3. Leidenschaft

Text

von  Elisabeth

Ich fuhr also brav nach Hause und lernte pflichtbewußt noch etwas für die Klausur. Sie lief auch gut, und ich war bei der Abgabe meiner Unterlagen ganz zufrieden. Ahmet sah ich allerdings frühestens um sechs, und nun war es gerade einmal halb eins.

Mark fragte mich, ob ich ihn und seine Leute in die Mensa begleiten wolle. Das würde immerhin ein bißchen die Zeit vertreiben, aber ich hätte mir denken können, daß blöde Kommentare kommen, als ich auf dem Klo nun gerade in Marks Dunstkreis eine Packung extra starker Kondome mit Gleitgel zog, um für diesen Abend auf alles vorbereitet zu sein.

"Ach, Tammo, hat deine Transe dich erhört?" fragte Mark säuselnd, als ich das Wechselgeld aus der Klappe nahm.

Ich steckte die Packung Gummis in die Hosentasche und versuchte, seine dummen Bemerkungen zu überhören, aber das gemeinsame Mittagessen konnten wir streichen.

"Bist also doch 'ne Schwuchtel, hatte mir ja schon immer so was gedacht", setzte Mark noch nach.

Den Türgriff schon in der Hand, drehte ich mich nun doch zu ihm um: "Na, im Gegensatz zu dir werd' ich dieses Wochenende aber zum Stich kommen." Mark sah aus wie vom Donner gerührt, als ich ihn mit diesen Worten stehenließ. Anscheinend hatte ich damit unvorhergesehen ins Schwarze getroffen.

Ich nahm mir das Tablett mit dem Essen in den Campusgarten hinaus und setzte mich unter einem Baum in den Schatten. Mir fielen Ahmets Worte wieder ein, daß seine eigentliche Leidenschaft der Schauspielerei gehörte. Meine eigentliche Leidenschaft war das Zeichnen, auch wenn ich sie während meiner Schulzeit oft nur heimlich pflegen konnte. Aber als mir vor vier Jahren angesichts der Schwimmbadszene der 'Rocky Horror Picture Show' klar geworden war, daß man seine Träume leben mußte, um etwas von ihnen zu haben, hatte ich meinen besorgten Eltern gegenüber Farbe bekannt und schließlich sogar erreicht, daß sie mir als Belohnung guter Noten in den Semesterferien Aktzeichenkurse und ähnliches finanzierten. In den letzten Wochen war ich durch den zunehmenden Streß zum Semesterende viel zu selten dazu gekommen, mich einfach mal hinzusetzen und zu zeichnen. Da ich nun jedoch fünf Stunden totschlagen mußte, suchte ich mir aus der Tasche ein paar Bleistifte und den unlinierten Block, auf dem ich auch die Entwürfe für Maschinenbau skizzierte.

Das Pärchen da unter dem Baum sah doch süß aus, die waren ganz offensichtlich frisch verliebt, ließen kaum eine Minute die Finger voneinander, oder die Lippen. Ob es mit mir und Ahmet auch so sein würde? Oder war das eine zu romantische Vorstellung. Wer wußte schon, ob es jenseits einer einmaligen sexuellen Begegnung überhaupt ein Miteinander geben würde? Also versuchte ich, mich ganz auf mein Motiv zu konzentrieren.

Erstaunlicherweise war ich mit der ersten Skizze schon relativ zufrieden. Noch einmal ihre Hand an seiner Hüfte, denn die Perspektive sah irgendwie merkwürdig aus. Und den malerischen Schatten, den der Baum auf die beiden warf, den mußte ich auch irgendwie einfangen, skizzierte die Leiber der beiden noch einmal grob, schraffierte die im Halbdunkel des frühsommerlichen Laubes liegenden Flächen.

Ich versuchte mich noch an zwei weiteren Motiven, einer wirklich gutaussehenden Blondine, die lesend im Schatten eines anderen Baumes saß und einem dösenden Hund, so daß ich schließlich die Zeit bis zum Beginn der Theaterprobe problemlos überbrückt hatte, und ich machte mich auf den Weg in die Kleine Aula.

