2. Der Morgen

Text

von  Elisabeth

Erst als sie am frühen Morgen erwachte, merkte Hebit, daß sie die ganze Nacht im Garten der Hawat verbracht hatte. Und sie sah, daß sich über der Stadt einige für den Frühsommer ungewöhnlich dunkle Wolken sammelten. Wenn es noch mehr bezog, mußten ausgerechnet am Festtag des Helden die Polster aus den Lauben in den wettergeschützten Säulengang um den Tempel gebracht werden. Also stand sie auf, packte rasch zusammen, was vom Vorabend noch in der Laube war und trug den Korb in den Wirtschaftstrakt des Tempels.

In den Gängen waren schon die Novizinnen unterwegs, um alles für das Große Lob der Hawat vorzubereiten, und Hebit berichtete der ersten, die an ihr vorbeigehen wollte, von dem wolkenverhangenen Himmel, der Regen verhieß.

Dann sah sie Avilah, und hielt sie ebenfalls auf. "Findest du, daß unser Tag des Helden dem Rauschfest ähnelt?" wollte sie wissen.

Avilah dachte einen Moment darüber nach. "Ja, die Feste sind sich ähnlich, zumindest was ihren Hintergrund betrifft. Die Rettung der Welt und die Liebe wird ja in beiden Festen gefeiert. Nur steht bei der Feier des Rauschfestes der Oinos im Mittelpunkt, während sich hier die Familien am Festtag des Helden nach dem Essen vielleicht etwas Dattelwein gönnen."

"Und meinst du, es könnte ursprünglich einmal das selbe Fest gewesen sein?" fragte Hebit weiter und war überrascht, wie sehr sie plötzliches ein echtes eigenes Interesse an diesem Thema hatte.

"Das könnte Ramilla euch sicher sagen, sie hat sich sehr intensiv mit der Geschichte der Feste beschäftigt. Allerdings ist das Rauschfest für die Priesterinnen und die Gläubigen der Großen Mutter nicht so wichtig, es ist eher ein Volksfest. Bei den Awrani ist das Fest des Jägers das wichtigste Fest der Großen Mutter, und dem mit diesem Fest verbundenen Geheimnis kommt für alle Gläubigen die zentrale Bedeutung zu, denn anders als Hawat ist die Große Mutter gewöhnlich verhüllt."

Hebit nickte gedankenverloren zu dieser Antwort. Auch Ama war verhüllt, doch niemand würde auf die Idee kommen, sie zu entkleiden. Als sie merkte, welch seltsame Wege ihre Gedanken zu gehen begannen, rief sie sich selbst zur Ordnung. Vielleicht hatte Haschal mit ihrem Einwand am vorherigen Abend doch recht gehabt - und vielleicht hätte sie nicht gerade mit diesem jungen Forschergeist die Göttin feiern sollen. Immerhin hatte Hebit noch etwas Zeit, bis alles für das Große Lob der Göttin bereitet war, sie mußte sich ohnehin waschen und eines der langen weißen Gewänder anziehen; ein Weilchen im Wasserbecken zu liegen würde ihr helfen, sich wieder auf sich selbst und auf ihre heutigen Aufgaben zu besinnen - und darauf, daß die anderen Priesterinnen sie heute ausnahmsweise wieder einmal in ihrer wirklichen Gestalt sahen. Bei ihrem ersten Großen Lob hatte Hebit die anderen erschreckt, weil sie die Illusion ihrer Erscheinung nicht hatte aufrecht erhalten können, als sich die Priesterinnen zum Abschluß des Festes einen Becher Dattelwein geteilt hatten. Seit dem war sie am Festtag des Helden immer in ihrer wahren Gestalt vor die Göttin getreten.

*



Hebit genoß es, im Bad des Tempels etwas abseits der Umtriebigkeiten der Festvorbereitungen zu sein. Nachdem sie die rote Farbe von ihrem Leib gewaschen und ihren Schoß gereinigt hatte, legte sie sich in das warme Wasser des großen Beckens. Mit zunehmender Entspannung ihres Körpers fand sie ihre eigenen Gedanken wieder und konnte auch wieder die Liebe und Vertrautheit um sich herum fühlen, in der sie einige Augenblicke mit ebensolcher Wonne badete, wie in dem Wasser des Beckens. Als reiche diese Umarmung der Göttin noch nicht, begann aus den dunklen Wolken auch der bereits erwartete Regen zu fallen und ergoß sich in kleinen Sturzbächen vom Dach des Bades in das Wasserbecken. Aber bei aller Freude über die nicht nur wiedergefundene sondern sich weiter verstärkende Seligkeit, begann es Hebit auch nachdenklich zu machen. Es schien ihr mit einem Mal, als ob eine tiefgehende Änderung bevorstünde.

