Das alte Kochbuch

Kurzprosa zum Thema Familie

von  Regina

Eisig blies der Wind um die Häuserecken. Ein Jugendlicher zog einen gebrauchten Christbaum hinter sich her, um ihn mit gekonntem Schwung am Sammelplatz abzuladen. Ihre Großmutter fiel ihr ein, die ihren Weihnachtsbaum immer bis Ostern im Wohnzimmer stehen ließ, auch damals, als der Opa in einem Sarg abgeholt wurde. Der Sturm wehte ihren Mantelsaum nach oben und gab den Blick auf ihre schwarze Strumpfhose frei. Ihr Knie schmerzte. Der Hund des Nachbarn knurrte, als sie die Stiegen des Hauses nahm. Sein Verhalten irritierte sie. Zurück in der Wohnung, öffnete sie die Fenster, um etwas von der Februarfrischluft einzulassen. Endlich Witwe, wollte sie denken. Doch ihr Herz verweigerte sich dem erwarteten Hochgefühl der neuen Freiheit. Stattdessen blieb es stumm und stumpf. Sie würde ihre Schwiegertochter anrufen müssen, um das alte Kochbuch zu übergeben. Das Erbstück wurde innerhalb der Familie stets an die nächste Frauengeneration weitergereicht. Auf dessen letzter Seite befand sich das Rezept, das sich „Erlösung“ nannte, ein Nachtisch aus Kartoffeln und Birnen, auf die ein grünlich-bläuliches Gelee geschichtet wurde und darauf Schlagsahne. Die genauen Zutaten erfuhr die Besitzerin jeweils von Mund zu Ohr.



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Kommentare zu diesem Text


 uwesch (19.02.23, 11:59)
Ein Rezept mit dem Titel <Erlösung> wow, da muss man erst mal drauf kommen. Sehr ansprechender Text.  LG Uwe

 Regina meinte dazu am 19.02.23 um 13:05:
Danke für das Lob.

 AlmaMarieSchneider (19.02.23, 16:11)
Also mir stellten sich gerade alle Nackenhaare auf. Solch ein Rezept hatte auch das Blaubeermariechen. Die hat damit immer ihre Männer "erlöst", eine Tante war auch dabei.

Toller Text! Eine fein gesponnene Geschichte.

Liebe Grüße
Alma Marie

 Regina antwortete darauf am 19.02.23 um 18:53:
Ja, das grünlich-bläuliche Gelee hatte es in sich. Vielen Dank, Alma-Marie.

 AchterZwerg (19.02.23, 17:14)
Ja,
solch ein Rezept kann schon sehr nützlich sein - sogar in scheinbar aussichtslosen Fällen,
Gourmesk spricht es mich jetzt nicht so an, aber mithilfe der Schlagsahne schmeckt man die Kartoffeln vielleicht nicht mehr so raus ...  ;)

 Regina schrieb daraufhin am 19.02.23 um 18:54:
Da könnte man anstelle der Kartoffeln auf Wunsch auch Bananen servieren. Nur das Gelee gehört unwiederbringlich zum Rezept. Danke, Zwerg.

 AlmaMarieSchneider äußerte darauf am 19.02.23 um 21:39:
Im Blaubeerpudding fällt das Gelee nicht auf und hat sich bereits bewährt. Kommt für uns natürlich nicht infrage, wir lieben unsere Männer.
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