Die Proben waren schon im Gange, als ich den Saal betrat. Auf der Bühne standen ein paar Stühle und einige Studenten in Straßenkleidung, die diskutierten. Ahmet sah ich nicht und so setzte ich mich möglichst unauffällig im hinteren Bereich an die Seite und begann, nun auch die angehenden Schauspieltalente zu zeichnen. Ich hörte nur mit einem halben Ohr zu, was für ein Stück sie probten, aber plötzlich sah ich, daß auch Ahmet dabei war, die langen Haare leicht gelockt auf den breiten Turnerschultern, in einer Hand einen Fächer, mit dem er während einer Szene hantierte, ihn nach Anweisungen des Regisseurs zur Unterstreichung seines Textes auf- und zuklappte. Anscheinend spielte er wieder eine Frauenrolle, denn er trat stets nach vorne, wenn 'Olivia' verlangt wurde.

Schließlich versteckte er sein Gesicht für einen Moment hinter dem mit einer eleganten Handbewegung entfalteten Fächer, sah mit seinen dunklen Augen über den weißen Halbkreis hinweg, in das leere Parkett, bis zu mir, hielt den Fächer dann mit einer Drehung des Handgelenkes neben sein Gesicht, um sich für seine Mitspieler unbemerkt an das Publikum wenden zu können. "Wie anmutig selbst Verachtung und Zorn auf seinen schönen Lippen wirkt", sagte er, als spräche er mich direkt an, und sein Blick, die Worte, rissen mich aus meiner zeitweiligen Versenkung in die Skizze von Ahmet mit Fächer.

Dann wandte er sich wieder an seine Partnerin, die ein Karnevalsschwert aus Plastik an der Seite trug und lässig die Hand darauf stützte, ließ den Fächer halb sinken. "Mörderische Schuld verrät sich nicht schneller, als Liebe, die sich verbergen will... Caesario, bei den Rosen des Frühlings", der Fächer schloß sich wie eine weiße Blüte, "bei meiner jungfräulichen Ehre und Treue", der Fächer wurde sanft an die durchtrainierte Brust gelegt, "und bei allem in der Welt: ich liebe dich so sehr, daß trotz deines spröden Wesens weder Verstand noch Vernunft meine Leidenschaft verbergen kann." Und mit diesen eindringlichen Worten, die mir ans Herz griffen, ließ er den Fächer langsam sinken. "Erzwinge dir nicht, weil ich dir mein Herz selbst antrage, einen Grund es zu verschmähen. Du weißt es doch selbst: gesuchte Liebe ist gut, aber ungesucht geschenkt ist sie noch besser." Sein Tonfall, das so echt scheinende Gefühl in seiner Stimme, verursachten mir eine Gänsehaut und anscheinend war ich nicht der einzige, der so empfand, denn der Regisseur und einige der anderen Schauspieler bedachten Ahmet mit einem Zwischenapplaus. Ich fiel mit ein, so gut es eben ging, mit einem Stift in der Hand. Um nichts von Ahmets großartiger Kunst zu verpassen, ließ ich das Zeichnen dann sein und folgte den Proben sehr aufmerksam. Egal, was aus uns noch wurde, ich würde sicher nicht locker lassen, bis Ahmet sich von mir mit Fächer portraitieren ließ.

Die Proben zogen sich hin bis halb neun, dann gab es eine Abschlußbesprechung, während der ich noch zwei Versuche machte, Ahmet mit dem Fächer zu skizzieren. Und endlich stand er neben mir, hatte mir anscheinend sogar schon eine Weile beim Zeichnen zugesehen. "Hey, das ist ja richtig gut", sagte er bewundernd. "Aber sehe ich wirklich so... so..."

"Findest du dich nicht gut getroffen? Die beiden hier sind aus der Erinnerung gezeichnet, aber ich finde, sie sind okay", versuchte ich mich zu verteidigen, kontrollierte anhand des Originals noch einmal meine Skizzen.

Ahmet schüttelte mit deutlich erröteten Wangen den Kopf. "Nein, Tammo, du verstehst mich falsch. Sehe ich wirklich so unverschämt sexy aus?"