Als der Gong erklang, mit dem die Priesterinnen zum Großen Lob gerufen wurden, war es plötzlich sehr schwer, das Wasserbecken zu verlassen. Sie brauchte so lange, daß sie schließlich im Laufen die Bänder ihres Gewandes schließen mußte, um die Halle rechtzeitig zu erreichen. Als eine der letzten verneigte sie sich vor dem Bildnis der Göttin, das ganz fremd aussah in den durch die Wolkendecke winterlich wirkenden Lichtverhältnissen. Die überlebensgroße Statue einer stehenden, nackten Frau aus makelos weißem, etwas durchscheinenden Stein, wirkte bläulich und das aus dem selben Gestein geschlagene Tuch, das sie hinter sich mit beiden Händen auf Hüfthöhe an den Ecken hielt, als habe sie eben ihren Wickelrock geöffnet, um einem Ungläubigen zu beweisen, daß sie Hawat war, wurde von der unter den Wolken des Unwetters hindurchleuchtenden Sonne in ein merkwürdiges gelbes Licht getaucht.

Wie immer legte Hebit erst vor dieser Statue die Illusion ab, die sie umgab und setzte sich in ihrer wahren Gestalt, mit dem weißen Haar, den hellgrauen Augen und der honigfarbenen Haut der Stämme, auf ihren Platz neben ihrer Tochter, deren einzige Auffälligkeit zwischen den überwiegend schwarzhäutigen, schwarzhaarigen und schwarzäugigen Frauen ihre Augenfarbe war, da ihre weitgehend dunklen Augen mit auffälligen Tupfen hellgrau und hellbraun gesprenkelt waren.

Wie Na'aschel, Haschal und Avilah hatte die Göttin auch einige der anderen Priesterinnen mit der Gabe beschenkt, Gedanken und Gefühle ihrer Mitmenschen wahrnehmen zu können; außer Hebit jedoch gab es kein weiteres Gefäß der Göttin in dieser Runde. Zu selten waren die Ka'awatan dieser Tage, hatte Haschal ihr bei ihrer Offenbarung von so vielen Jahren gesagt. Die letzten, von denen die Archive des Tempels erzählten, hatte es vor über fünfhundert Jahren gegeben, und die meisten Überlieferungen der alten Zeiten beschrieben, wie sie den Zorn der Göttin unter die Menschen getragen hatten. Dabei lag der Göttin nichts ferner als Zorn, gerade am heutigen Tag.

*



"Laßt uns beginnen", entschied Haschal als Mutter des Tempels endlich und alle nahmen ihre Trommeln, begannen mit dem Lob Hawats und sangen: "Große Göttin, Große Mutter, du bringst uns Leben und Tod, du nimmst dir Lust und Leid, wir sind in deiner Hand. Große Göttin, Große Mutter, du bringst uns Leben und Tod, du nimmst dir Lust und Leid, wir sind in deiner Hand. Große Göttin, Große Mutter..."

Der immer lauter auf das Dach prasselnde Regen trommelte mit ihnen, immer wieder und wieder wiederholten sie die Worte und die Gleichförmigkeit des Gesangs sorgte bei allen für die gewohnte Trance. Hebit sah den tiefen Glauben der Priesterinnen, ihr Vertrauen in die Göttin, ihre Ergebenheit in ihren Ratschluß und konnte sich dem nur vorbehaltlos anschließen. Und wie auch das Erlebnis der Verbundenheit in der Nacht schien ihr die Ergebenheit der Priesterinnen heute intensiver als in den vergangenen Jahren.

Während des Gesangs näherte Hebit sich immer weiter der Göttin, fühlte das auch von den anderen, als nehme Hawat heute alle ihre Priesterinnen zu sich. Dieser seltsam schwebende Zustand, die Zuneigung und Liebe, die völlige Ergebenheit der Göttin gegenüber, war plötzlich so wirklich, daß sie meinte, von einer faßbaren Substanz des Glaubens umgeben zu sein. Und in dem Maße, in dem diese Substanz sich verdichtete, schien ihr eigener Körper und die der anderen sich aufzulösen, denn wozu brauchten sie einen Körper, wenn sie sich mit der Göttin vereinigen konnten.

Hebits Wahrnehmung umspannte nicht mehr nur die Stadt und die Gefühle der Menschen, sie fühlte nun auch die Kreaturen im Kreismeer und der Wüste; darunter waren auch ihre beiden Söhne, wie kleine strahlende Lichter in dem quittenblütenfarbenen Nebel, der sie umgab, in dem sie schwamm, in dem sie begann, sich aufzulösen... die kleinen strahlenden Lichter... sie konnte sich nicht ganz der Göttin hingeben, ohne einen Teil ihrer Schuld an ihren Söhnen zu tilgen. Sie mußte sie ihrer unvoreingenommenen Liebe versichern, sie mußte... sie stellte sich vor, sie zu umarmen, meinte fast, sie vor sich zu sehen, versuchte, diesen erwachsenen Männern etwas von der überfließenden Liebe, die sie erfüllte, zu schenken... der quittenblütenfarbene Nebel riss sie fort... nein, es war Licht, das sie nun umgab. Das Licht einer riesigen Flammenblüte. Das war die Göttin, die sie zu sich rief. Dieses Licht war die Liebe einer Mutter zu ihren Kindern, und Hebit ging in ihm auf.

* * *
ENDE



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