagte: ‚Verzeih mir, Amandus! Ich habe dich angeschrien – und dabei warst du so tapfer!‘ ‚Ich weiß nicht, worum es dir geht.‘ 'Verzeih mir,' schrie ich, 'bitte verzeih mir, ich habe dich bis zur letzten Sekunde …‘ ‚Sei ruhig‘, schnitt er mir energisch das Wort ab und seine Stimme überschlug sich. ‚Ich danke dir, du dumme Gans! Du hast mir geholfen, los‘ … Die Zeitung sank herab, Schlodenski saß erloschen da. ‚Tut mir leid, ich habe nicht durchgehalten,‘ sagte er mit seiner normalen Stimme und stand auf. ‚Ich sagte schon, es ist sehr anstrengend und würde vielleicht sogar einen Quantencomputer überfordern.‘“ Hedwig verstummte.

Die Mädels schwiegen, Ellinor tippte die Krümel ihrer Torte auf, Herta schaute düster in ihren Kaffeesatz. Else raffte sich schließlich auf und fragte: „Hat er Geld verlangt für sein Zauberkunststück?“

„Ich habe ihm welches angeboten, aber er hat es abgelehnt.“

„Und geht es dir besser seit diesem – Kontakt?“

„Ja – etwas. Er hat mich ‚dumme Gans‘ genannt. Jetzt sind wir quitt. Und wofür er sich bedankt hat, das verstehe ich, glaube ich, auch.“

„Den würde ich gerne mal holen, um meine Großmutter zu fragen, warum sie Scharführerin beim BdM geworden ist und uns das nie erzählt hat …“ Ute begeisterte sich bei der Vorstellung, Lydia Seifert zur Rede zu stellen - und beinahe hätte sie auch noch Pedro erwähnt. Aber der war ja nicht tot, sondern lebte vergnügt in Barcelona! Aber Hedwig sagte:

„Ich habe bei Fernseh-Schmidtchen angerufen und mich für den tollen Techniker bedankt, den Sie mir geschickt haben. Doch ein Herr Schlodenski war dort nicht bekannt.“



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Kommentare zu diesem Text


 AlmaMarieSchneider (20.12.21, 21:59)
Wow!  Lieber Quoth, das ist ja schon ein echter Krimi. Wer war dann dieser Kerl? 
Spannend geschrieben.  Der Schluss hat mich allerdings sehr überrascht,

Liebe Grüße
Alma Marie

 Quoth meinte dazu am 25.12.21 um 18:20:
Wusste gar nicht, dass ich Krimis schreiben kann! Habe gesehen, dass Maria Schrader in "Ich bin dein Mensch" sehr viel weiter gegangen ist als ich hier!  Vielen Dank für Empfehlung und Kommentar! Gruß Quoth

 Graeculus (20.12.21, 22:50)
Das ist eine enorm spannende Folge Deiner Reihe, die mir immer mehr ans Herz wächst. Bisher habe ich mir noch nicht die Frage gestellt, ob die Reihe fiktiv ist - jetzt aber!

 Quoth antwortete darauf am 25.12.21 um 18:22:
Jetzt hast Du sie Dir aber gestellt - und wie beantwortest Du sie?
Vielen Dank für die Empfehlung mit Kommentar! Gruß Quoth

 Jedermann (21.12.21, 20:21)
fantasievoll und verblüffend

 Quoth schrieb daraufhin am 25.12.21 um 18:30:
Hallo Jedermann, vielen Dank für die Empfehlung mit Kommentar. Ich hoffe, auch zu den dazulernenden Eisbären zu gehören! Gruß Quoth

Die Mädels verabschieden sich bis ins Neue Jahr - sie sind in ihren Familien zu heftig mit Weihnachten beschäftigt!
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