Das ließ nun wieder mich erröten. Ich beschäftigte mich mit dem Verstauen meiner Utensilien. "Für mich schon", sagte ich leise, ohne ihn anzusehen.

"Scheiße, Mann", entwich ihm darauf flüsternd, und ich sah wieder auf. Er legte die Linke vor den Mund, strich sich über die schon wieder deutlich zu sehenden Bartstoppeln. "Wenn du mich so siehst, bist du anscheinend bis über beide Ohren in mich verknallt."

"Das ist wohl ein Problem, oder?" fragte ich zögernd, denn die Antwort wollte ich eigentlich nicht wirklich hören.

Ahmet öffnete den Mund und schloß ihn wieder, wie ein Goldfisch mit Rehaugen. Dann räusperte er sich, hob noch einmal an: "Wenn ich es mit den Worten des unsterblichen Shakespeares sagen darf: Tammo, bei den Rosen des Frühlings, bei meiner jungfräulichen Ehre und Treue und bei allem in der Welt: ich liebe dich so sehr, daß weder Verstand noch Vernunft meine Leidenschaft verbergen kann."

"Aber das ist völliger Blödsinn. Wir kennen uns doch noch gar nicht wirklich", wandte ich ein. "Okay, ich finde dich attraktiv, ich finde dich sehr,... verteufelt attraktiv, oh mein Gott! Aber ich kann doch nicht mit so großen Worten wie 'Liebe' um mich werfen, nachdem ich dich grade einmal vor einer Woche das erste Mal gesprochen habe."

"Und worauf soll sich Liebe begründen, wenn nicht zuerst auf das Äußerliche, auf das Begehren? Nur wenn wir aufeinander zugehen, wenn wir etwas über den anderen wissen wollen, kann Liebe entstehen, oder?" fragte Ahmet ungewohnt ernsthaft.

"Ich dachte, du studierst Sport und nicht Philosophie", gab ich ungehalten zurück. Ich hatte solche Angst, ihn mit meinen Worten zu verletzen, aber noch mehr fürchtete ich, meine eigenen, in jedem Falle begehrlichen Gefühle für ihn überzuinterpretieren.

Ahmet blieb vor mir stehen, senkte den Blick jedoch auf seine Segeltuchschuhe. "Dann laß uns etwas essen gehen und einander kennenlernen, okay?"

Ich dachte an die Gummis in meiner Hosentasche, an meine Hoffnungen am Mittag, sie noch am heutigen Tag einsetzen zu können. Und nun hatte ich es mir mit meinem blöden Mundwerk wohl zerschossen. Aber vielleicht war er ja trotz meiner Worte bereit, nach der Bekanntgabe der Ergebnisse mit mir das Bestehen von Apparatebau zu feiern. "Mit der Klausur hab' ich übrigens ein gutes Gefühl", sagte ich also.

Scheu hob Ahmet den Blick, dann lächelte er mich so herzlich an, daß mir wahrhaftig das Herz aufging. "Das ist doch wunderbar, Süßer", sagte er. "Siehst du, es war richtig, daß ich dich gestern nach Hause geschickt habe."

"Ja, war es wohl", gab ich zu. "Und wahrscheinlich hat Shakespeare auch recht. Wenn dir jemand Begehrenswertes sagt, ich liebe dich, sollte man wohl schnell zugreifen, nicht wahr?" Und ich beugte mich zu Ahmet hinunter, um ihn zu küssen.

Er fiel mir regelrecht um den Hals und erwiderte meinen Kuß so heiß, daß ich plötzlich gar keinen Zweifel mehr hatte, daß wir in dieser Nacht noch Gummis brauchen würden. Mit dem Applaus der inzwischen um uns versammelten Theatergruppe hatte ich allerdings nicht gerechnet.

* * *
ENDE




Anmerkung von Elisabeth:

Die Quellen der durch Unterstreichung hervorgehobenen Kleinzitate in dieser Story:

Kapitel 3: Teile aus William Shakespeare, 'Was ihr wollt ', 3. Aufzug, 3. Szene, deutsche Übersetzung von Christoph Martin Wieland, 1766, sprachlich etwas modernisiert.

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