1. Die Azurjungfer

Text

von  Elisabeth

Zu Familienfeiern werde ich - vermutlich auf Betreiben meiner Exgattin Reneé - gewöhnlich nicht eingeladen, und das ist mir auch ganz recht so. Aber wie zur Verlobung gehörte es sich zur Hochzeit wohl einfach, daß auch der Vater des Bräutigams anwesend ist, und so wurde ich zwar nicht gefragt, ob ich Interesse daran hatte, zu Felix' standesamtlicher Trauung zu kommen, aber immerhin danach, ob der Termin - Dienstag der 2. Januar - paßte; und die Trauung sei auf einem Schiff.

Ich hätte zu dieser wenig herzlichen Aufforderung Reneés vermutlich nein gesagt, wenn Felix mich nicht schon vorher sehr gebeten hätte. Auch wenn ich noch immer nicht verstand, wieso mein Sohn nur den gleichen Fehler machen wollte wie ich und ausgerechnet eine angehende Juristin heiratete. Hatte er aus der unerfreulichen Ehe seiner Eltern denn nichts gelernt? Bei Felix Verlobung vor inzwischen zwanzig Monaten hatten Reneé und ich einander doch wieder nichts zu sagen gehabt. Aber vielleicht lag es ja gar nicht an Reneés Ausbildung, sondern ich war einfach nur mit der phantasielosesten Frau dieses Planeten verheiratet gewesen.

Familie Gerdes war so großzügig, allen Gästen der Hochzeit ihrer Tochter das Zimmer im Hotel zu bezahlen, also stieg ich am Neujahrstag mit einem durch zwei Alka-Selzer nur mäßig gedämpften Kater meiner einsamen Silvesterfeier in den Zug und fuhr mit anderen Schnapsleichen und einigen ausfliegenden Familien gen Norden, mit einem Hochzeitsgeschenk im Jackett und dem Ordner für mein neues Projekt im Gepäck, aber unrasiert und in dem schwarzen Anzug, den ich zuletzt zur Beerdigung meiner Schwester vor sieben Jahren getragen hatte.

Durch die Zugfenster betrachtete ich die vorbeiziehende Winterlandschaft, in der immer weniger Schnee lag und der Himmel immer grauer wurde, je weiter wir nach Norden kamen. Meine Stimmung passte sich dem trüben Wetter an und so warf ich auf der ganzen vierstündigen Fahrt nicht einen Blick in meine Notizen. Am Ziel der Reise angekommen erwartete mich noch eine halbstündige Taxifahrt, bis ich im Foyer des Hotels 'Hafenblick' stand. Und aus meinem Zimmerfenster sah man wirklich den Fluß mit dem Binnenhafen, in dem ein ausgewachsener Dreimaster ohne Segel lag. Auf diesem Schiff also wollten mein Sohn und seine Auserwählte sich das Ja-Wort geben.

Am bleifarbenen Wasser des Flusses war es erstaunlich warm und ich nutzte das noch verbleibende Tageslicht, um mir die Gegend anzusehen. Ich betrachtet das eindrucksvolle Schiff vom Ufer aus, kickte einige der durchweichten Papprollen von am Vorabend gezündeten Böllern und Raketen ins Wasser und sah den sich darum geräuschvoll streitenden, riesigen Möwen eine Weile zu. Mit der einbrechenden Dunkelheit kehrte ich dem nun von Laternen beleuchteten Fluß den Rücken und schlenderte vorbei an den kleinen Häusern und geschlossenen Geschäften verschiedenster Art, bis ich überraschend vor einer Bude stand, in der Glühwein ausgeschenkt wurde. Ich genehmigte mir drei, auch wenn die Temperaturen das kaum rechtfertigten, und eine gute Weile später strebte ich dann zurück zum Hotel, um viele pittoreske Eindrücke von Stadt und Leuten reicher und um einige Mark ärmer. Wenn ich während meines Aufenthaltes hier noch irgend etwas für das neue Projekt schreiben wollte, so war genau dies der Abend dafür. Am kommenden Abend würde sicher lange gefeiert und getrunken werden, und am Tag danach saß ich wieder im Zug nach Hause, zurück in meine Einsiedelei.

