Stell dir vor

Text zum Thema Erinnerung

von  Moja

Hinter mir in der S-Bahn eine Gruppe von Kindern, die ich hören, aber nicht sehen kann. „Meiner ist hellblau, meiner pink“, rufen sie. „Ich sehe etwas, was du nicht siehst und das ist orange“, höre ich eine Frauenstimme sagen.

Im Abteil gegenüber sitzt eine Familie, abwechselnd legen sie die Handflächen übereinander, ziehen sie abrupt weg und klatschen sie obenauf. Der Junge strahlt, außer Rand und Band geraten schlägt er seine Handflächen gegen den Körper der Mutter. Klatschen, Patschen, bis auch der Vater den Jungen kaum noch bändigen kann und das Spiel abbricht.

Herbstlandschaft vor dem Fenster, goldbraun leuchtend, Wiesen, Gartenwege, Zäune, da werde ich aus meinem Schauen herausgerissen.

„Stell dir vor, einer baut eine Atombombe“, sagt der Junge und ich bemerke, wie verwundert das Mädchen den Jungen ansieht. Die Kinder lachen in der Spiegelung der Scheibe.

„Im Internet habe ich gelesen, wie man eine Atombombe baut“, erzählt der Junge. „Stell dir vor, die Atombombe geht los“, sagt er mit vor Faszination geweiteten Augen, „dann sind die Häuser kaputt und das halbe Baumhaus.“

Mir stockt der Atem. Keines der Kinder kennt den Krieg, auch ich nicht. Beim Halt in Rummelsburg erscheint mir vor dem Zugfenster das Wohnzimmerfenster, an dem ich als Kind stand und auf die Straße, auf die einbeinigen Männer an Krücken schaute, auf die düstere Fassade gegenüber, die Einschüsse, den Trümmerplatz an der Ecke.

„Stell dir vor“, redet der Junge weiter, „jahrelang hat einer ein Haus gebaut, dann die Atombombe – und das Haus ist weg – und das halbe Baumhaus!“ – Kichern, Schreck, albernes Gelächter.

Und ich erinnere mich, wie ich im Unterricht der Zivilverteidigung lernte, einen Trainingsanzug gegen Atomstrahlung zu imprägnieren durch stundenlanges Kochen in – was war es gewesen? – Kernseife? Und wie meine Freundin und ich nach diesen deprimierenden Stunden in die Teestube des Café Moskau einkehrten oder in der Mokka-Milch-Eisbar bei einem Erdbeermilch-Eis-Shake saßen und unser Kichern in Hysterie umschlug, und wir empört versuchten mit russischem Mischka-Konfekt unser Entsetzen und die unterschwellige Angst zu vertreiben.

 

 



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Kommentare zu diesem Text


 Regina (03.04.22, 20:16)
Diese perverse Freude an der Zerstörung gibt es leider auch bei Kindern schon. In der Tat haben einige Leute Hiroshima schwerkrank überlebt. Ob die wohl diese Kernseifenanzüge trugen? Wer nicht an der maßlosen Hitze starb, erkrankte an Krebs nach dem nuklearen Angriff.

 Moja meinte dazu am 04.04.22 um 11:15:
Das kennzeichnet den Irrsinn des Unterrichts, Regina, wir sollten alles mit weißen Tüchern abdecken, Plastiktüten bereithalten, als unerträglich unsinnig, bedrohlich empfanden wir die Situation; bei dem Gespräch in der Bahn kam es wieder hoch. Mir fällt auf, dass Menschen, die gerne Action-Filme sehen über brutale Szenen lachen können, aber wenn ich ihnen "Schindlers Liste" zeigte, zuckten sie zusammen, konnten den Film nicht ertragen. Woher kommt die Abspaltung der Gefühle, frage ich mich. Führen Gewaltfantasien nicht letztendlich zu realen Gewalttaten?
Danke für deinen Kommentar und fürs Lesen!
Lieben Gruß,
Moja

Antwort geändert am 04.04.2022 um 11:16 Uhr

 harzgebirgler (12.04.22, 09:01)
der teufel wollt' das größte stück vom kuchen
und war bereits atompilze am suchen
auf schlacht'gem felde welches heißt ukraine
doch gott sei dank gibt's dort bislang noch keine
sonst hätt' geholt er putin ohn' verzug
der massenmörderisches in sich trug...


lg
harzgebirgler

 Moja antwortete darauf am 12.04.22 um 17:36:
Zum Teufel mit dem Teufel! 

Danke für Vers und Empfehlung,
grüße zurück, Moja

Antwort geändert am 12.04.2022 um 17:36 Uhr
Agnete (66)
(30.04.22, 13:17)
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 Moja schrieb daraufhin am 30.04.22 um 18:20:
So denke ich auch, liebe Agnete, Waffen werden benutzt zum Töten, Einschüchtern, um Profite zu erzielen; mir ist unbegreiflich, warum es keine friedlich Kommunikation gibt, Kompromisse gefunden werden, nur darum müsste es gehen, alles andere ist pure Zerstörung.
Danke und liebe Grüße, Moja
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