5. Einführung

Text

von  Elisabeth

Nach den zum Teil seltsamen und fremdartigen Anblicken und Begegnungen Chafarans und Adarachs bei ihrer Stadtbesichtigung, wirkte der Innenhof des Hauses von Asatam Kasiterim, dem Gatten von Ochasa, als hätte man ein adliges Haus in Garam betreten. In den Ecken des Innenhofes waren bereits Öllampen an hohen Messingständern entzündet worden, und im Kreis um das aufwendige Mosaikmuster im Zentrum des Fußbodens, unter dem freien Himmel, der sich inzwischen vom Sonnenuntergang rötlich zu verfärben begann, standen acht Speisesofas für die Gastgeber und die Gäste des Abends. Die Kissen der Sofas schienen sogar aus einem ähnlichen Stoff gefertigt zu sein wie dem, der im Haus seiner Mutter verwendet worden war.

"Seid willkommen", ertönte da die Stimme eines dunkelhäutigen älteren Mannes, der aus einer der Türen zum Wohntrakt in den Innenhof trat. Tatsächlich wäre er in einer Gesellschaft in Garam nur durch seine Hautfarbe, nicht aber durch seine Kleidung aufgefallen. Der locker umgeschlagene Mantel aus schimmerndem Stoff über seiner hellen Tunika hätte bei inoffiziellen Anlässen auch einen König der Awrani würdig bekleidet. "Schön, daß ihr der Einladung meiner Gattin gefolgt seid, Prinz Adarach."

Die Beruhigung darüber, der Einladung der Ratsmitgliedsgattin mit Tunika und Mantel nicht unangemessen gekleidet nachgekommen zu sein, entspannte Adarach. "Ich danke für die Einladung, die eure Gattin auch in eurem Namen aussprach, Ratsherr Kasiterim."

"Ach, ich bitte euch, nennt mich einfach Asatam, wir legen bei unseren Abendgesellschaften keinen Wert auf Rang und Titel, sondern reden ganz frei miteinander. Das macht doch auch den Reiz bei der Begegnung mit einer neuen Bekanntschaft aus."

"Dann müßt ihr mich Adarach nennen", entgegnete Adarach sofort. Mal sehen, wie ungezwungen der Umgang miteinander dann wirklich war, Herrscher einer Stadt vergaßen ja auch gelegentlich, daß sie nicht auf ihre herrschaftliche Autorität pochen konnten.

Inzwischen war auch die Dame des Hauses in den Hof gekommen, in einem ähnlichen bodenlangen Kleid wie am Abend zuvor, die Enden eines schmalen Mantels, der wohl eher der Zierde als tatsächlichem Schutz vor Kälte diente, in ihren Ellbeugen. Im Gegensatz zum Vorabend glänzte in ihrem hochgesteckten, braunen Haar, an ihrem Hals und ihren Handgelenken goldener Schmuck, aber sie wirkte nicht extra zurecht gemacht, es wäre zum Fest des Jägers jedoch unangemessen gewesen, mehr Schmuck zu tragen, als die Göttin. Und es erschien noch eine wesentlich jüngere Frau, ähnlich gekleidet wie die Hausherrin, aber mit weniger Goldschmuck, die wohl eine Tochter Ochasas und Asatams war, das Haar schwarz wie das ihres Vaters, aber der Hautton fast so hell wie der ihrer Mutter.

"Seid gegrüßt, Adarach", begrüßte nun auch Ochasa ihren Gast. "Darf ich euch meine Tochter Damila vorstellen? Sie ist etwa in eurem Alter." Und Damila senkte schüchtern den Blick ihrer dunklen Augen und murmelte etwas, das eine Begrüßung gewesen sein mochte. Ihre Gedanken waren lauter, als ihre Stimme, sie hielt Adarach für erfreulich attraktiv.

Ochasa bestand darauf, daß Adarach sich auf dem Speisesofa neben der Tochter niederließ, während sich auf ihrer anderen Seite der Vater platzierte. So hatte Ochasa wie geplant einen guten Blick auf ihre Tochter und den hausfremden Gast. Adarach war sich nicht ganz sicher, ob er sich nur einbildete, daß dies der Beginn einer Verkupplung werden sollte.

