2. Eine Freundlichkeit erwidern

Text

von  Elisabeth

Bei Einbruch der Dunkelheit erreichten sie die Kameloase, Isan mietete sie in einem Hof in der Karawanserei ein, Nefut half den Mehaly, die Kamele abzuladen und gönnte Firat noch eine weitere ausführliche Streicheleinheit. Isan bestand darauf, Nefut zum Abendessen einzuladen, zuvor wolle man aber noch das Badehaus aufsuchen. Nefut hatte seit seiner Vertreibung auf den Luxus eines Bades verzichten müssen und sagte spontan zu, bevor ihm einfiel, daß damit jeder der Anwesenden seinen zerschundenen Rücken sehen und entsprechende Schlüsse ziehen konnte. Doch nun gab es kein Zurück mehr, also sandte er ein stummes Gebet zu Orem und folgte den anderen.

Das Badehaus gehörte ebenfalls zur Karawanserei und die Dämpfe des heißen Wassers vernebelten den verhältnismäßig kleinen, dunklen Raum so sehr, daß man kaum eine Armlänge weit sehen konnte. Also bestand wohl doch keine Gefahr, daß jemand seine Verletzungen sehen konnte. Und ein Bad würde ihm wirklich gut tun. Die Mehaly fanden es offenbar nicht seltsam, daß er sich abseits hielt und sich allein in einer Ecke wusch, während die anderen zusammen standen und sich gegenseitig den Rücken schrubbten. Erfreut stellte Nefut fest, daß das Wasser nicht in den Wunden brannte, also waren sie inzwischen wohl verschorft, aber sein Rücken mußte geblutet haben, denn das Untergewand hatte deutliche Flecken. Sie waren aber lange nicht so groß, wie er befürchtet hatte und ließen sich mit dem lauwarmen Waschwasser fast völlig entfernen. Dann stieg auch er in das Heißwasserbecken, um sich wie die anderen zu entspannen.

Nach einer Weile knurrte der Magen eines der Mehaly vernehmlich. "Ja, es ist Zeit", Isan nickte und verließ das Becken, seine Söhne folgten ihm. Keiner der drei achtete darauf, daß Nefut rückwärts aus dem Becken stieg und sich rasch sein feuchtes Untergewand wieder überzog. Und draußen hüllten sich alle in ihre Mäntel, denn nach dem heißen Wasser war die Nachtluft sehr kühl. Er mußte dem Gott ein Dankopfer dafür bringen, daß sein düsteres Geheimnis tatsächlich nicht entdeckt worden war.

Auf dem Rückweg in den gemieteten Hof entdeckte Nefut in einer Nische der Mauer einen kleinen Schrein, der kaum mehr war als eine sandgefüllte Tonschale mit Sternenmuster, in der abgebranntes Räucherwerk steckte. Er erinnerte sich, daß seine Mutter in Berresh so eine Schale im Vorhof stehen gehabt hatte. Als die Bediensteten der Karawanserei kamen, um die Tabletts und zugedeckelten Schalen mit dem bestellten Abendessen auf den niedrigen Tisch zu stellen, fragte er einen der Diener, ob er Geld für ein Rauchopfer zu Ehren Orems an den Wirt weitergeben könne. Als der nickte drückte Nefut ihm die Hälfte seiner Münzen in die Hand.

"Ja, dank dem Gott für diese Mahlzeit - und dem Wirt der Karawanserei", rief einer der jungen Mehaly übermütig und hob die Deckel von zwei der großen Schalen, so daß Nefut von dem Wohlgeruch ganz schwindelig wurde. Zuletzt hatte er im Haus des Arztes etwas gegessen, bevor ihn dieser in der Nacht nach Bussir gebracht hatte.

Die vier rückten sich die Lederpolster zurecht, so daß jeder alle Speisen gut erreichen konnten, Isan dankte Tyrima für den Tag, die Mehaly füllten sich die Becher mit Dattelwein und griffen zu. Nefut sprach stumm ein Dankgebet an den Nächtlichen Träumer, der dafür gesorgt hatte, daß er nicht entdeckt worden war, dann griff auch er nach einer der gebratenen Ziegenkeulen.

*



Nefut erwachte, als die Dämmerung den Himmel über den weiß getünchten Hofwänden purpurn und granatapfelrot färbte. Isan hatte sich schon das Kopftuch umgebunden und kontrollierte die Lastenpakete, die die noch vor sich hindösenden Kamele weiter nach Taribai tragen mußten, doch seine Söhne schliefen noch. "Wann brechen wir auf?" fragte er, nahm sich von den Resten ein Stück Brot als Frühstück und fand unter den Schalendeckeln noch ein paar Tropfen Sauce, die er damit aufwischte.

"Beim ersten Ruf", entgegnete Isan. "Ich will heute abend in Taribai sein."

Der erste Ruf, der Willkommensruf für Tyrima, erklang bei den Stämmen, wenn die Sonne über den Horizont stieg. Bis dahin würde es nicht mehr lange dauern. Da er seine Habseligkeiten schon zusammengepackt hatte und Isan ihn nicht zur Hilfe bei der Kontrolle der Ladung aufforderte, ging Nefut zu Firat, um ihr den Hals zu kraulen.