Eigentlich hätte mir das Zeitproblem auch vorher klar sein können, und ohne den Ordner hätte ich die Hälfte an Gewicht eingespart. Für spontane Einfälle reichte gewöhnlich auch ein Blatt Papier und ein Stift. Aber da ich ihn nun einmal auf die Reise mitgenommen hatte, nahm ich ihn auch mit in das Hotelrestaurant, aß ein halbwegs italienisch anmutendes Nudelgericht, und da es eine gut sortierte Bar gab machte ich dann da weiter, wo ich am Glühweinstand aufgehört hatte, da das dort ausgeschenkte Getränk in Massen doch zu süß war. Das frisch vom Faß gezapfte Bier sagte mir zu, und um mir selbst wenigstens den Anschein des Fleißes zu geben, schlug ich den Ordner auf und blätterte ziellos durch die bereits eingehefteten Seiten. Irgendwann begann ich mit dem mitgebrachten Stift kleine Kringel an den Rand der Seiten zu malen und den Blick durch den schummrigen Raum schweifen zu lassen. Ich war allein, bis auf eine farbenfrohe Person ein paar Tische weiter, die zu einem Rosenmontagsabend viel besser gepaßt hätte, als zu einem Neujahrsabend.

Es war eine junge, dunkelhaarige Frau, die zu einem glänzenden blauen Kleid auf ihrem Rücken ausladende, weiß bezogene Libellenflügel trug. Ob sie die Flügel selbst aus Draht gebogen hatte? Und ich ließ meine Gedanken spielen. Das durchscheinende Strickgewebe, das über den Draht gezogen worden war, schien eine auseinandergeschnittene Feinstrumpfhose zu sein. Damit oder mit dem Draht der Flügel würde man sie wunderbar strangulieren können. Das Kleid schien ein kunststoffbeschichteter Stoff zu sein, der war sicher so luftundurchlässig, daß man sie damit ersticken konnte. Und mit den spitzen Absätzen ihrer hochhackigen, blauen Schuhe würde es keine Mühe bereiten, ihr eines ihrer großen, dunklen Augen auszustechen. Vielleicht kam man damit sogar durch eine Schädeldecke. Ich notierte mir, mich bei einem Schuhhersteller zu erkundigen, welche Belastungen ein solcher Schuh wohl aushielt.

"Sie haben mich so intensiv gemustert", sagte da plötzlich eine etwas rauhe Frauenstimme. "Woran haben sie gerade gedacht?"

Ich schloß meinen Ordner und sah hinauf in warme, braune Augen in einem hübschen, ovalen Gesicht. Die Krähenfüße neben ihren Augenwinkeln zeigten, daß sie doch nicht mehr ganz so jung war, wie ich im ersten Augenblick vermutet hatte, auch wenn sie sicherlich erheblich jünger war, als ich.

"Ich habe gerade überlegt, wie man sie mit ihren Flügeln, ihrem Kleid und ihren Schuhen ermorden könnte", gab ich wahrheitsgemäß zur Antwort.

Gewöhnlich wirkte solche Offenheit eher abschreckend auf unvorbereitete, hübsche Frauen, aber diese zuckte nicht mal mit den Wimpern, sondern sah mich sehr interessiert an. "Wie kommen sie auf diese Idee?" fragte sie.

Sollte sie sich meine Antwort erst einmal verdienen. "Wie kommen sie denn zu diesem Aufzug?" fragte ich also zurück.

"Ich habe mir das Kostüm genäht", gab sie mit einem Lächeln zur Antwort, in dem die Hintergedanken fast greifbar waren.

Eine Frau die auf Wortspiele stand, das gefiel mir. "Ich meinte eigentlich, warum sie das... äh... Libellenkostüm tragen", präzisierte ich also.

Entspannt lehnte sie die blau glänzenden Oberschenkel an meinen Tisch. "Genau genommen stelle ich eine Azurjungfer dar", erklärte sie. Ihre wohlgeformten wenn auch nicht sehr üppigen, blau verhüllten Brüste hatte ich nun direkt vor Augen. Trug sie überhaupt etwas unter dem Kleid? Der dünne Stoff schmiegte sich so sehr an ihren Körper, daß sich doch jedes darunterliegende Kleidungsstück hätte abzeichnen müssen. "Das Kostüm war für ein Happening, zu dem ich mich dummerweise überreden ließ. Aber da habe ich mich abgesetzt, und jetzt werde ich zu B...", sie unterbrach sich und lächelte, "den Abend beenden", verbesserte sie sich.