Inzwischen waren drei andere Gäste eingetroffen, zwei Männer und eine Frau, so dunkelhäutig wie Asatam und ähnlich gekleidet wie die Gastgeber, die sich beim Betreten des Hofes angeregt unterhielten, aber innehielten, als sie Adarachs ansichtig wurden. Der Hausherr sprang regelrecht auf von seinem Sofa und eilte zu dem Grüppchen, umarmte zunächst den weißhaarigen Mann, dann den etwas jüngeren und schließlich die Frau, die wohl auch im Alter wie seine Gattin war. "Lieber Sorfan, liebe Schwester, lieber Schwager", sagte er dann, "dies ist der junge Mann, von dem ich dir erzählt hatte, Prinz Adarach aus Garam. Und ihr, lieber Adarach, seht hier den Hohepriester unseres prächtigen Tempels des Ungenannten, Sorfan Golateram, den Ratsherren Sarmal Golateram, Sohn des Hohepriesters, sowie seine Gattin Matala Golateram, die zugleich meine Schwester ist."

Adarach begrüßte alle artig und sah zu, wie Matala sich auf das Sofa neben ihrer Schwägerin niederließ, daneben wiederum saß ihr Mann und noch ein Sofa weiter der Hohepriester. Nur das Sofa zwischen dem Priester und Adarach war noch frei. "Hast du noch eine Überraschung heute abend, lieber Schwager", fragte der Ratsherr Golateram.

Ratsherr Kasiterim lächelte verschmitzt. "Ihr werdet es gleich wissen", versprach er. Tatsächlich kam fast gleichzeitig zu diesen diesen Worten ein älterer Mann in den Hof geeilt, dessen einfache Tunika jedoch darauf schließen ließ, daß es sich um einen der Hausdiener handelte. Er flüsterte seinem Herrn etwas zu, das diesen für einen Moment die Augenbrauen zusammenziehen ließ, aber dann lächelte er schon wieder. "Wir werden eine ungerade Zahl bleiben, der letzter Gast ist verhindert. Aber wo bleiben meine Manieren." Asatam klatschte in die Hände, "bringt den Willkommenstrunk."

Diener des Hauses brachten prachtvolle Trinkschalen aus feinem Ton, die es von der Machart und der Bemalung mit der Opferschale des Königs der Garamar für das Rauschfest aufnehmen konnten. Und hier bekam jeder Anwesende eine dieser großen Schalen, und weitere Diener brachten große Kannen, denen der Duft bestem Oinos entströmte. Obwohl Adarach hin- und hergerissen war zwischen der religiösen Ehrfurcht vor dem Göttergetränk und dem Wunsch, diesen außergewöhnlichen Oinos zu probieren, verwehrte er dem Diener nicht, seine Schale zu füllen und bewunderte die tiefrote Farbe der Flüssigkeit, die im Licht der Lampen zu leuchten schien. Als seine Schale schließlich bis zur Neige gefüllt war, konnte er das Bild an ihrem Grund noch erkennen, also war der Oinos wohl mit Wasser verdünnt, das senkte seine Hemmschwelle so weit, daß er, als der Gastgeber alle dazu aufforderte, tatsächlich probierte. So süß auf der Zunge, so warm in der Kehle und der betörende Duft, der ihn an das vergangene Rauschfest erinnerte. Verspätet schnippte er ein paar Tropfen zu Ehren Buhachan des Helden über den Rand, dann nahm er noch einen Schluck, mit einem stillen Gruß an Tawaram.

"Schmeckt euch der Oinos denn so gut wie der, den ihr von der Tafel eurer Familie gewohnt seid?" fragte Damila mit leiser Stimme.

Obwohl er nicht hinschaute merkte Adarach, daß sie ihn nun offen musterte. Er lächelte. "Der Oinos schmeckt sehr gut, fast, als wäre er gar nicht verdünnt. Woher stammt er?"

