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Text

von  Elisabeth

Niels kündigte Freitag beim Frühstück an, Ahmet in der Bibliothek besuchen zu wollen. Ich hoffte, daß das nur aus dem Grund geschah, weil er seinen ehemaligen Betreuer seiner Solidarität versichern wollte und er nicht noch immer darauf hoffte, den Partner des jungen Mannes ausstechen zu können. Aber trotz meiner Bedenken gab ich ihm die schriftliche Erlaubnis mit, der Betreuung fern bleiben zu dürfen.

Am Freitag abend fand ich dann einen sehr aufgebrachten Niels und einen frech grinsenden Ole vor.

"Was ist los?" stellte ich die beiden zur Rede. Dann bemerkte ich einige Schürfwunden und Prellungen an Niels Armen, die während des Frühstücks definitiv noch nicht zu sehen gewesen waren. "Was ist passiert?" wollte ich also noch einmal wissen und machte meinen Söhnen durch meinen alarmierten Tonfall anscheinend klar, daß dies keine Zeit für Spielchen war.

"Sie haben Niels in der Schule verprügelt", sagte Ole schnell, bevor Niels auch nur mit einer Erklärung ansetzte. "Weil du nämlich schwul bist, näänänänäänää", sang er dann hämisch.

Niels hob die Faust, um nach seinem Bruder zu schlagen. Ich ging schnell dazwischen, doch es gelang Niels trotzdem, seinen Bruder um mich herum zu treten, als der weiter seinen Singsang aufführte. Natürlich ließ Ole das nicht auf sich sitzen und wollte Niels zurückschlagen, aber ich griff nach seiner Hand. "Schluß jetzt", verlangte ich. "Weißt du überhaupt, was das bedeutet, was du da sagst, Ole?"

Worauf mein Jüngster mich ganz verdutzt ansah. "Na, daß er schwul ist", gab er dann zurück, "daß er Kerle knutscht."

"Ach, und hast du schon mal gesehen, wie dein Bruder einen Kerl geknutscht hat, wenn du dir so sicher bist, daß er schwul ist?"

"Nein, aber alle in seiner Klasse sagen, daß er schwul ist, und die Großen in der Betreuung."

"So, sagen sie das?" Ich fühlte mich in dem Moment so hilflos, daß ich dem Kleinen am liebsten auch einfach eine runtergehauen hätte. Er war ja nicht besser als die Eltern am Dienstag abend. Aber er war immerhin erst zwölf Jahre und eine Maulschelle würde kaum zu einem Verständnis seinerseits führen. "Und warum hänselst du ihn? Auch nur deswegen, weil seine Klassenkameraden das machen? Immerhin ist er doch dein Bruder und du hast ihn doch eigentlich gern, oder?"

"Ne, er ist doof", widersprach Ole, aber das schien er eher im Reflex gesagt zu haben.

"Du bist auch doof", und irgendwie gelang es Niels, noch einen Schlag loszuwerden, aber Ole schlug erstaunlicherweise nicht zurück.

"Eigentlich ist es schon okay, einen großen Bruder zu haben, wenn er nicht gerade nervt", gab er dann zu und rieb sich die Stelle, an der Niels ihn gerade getroffen hatte.

"Und selbst wenn Niels irgendwann feststellt, daß er tatsächlich lieber mit Männern... knutschen will als mit Frauen, macht ihn das weniger zu deinem Bruder? Meinst du, er könnte plötzlich anfangen, dich abzuknutschen?"

Jetzt mußte Ole lachen. "Glaub' ich kaum."

"Also, warum ist es dann nicht egal, ob er schwul ist? Oder laufen deine Klassenkameraden rum und singen: Ole steht auf Mädchen, Ole steht auf Mädchen?" imitierte ich seinen vorherigen Gesang.

Ole wurde knallrot. Oha, hatte der etwa auch schon einen Schwarm mit seinen zarten zwölf Lenzen? "Und, ist die Tatsache, daß du auf Mädchen stehst, das einzige, was an dir interessant ist? Oder ist vielleicht noch interessant, daß du ein guter Stürmer bist?"

"Und daß ich in Physik der beste in meiner Klasse bin", betonte Ole noch.

"Na also. Es interessiert nur Mädchen, die mit dir herumknutschen wollen, daß du gerne mit Mädchen knutschen willst. Und genauso ist es mit den Jungs, die auf Niels stehen. Für alle anderen ist es doch ganz uninteressant, ob Niels vielleicht schwul ist. Es ist einfach blöd, so etwas als Schimpfwort zu benutzen. Für dich sollte er ohnehin vorrangig dein Bruder sein."

"Und er ist ein mieser Torwart", fügte Ole frech hinzu.

"Als Stürmer der Gegenmannschaft ist das für dich natürlich interessant. Aber du begreifst hoffentlich auch, worauf ich hinaus will. Ob jemand schwul ist oder nicht, sagt nichts über seine sonstigen Qualitäten aus, nur über seine präferierten Sexualpartner."