"Haben sie es immer so eilig?" fragte ich, hob den Blick jetzt bewußt und ließ ihn dann langsam von ihren Augen über die rot geschminkten Lippen, hinunter zum Halsausschnitt des Kleides zurück zu ihren Brüsten wandern, an denen sich jetzt die Brustwarzen abzeichneten. Ihr sanft gewölbter Bauch, der zusammen mit ihren Oberschenkeln ein stoffüberspanntes Dreieck bildete, hinter dem ihr Schoß lag... nackt hätte sie kaum aufreizender wirken können.

Anscheinend hatte ich sie irritiert. "Was meinen sie mit 'eilig'?"

"Nun, sie hatten es so eilig von dem Happening fortzukommen, daß sie sich nicht einmal die Zeit genommen haben, die Flügel abzulegen. Und nun nehmen sie sich für das Gespräch mit mir nicht einmal die Zeit, sich für ein paar Minuten, vielleicht auf ein Glas Bier, zu mir zu setzen."

Sie lachte leise, zuerst nur mit ihrer etwas rauhen Stimme, aber plötzlich aus vollem Herzen und ließ sich auf der Bank mir gegenüber nieder. "Die Flügel sind am Kleid angenäht, die kann ich nicht einfach so ablegen. Aber ich habe noch ein bißchen Zeit - auf ein Glas also. Würden sie mir denn auch etwas anderes als Bier bestellen?" Ihrer Wirkung anscheinend sehr bewußt stützte sie einen blauglänzenden Arm auf den Tisch und legte ihr Kinn auf die Finger - kurze Fingernägel, Schwielenbildung, diese Frau arbeitete mit ihren Händen.

"Was darf ich ihnen denn bestellen?" fragte ich höflich, während ich den Kellner heranwinkte.

Sie nahm "noch einen Cuba Libre" und ich ein weiteres Bier. Da wir inzwischen anscheinend wirklich die einzigen Gäste waren, bekamen wir unsere Getränke sehr schnell, und mit dem Glas in beiden Händen lehnte sie sich zurück, so daß ein Teil des blauglitzernden Stoffes plötzlich wie ein Wasservorhang zwischen ihren Brüsten hing. "Was haben sie da in ihrem Ordner?" fragte sie neugierig.

"Ideen für meinen nächsten Mord", erklärte ich ihr.

Ihr Lächeln machte sie sehr anziehend. "Sind sie Drehbuchautor oder morden sie selbst?" fragte sie und nippte an ihrer Cola mit Rum.

Ihre Anziehungskraft war phänomenal. Ohne es gemerkt zu haben hatte ich mich weit über den Tisch zu ihr gebeugt. "Ich schreibe Bücher", gab ich zu Protokoll. Lag es an ihrem Blick, der meine Augen nicht loslassen wollte, daß mir in ihrer Gegenwart so heiß wurde? Ob ich diese hübsche Jungfer noch in mein Zimmer locken konnte, bevor sie ins eigene Bett flatterte?

Sie stützte ihre Arme wieder auf den Tisch, noch immer das Glas in den Händen, dann stellte sie es weg, näherte ihr Gesicht dem meinen. "Wie weit sind sie denn mit ihrem nächsten Mord?"

Nicht bloß braun, in ihren Augen sah ich grüne und goldene Flecken, ein dunkelgrauer Rand, der die Iris umgab, mein Gesicht, das sich in ihren Augen spiegelte. Ich griff sehr vorsichtig nach den Fingern ihrer Rechten. "Noch nicht sehr weit. Aber vielleicht könnten sie mich inspirieren."

Sie ließ mich gewähren, und so ruhten nun ihre warmen Finger in meiner offenen Hand. "Meinen sie, ich tauge als Muse?" fragte sie neckend.

"Unbedingt, schon allein der Flügel wegen." Darauf lachte sie wieder, ein so wunderbar lebendiges Geräusch, wie das Plätschern eines schnellen Bergbaches, oder das Lied einer Lerche.

*



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