Anscheinend hatte Damila gar nicht erwartet, daß er ihre Frage direkt beantworten würde, denn auf seinen Blick senkte sie fast sofort die Augen und eine leichte Röte überflog ihre Wangen. Aber auch ihr Vater hatte die Frage gehört. "Er stammt aus Tormar, einem Dorf..."

"... östlich von Karn", ergänzte Adarach, als er den Ortsnamen hörte. Sein Vater hatte fast ausschließlich Oinos aus Tormar getrunken - und für ihn war jeder Tag Rauschfest gewesen. "Bis heute hatte ich von dem guten Oinos, der dort gekeltert wird, nur gehört. Und er wird seinem Ruf gerecht, ich habe bisher nie einen besseren getrunken." Nicht, das er bisher so viele verschiedene probiert hätte. Aber den Gastgeber freute diese Antwort. Und mit einer kleinen Freude konnte so manches Bündnis beginnen, hatte sein Vater stets gesagt. Es war sicher nicht verkehrt, sich die mächtigen Männer von Berresh zu Freunden zu machen. Um seinen Worten Gewicht zu verleihen und um seinen Gastgeber noch mehr zu erfreuen, aber auch weil dieser Oinos so außerordentlich wohlschmeckend war, trank er noch zwei weitere Schuck aus der mächtigen Schale, der man danach kaum ansah, daß schon etwas von ihrem Inhalt fehlte.

"Nun sag schon, Asatam, wen hast Du außer diesem jungen Prinzen aus dem Osten noch eingeladen?" wollte der Hohepriester wissen, nachdem er seine Schale schon fast zur Hälfte geleert hatte.

"Ich hatte mir erlaubt, auch Manord Havatim einzuladen", sagte er und nickte zufrieden, als seine Gäste "Oh, wirklich?", "Wie vermessen von dir!", "Wundert mich nicht, daß er abgesagt hat." in die Runde warfen. "Ist das nicht der Mann, der nun das ehemalige Haus von Murhan Darashy am Tor zur Oberstadt bewohnt?" meldete sich auch Adarach zu Wort.

"Ihr seid gut informiert, mein Lieber." Der Hohepriester nickte anerkennend. Für einen Moment hatte Adarach das Gefühl, von Freunden seines Lehrers in dessen Auftrag über die Inhalte der Stadtbesichtigung geprüft zu werden. Kamen als nächstes Fragen zu den Opferritualen auf dem Tempelvorplatz oder zur Geschichte des Tempels des Ungenannten?

"Ich hatte es für passend gehalten, denn er ist ein unterhaltsamer Redner, wenn er in der richtigen Stimmung ist", erklärte der Gastgeber seine Gastauswahl.

"Wenn er betrunken ist", warf sein Schwager ein. "Auf jeden Fall ist er auch bei Abwesenheit als Gesprächsstoff gut."

"Meines Erachtens hängt er seine Begeisterung für die Oshey zu hoch", warf Matala, die Schwester des Gastgebers ein, und sah zu ihrer Schwägerin. "Wir wissen, daß man diesen Wilden nicht trauen kann. Sie beißen die Hand, die man ihnen reicht."

Ochasa sah plötzlich sehr unwohl aus und stellte mit zitternden Händen die kaum berührte Schale neben sich auf das Sofa. Ein Diener eilte herbei, um ein Tischchen zu bringen, auf das er die sicher sehr teure Schale stellte.

"Mutter, soll ich dich in deine Gemächer bringen?" fragte Damila besorgt und winkte einem Diener, auch für sie ein Tischchen für die Schale zu bringen.

Aber Ochasa schüttelte den Kopf. "Nein, es ist schon gut. Es war Oserams eigene Entscheidung gewesen, nun gerade diesen Mann als Klienten zu akzeptieren, der ihn umbrachte. Und der Mörder hat für seine Tat gesühnt. Letztlich ist es wohl meine Schuld gewesen, das Interesse meines Sohnes für andere Sitten und Gebräuche zu wecken, so daß er den Pfad als Patron eingeschlagen hat.