Isans Söhne wurden langsam wach, banden ihre Kopftücher etwas unordentlich und man sah beiden an, daß sie nun bereuten, am Vorabend so viel vom Dattelwein getrunken zu haben. Nefut hatte sich des süßen Getränkes ganz enthalten, um sich nicht versehentlich zu verraten, aber er erinnerte sich an eigene Erfahrungen. Er hatte Mitleid mit den beiden und half ihnen beim Beladen der Kamele.

Außerhalb der Karawanserei wurden schon Marktstände aufgebaut und Nefut staunte, wie viele Häuser um den Platz standen, den sie nun überquerten. Es gab in vier Richtungen Straßenzüge, an denen noch mehr Häuser standen; bis auf die fehlende Mauer unterschied sich die Kameloase anscheinend in nichts von einer Stadt. Und dann lag sie schon hinter ihnen.


*



Über den Vormittag änderte sich die Landschaft von der bisher vorherrschenden Steinwüste zu einer steppenartigen Landschaft und am nördlichen Horizont, auf den sie zustrebten, waren schon die sanften gelbgrünen Wellen der Grasberge zu erkennen. Sie verbrachten die heißen Mittagsstunden in einem Dorf, in dem sie auch die Tiere tränken konnten und reisten dann auf einer gepflasterten Straße weiter, die nach Taribai führte. Das mußte die Taribische Handelsstraße sein.

Nefut wußte, daß er mit vielleicht acht Jahren schon einmal durch die Grasberge gereist war, kurz nachdem seine Mutter gestorben war und sein Vater den ganzen Haushalt von Berresh nach Letran verlegt hatte. Aber trotzdem war ihm die Landschaft so fremd, als sähe er die sanften, dicht mit Gras und Kräutern, Büschen und Bäumen bewachsenen Hügel das erste Mal. Und noch höhere Erhebungen tauchten nun vor ihnen auf, die von sattem Grün dicht bewachsenen Hänge der Taribischen Berge: die bei den Stämmen berühmten Teegärten, aus denen die besten Tees der Welt stammten.

*



"Da vorne ist Taribai", sagte Isan am späten Nachmittag und deutete auf eine hellgraue Steinmauer auf einem der Hügel vor den Teegärten. Von der Stadt selbst war von der niedriger liegenden Straße aus nichts zu sehen. "Unser Ziel ist der Handelsposten ein Stück weiter nördlich an der Taribischen Straße."

Die breite Straße, die sie zu dieser Tageszeit fast für sich allein hatten, führte tatsächlich an Taribai vorbei, aber praktisch mitten durch den Handelsposten. Hier gab es keine hohe Steinmauer, aber eine ganze Reihe von massiv gebauten Steinhäusern, die wohl als Lager dienten. Zu Fuß führten sie die Kamele zu einem dieser Gebäude, die Ladung und Geld wechselten den Besitzer und Isan drückte Nefut zwei Tar in Silber in die Hand.

"Dein Lohn", erklärte er, als Nefut verdutzt in seine Handfläche starrte. "Ohne dich wäre Firat so zickig gewesen, daß wir es heute nicht mehr bei Tageslicht geschafft hätten. Und ich möchte dir noch etwas geben." Er griff in die Satteltasche seines Pferdes und zog eine handliche Schriftrolle in einer abgegriffenen Lederhülle heraus. "Laß dich von den Worten der Weisen und Heiligen begleiten, vielleicht hilft es dir zu finden, was du suchst."

Nefut steckte das Geld in den Gürtel und nahm die Schriftrolle entgegen, zog sie aus ihrer Hülle. Es war ein recht altes Exemplar der Schriften und, wie man an den speckig gewordenen Rückseiten der Pergamentstreifen sah, aus denen die Rolle zusammengenäht war, oft zur Hand genommen. Aber die Schriftzeichen waren noch immer klar zu lesen.

Er vermißte die Lektüre der Schriften, erkannte Nefut. Das war es, was ihn immer wieder zu sich selbst zurückgeführt hatte, egal ob sie in Berresh oder in Letran gewesen waren oder sonstwo in der Fremde in einem Heerlager. Selbst den Tod seiner Mutter hatte er akzeptieren können, weil er immer ihre Stimme hörte, wenn er die althergebrachten Texte las, denn sie hatte sie ihm als kleines Kind so oft vorgelesen. Doch seit dem Urteil... Er merkte, daß seine Hände zitterten und ihm die Tränen in die Augen stiegen. Schnell rollte er die Schriftrolle zusammen, steckte sie wieder in ihre Hülle und verneigte sich tief vor Isan Mehaly. Er mußte schlucken, um sprechen zu können. "Hab Dank dafür, Herr. Ich werde euch in meine Gebete einschließen."

Isan lächelte freundlich, als Nefut wieder zu ihm sah und legte ihm wie ein segnender Vater die Hand auf den Scheitel. "Ich wünsche dir viel Glück bei dem, was du suchst. Tyrima und Orem mögen Dich behüten, denn du bist ein guter Junge, egal was andere von dir halten mögen." Dann winkte er seine Söhne heran, und die drei Männer, die sechs Pferde und Firat mit ihren neun Schwestern, nun aller Lasten entledigt, gingen davon.

* * *



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