Facetten

Ein Geist bewegt sich im Gefängnis seiner Gedanken. Er will ihn vertreiben, sucht eine Lücke in den Gitterstäben, die sein Gehirn umspannen. Was bleibt ihm, wenn er es nicht schafft, kein Schlupfloch entdeckt? Muss er ihn zähmen? Wie nur, er kennt ihn nicht. Was hat er gedacht, als der in sein Gehirn drang - ohne Erlaubnis? Welche Bilder sind geblieben? Es ist so lange her. Er weiß es nicht mehr.

Er betrachtet ein Foto von sich, als kleines Kind vor einer Landschaft, am Rande eines Dorfes. Von wogenden Kornfeldern begrenzt. Menschenleer. Nur Gänse laufen frei herum. Er hatte damals einer wegen ihrer besonders lauten Schnatterei den Namen Schnatterhilde gegeben. Vermutlich, denkt er heute, weil seine alleinerziehende Mutter auch Hilde hieß und immer so viel auf ihn einredete. Ihm Regeln aufdrückte. Die Gänse waren bestimmt für Braten zu festlichen Anlässen der Erwachsenen. Besonders zu Weihnachten, wie sie ihm erzählte. Er hatte stundenlang geweint, weil er nicht verstand, dass man die Gänse töten würde. So beschloss er jegliches Fleisch zu verweigern und wurde Vegetarier.

Jetzt fällt ihm die alte Dame ein, die er vor einem halben Jahr in seinem Stadtteilcafé kennenlernte. Sie treffen sich jede Woche. Das Reden mit ihr ist sehr anstrengend. Alle zwei Minuten schläft die Konversation ein. Er muss die Frau dann wie eine abgelaufene Uhr wieder aufziehen. Doch das wirkt nicht lange, hilft immer nur für zwei Minuten weiter. Es erfordert viel Kraft, so wie das Entrinnen aus dem Gefängnis seiner Gedanken. Aber er hat Mitleid mit ihr – so wie mit den Gänsen damals.

Letzte Woche hat ihm ein befreundeter Psychologe gesagt:

„Du kannst das, was einmal gewesen ist, nicht in deinem Gehirn löschen. Das ist dort mehr oder weniger bewusst gespeichert. Sozusagen festgehalten wie in einem Gefängnis. Doch was dich im Handeln blockiert, kannst du ändern, indem du Alternativen entwickelst und diese ausprobierst“.

Er denkt darüber nach und beschließt, am nächsten Wochenende einen Gänsebraten zu essen, obwohl kein Fest ansteht. Versuch macht klug, wie es so schön heißt. Er schmeckt ihm und er beschließt sein Vegetarierdasein mit etwas Fleisch zu bereichern.

Wenn er jetzt morgens zur Arbeit geht, wählt er einen anderen Weg und sieht Straßen, Bäume und auch Menschen, die er noch nie gesehen hat. Andere Gerüche dringen in seine Nase, andere Geräusche in seine Ohren. Sein Gehirn verschafft ihm neue Erlebnisse und speichert sie. Auf dem alten Weg sah, hörte, roch, fühlte er schon lange nichts mehr - kannte er ja schon alles.

Sein Leben bekommt immer wieder neue Facetten.

Objekt von Petra Göringer Machleid, o.T., Holz geschwärzt und Papier, 2011