Sagt, Adarach, würdet ihr hier in Berresh ganz die Sitten der Berreshi annehmen oder würdet ihr auschließlich bei euren awranischen Gebräuchen bleiben? Würdet ihr vielleicht versuchen, ein Gleichgewicht zwischen dem einen und dem anderen zu erreichen, oder wäre das für euch bereits eine Verleugnung der eigenen Herkunft als Verrar?"

Adarach wußte nicht recht, wie er darauf antworten sollte. "Wenn ich voraussetze, daß ich nicht durch Verpflichtungen als Verrar an das Festhalten an bestimmten Sitten und ihrer Befolgung gebunden bin, würde ich in einem ersten Schritt versuchen, die Sitten und Gebräuche meiner Umgebung kennenzulernen", begann er langsam. "Ich bin aufgewachsen in der Gewißheit, daß ein Zugewinn an Wissen immer auch ein Zugewinn für mich als Mensch ist. Da Wissen der Weg zum Verstehen ist, wie es in 'Sprüche der taribischen Philosophen' heißt, würde ich in jedem Falle den Sitten meines Gastlandes so weit folgen, daß ich meine Gastgeber nicht brüskiere, indem ich ihre Rituale und heiligen Handlungen in unbedachter Weise störe."

Der Hohepriester hob eine Augenbraue. "Das war eine sehr durchdachte und überaus diplomatische Antwort, junger Mann. Eure Antwort auf die Frage unserer Gastgeberin wäre dann also der Versuch, ein Gleichgewicht zu erreichen?"

"Ja", Adarach nickte, "ich würde versuchen ein Gleichgewicht zu erreichen." Mit einem angedeuteten Verbeugung zeigte er dem Hohepriester seinen Dank für diesen Ausweg.

"Da wir gerade bei fremden Sitten sind", begann nun Damila, deren stärkere Gesichtsrötung wohl im direkten Zusammenhang mit dem stark gesunkenen Pegel ihrer Trinkschale stand und ihren Mut gehoben hatte, "meine Mutter sagte mir, daß ihr beim gestrigen Fest als 'Mawek' bezeichnet wurde, aber meinte, das 'Prinz' der passende Titel ist. Bedeutet 'Mawek' wirklich einfach Prinz? Die Awrani und wir sprechen doch die selbe Sprache."

Adarach stellte fest, daß er ohne es recht zu merken inzwischen auch fast die gesamte Schale geleert hatte. "Seit der Herrschaft der Tarib sprechen wir die Sprache unserer früheren Herrscher, wir schreiben sie und wir lesen sie. Wir haben, was unseren Wissensgewinn betrifft, sehr davon profitiert, einem großen Reich angegliedert zu werden. In alter Zeit sprachen die Awrani je nach Stamm ihre eigenen Sprachen, bis sich, lange vor den Eroberungszügen der Tarib, eine gemeinsame Sprache für den Handel der Awrani entwickelte, das Awral. Aus dieser Zeit stammt der Begriff 'Mawek', der sich bis heute gehalten hat. Als reine Funktionsbezeichnung wird es nicht verwendet. Es bedeutet so etwas wie 'Mein Herr', wird aber nur benutzt, wenn der Sprecher den anderen tatsächlich als seinen Herrn oder Befehlshaber oder meinetwegen als seinen Fürsten ansieht."

"Das meinte ich, als ich dir sagte, er sei Oseram so ähnlich", warf Ochasa an ihre Tochter gerichtet ein. "In allen Themen bewandert und so durchdacht und strukturiert in seiner Rede." Adarach war über diese Einschätzung seiner Redekünste sehr erstaunt, aber Damila lächelte ihn mit großer Freundlichkeit an.

*



Das Speisesofa war auch im Liegen sehr bequem, der weitere Abend wurde erfreulich und sogar witzig, als der Hohepriester sich ausließ über Eigenarten einiger Provinzialen, die in Berresh um Ratschlag in theologischen Grundsatzfragen baten. Natürlich wurden geleerte Schalen umgehend wieder gefüllt und zum Schluß gab es noch einen Abschiedstrunk.

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