"Seine was?" fragte Ole verständnislos.

"Über die, mit denen er gerne poppen würde", half Niels aus, der erstaunlich gelassen zugehört hatte.

"Vor allem sagt es nichts über die moralischen Qualitäten eines Mensch aus", meinte ich noch betonen zu müssen, obwohl man das besser den Betreuungseltern ins Stammbuch geschrieben hätte.

Ole hörte meiner Predigt anscheinend gar nicht mehr zu. "Niels ist ein schlechter Torwart", sang er nun und lief kichernd vor ihm davon, Niels natürlich gleich hinterher. Das Ehepaar unter uns würde seine Freude daran haben.

Beim Abendessen wurde es dann aber wieder ernster. "Ahmet hat gesagt, ihm sei nahegelegt worden, sein Praktikum an einer anderen Schule fortzuführen", erzählte Niels mit verhaltenem Zorn, "oder sich überhaupt zu überlegen, ob er wirklich Lehrer werden wolle, angesichts seiner... Neigung."

"Wer hat ihm das denn 'nahegelegt'?" fragte ich neugierig.

"Ich denke, das war der Rektor. Ahmet sei zwar völlig im Recht, wenn er auf die Weiterführung des Praktikumsvertrages bestehen würde, aber angesichts der momentanen Stimmung in der Elternschaft sei das nicht angeraten. Und Ahmet hat dann nachgegeben." Das klang richtig frustriert.

"Vielleicht ist es wirklich besser so", gab ich zu bedenken. "Die Atmosphäre unter den Eltern ist sehr aufgeladen – und sie haben sich kindischer benommen als dein kleiner Bruder." Aber es war eine Schande und sollte in unserer Gesellschaft eigentlich nicht möglich sein. Doch wenn Ahmet sein Recht durchzufechten versuchte, würde er damit nur unerwünschte Bekanntheit gewinnen, die für einen angehenden Lehrer, angesichts der jetzigen Elternreakton, sicher hinderlich war. Nun ja, immerhin hatten sie ihn nicht gleich mit Fackeln und Heugabeln aus dem Dorf gejagt... Und was hatten seine Klassenkameraden mit Niels gemacht? "Was sind das nun für Verletzungen an deinen Armen?" fragte ich ihn. "Haben deine Klassenkameraden dich wirklich geschlagen, weil du schwul bist?" Das mußte man doch nun nicht hinnehmen, oder würde mir dann nahegelegt, für meinen Sohn eine andere Schule zu suchen?

Niels drehte den Kopf weg, biß die Zähne aufeinander. Aus dem bekam ich jetzt nicht mehr viel heraus.

"Ole, was ist genau passiert?" bohrte ich also da nach.

Ole sah seinen Bruder eine Weile an, dann zuckte er mit den Schultern. "Ich weiß es nicht genau, sie haben sich halt geprügelt und ihn beschimpft, daß er schwul ist, aber dann ist seine Klassenlehrerin dazwischen gegangen."

Mehr war auch aus ihm nicht herauszubekommen, und ich nahm mir vor, Niels noch einmal darauf anzusprechen, wenn Ole im Bett war.

Als ich dann für einen Gutenachtkuss in Niels Zimmer kam, lag er schon in seinem Bett, sah mir entgegen, rieb sich seinen inzwischen von deutlichen Blutergüssen verzierten Arm. "Ich hab mich deinetwegen geprügelt", sagte er zu meinem Erstaunen und erklärte: "Sie haben behauptet, du wärst auch schwul und deswegen hätte Mama dich verlassen."

Das machte mich sprachlos. Aber nach einer Weile fragte ich dann doch: "Und warum hast du ihnen nicht einfach gesagt, daß Mama einen Schlaganfall hatte?"

"Weil die gar nicht zugehört hätten. Und es hat so gut getan, ihnen in ihre dummen Fressen zu hauen."

Beruhigt stellte ich fest, wie ähnlich ich meinem Sohn war, denn allein die Vorstellung, dem rotköpfigen Vater oder dem, der die Abstimmung eingefordert hatte, 'in die Fresse zu hauen' tat gut. "Und was war mit den Beschimpfungen?" wollte ich dann wissen.

"Ist doch ganz egal, womit meine Klassenkameraden mich hänseln, die haben mich doch noch nie gemocht. Aber das mit Ahmet, das finde ich richtig scheiße. Er ist echt nett und... naja, wahrscheinlich bin ich noch immer ein bißchen in ihn verknallt. Aber ich sehe ja ein, daß er sein Glück schon gefunden hat, auch wenn er mit seinem Praktikum jetzt nicht wirklich Glück hatte."

"Nein, nicht wirklich", gab ich Niels recht, wuschelte durch sein Haar. Die Eltern konnte man wohl nicht mehr ändern, aber bei den Kindern bestand vielleicht noch Hoffnung. Und mit meinen konnte ich ganz zufrieden sein!

* * *
ENDE



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