Verrechnet

Short Story zum Thema Lebenszeiten

von  uwesch

Dieser Text ist Teil der Serie  SHORT STORYS

Mathestunde in der 4. Klasse der Grundschule. Sein Lieblingsfach! Jede Woche Freitag war Rechen-Olympiade. Der Beste durfte in der folgenden Woche hinten ganz links sitzen, der Schwächste vorne rechts. Er saß meistens ganz hinten links. Das Arschloch Hans oft rechts neben ihm, doch manchmal nahm er seinen Platz ganz links ein, was ihn mächtig ärgerte. Doch die Angst zu versagen, in vordere Reihen abzurutschen, war dauernd präsent. Er musste immer wieder beweisen, dass er es schafft.

 

Später in der elften Klasse des Gymnasiums war er im Kunstunterricht der Liebling der jungen attraktiven Lehrerin. Die war einfach toll. In einem Projekt Aktzeichnen hatte sie sich selbst ganz entkleidet und als Modell präsentiert. Das fand er supergeil und er konnte sehr gute Zeichenergebnisse abliefern. Wahrscheinlich war das der Schlüssel zu seiner späteren Begeisterung für extravagante Frauen und die Malerei. Als das Modellsitzen im Lehrerkollegium bekannt wurde, gab es einen Skandal und seine Lieblingslehrerin wurde für drei Monate vom Unterricht suspendiert und dann an eine andere Schule versetzt.

Am Ende der elften Klasse musste er ein Zeugnis mit zwei Fünfen und einer Sechs – er hatte kein Fremdsprachentalent - kassieren. Seine Eltern hatten die Nase voll, er gab auf und verließ die Schule. Über den zweiten Bildungsweg konnte er später die Scharte wieder auswetzen und brachte es letztendlich bis zum promovierten Mathematiker.

 

In seiner bürgerlichen Welt war man der Überzeugung als Einzelkind verzogen und egozentrisch zu sein. Vielleicht auch etwas arrogant. Daran war nichts zu ändern, so wenig wie an der Tatsache, dass die Sonne abends untergeht. Ihn deprimierte am meisten, dass alles was die Leute dachten nicht stimmte. Er fühlte sich eher gegängelt, angepasst und schüchtern. Es fehlte auch an Mut in fast allem was er gerne getan hätte. Erst sehr viel später hat er mehr riskiert, ist immer wieder in neue Situationen hinein gesprungen und hat jedes Mal wieder festen Boden unter die Füße bekommen - wie ein Fallschirmspringer, der nach freiem Flug sicher landet ohne sich die Beine zu brechen.

 

Heute sitzt er die dritte Woche in einer Einzelzelle auf Rikers Island und starrt auf die kahle Wand gegenüber seiner Pritsche. Er hat sich verrechnet. Nach der Aufarbeitung des großen Finanzcrashs hat ihn das Schicksal hierhin verschlagen. Seine Perspektive veränderte sich damit schlagartig, wie wenn man zum ersten Mal ohne Sicht im Nebel Auto fahren muss. Was hat ihn aus dem Ruder geworfen?

 

Im Rahmen seines Jobs bei einer deutschen Bank hatte er Sally kennengelernt und ein intimes Verhältnis mit ihr aufgebaut. Sie kannte ehemalige Mitarbeiter von JP Morgan, die seit 2002 in der Derivateentwicklung maßgeblich beteiligt waren, und stammte aus einer sehr wohlhabenden deutschen Bankiersfamilie, die wegen der Naziherrschaft rechtzeitig in die Vereinigten Staaten emigrierte. Ihre inzwischen verstorbene Mutter war Jüdin. Mit Sally sprach er deutsch, denn sie wollte die Sprache ihrer Eltern nicht verlernen. Sie schätzten sich sehr und trafen sich gelegentlich auch privat zum Essen in einem Restaurant oder auf einen Drink in einer Bar.
Durch ihre Vermittlung bekam er viele gute Kontakte zu wichtigen Männern und einigen wenigen Frauen großer US-Firmen wie IBM, Google, McKinsey und Goldman Sachs. Dadurch wurden ihm häufig Firmeninterna aus großen Aktiengesellschaften zugespielt. Dieses ermöglichte ihm einen sehr lukrativen Insiderhandel, den er nebenbei für sich privat betrieb.

Eines Tages unterlag er der Versuchung einen aus seiner Sicht totsicheren Deal mit ihm nicht gehörendem Bankkapital seines Arbeitgebers zu machen. Der ging dann allerdings voll daneben, weil die Börsen noch am selben Tag crashten und er das Bankkapital, mit dem er die Aktien gekauft hatte, nicht durch einen Verkauf mehr rückbuchen konnte. Die Bank hat ihm sofort gekündigt und angezeigt.

 

Nun ist er hier in New York gefangen und denkt über sein Leben nach. Es gab Vieles was er im hektischen Alltag, vor allem im Beruf, bedenken musste. Und es gab Dinge, die er nicht vergessen konnte, ganz gleich wie viel Zeit vergangen war und was auch immer geschah. Jetzt im monotonen Gefängnisalltag musste er oft an die feste Hand seiner ersten Freundin denken, die ihm sein ganzes weiteres Leben gefehlt hatte. Das Gefühl ihrer Finger, die seine Hand umschlungen hielten, hatte ihm so eine Art von Sicherheit vermittelt, die er bei seinen Eltern vermisste. Manchmal gab ihm das auch viel später noch ein Gefühl von Zuversicht, dass alles letztendlich machbar ist.

 

Heute Morgen rasiert er sich wie jeden Tag halbnackt vor dem kleinen Spiegel über dem Waschbecken und begegnet seinen Augen, die ihm traurig entgegenschauen.

Oft war er auf der Jagd nach Geld und Frauen, die ihn interessierten. Vor allem nach Frauen, die ihn faszinierten. Er hatte häufig sehr schönen Sex. Bei vielen Frauen spürte er eine ihn verunsichernde Tiefe, manchmal eine wohlige Zartheit, häufig auch eine ihm Angst einflößende Zerbrechlichkeit.

Nun drohen ihm eine längere Gefängnisstrafe und hohe Strafzahlungen. Der Prozess soll am Nachmittag beginnen.



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Kommentare zu diesem Text


 lugarex (01.02.23, 09:01)
Uwe, ist das Autobiografisch? :)

Interessantes Lesen, interessant geschrieben.

Gruss Luga

 uwesch meinte dazu am 01.02.23 um 10:50:
Nur zu einem kleinen Teil autobiographische Einsprengsel. Rein autobiographische Texte schreibe ich nicht in einem öffentlichen Forum.
Dank für Deine Empfehlung und LG Uwe
Agnete (66)
(02.02.23, 19:58)
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 uwesch antwortete darauf am 02.02.23 um 20:57:
Langweilig war es sicher nicht :) 
Dank Dir für Deine Empfehlung und LG Uwe
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