1. Festvorbereitungen

Text

von  Elisabeth

Adarach spürte die Furcht seiner Mutter bevor er sie an ihrem kalkweiß gewordenen Gesicht ablesen konnte. Sie hatte innegehalten mit dem Schmücken des Schreins, ließ die verbliebenen Birkenzweige in den Händen sinken. "Er wird sterben", hauchte sie, schwankte leicht.

Von wem hatte sie gesprochen? Das zu fragen wagte Adarach allerdings nicht. "Soll ich dich nach Hause begleiten, Mutter?" fragte er statt dessen und stützte sie am Ellbogen, denn er hatte das Gefühl, sie müßte gleich in Ohnmacht sinken.

Aber Peribil, die Erste Prophetin von Garam, schüttelte den Kopf, so daß die Enden ihres symbolbestickten Kopftuchs flogen, zusammen mit einigen darunter heraushängenden Strähnen ihrer auffällig roten Locken, die sie auch Adarach und seiner Schwester Avilah vererbt hatte. Sie entzog ihrem Sohn nach ein paar tiefen Atemzügen ihren Arm, platzierte die letzten Zweige in der Empfangshalle des Palastes. "Die Priesterinnen und Prophetinnen sind des Festes wegen schon im Tempel versammelt. Ich werde mit ihnen auch für den König beten", sagte sie dann und ging sehr aufrecht in Richtung des Seiteneinganges der Halle. Dort wartete ihr Bruder Buhachan. "Die Zeit des Umbruchs beginnt", flüsterte sie ihm zu, aber Adarach hörte es trotzdem. "Achte auf dich und sorge für meine Kinder." Als habe sie auch ihren eigenen Tod gesehen.

Wieso sah sie ihren Bruder, der gerade einmal zwei Jahre älter war als Adarach, als Erwachsenen an, ihren Sohn dagegen immer noch als unmündiges Kind, für das gesorgt werden mußte? Seit einem Jahr war er schon deutlich größer als seine Mutter und seit einigen Monaten so groß wie Buhachan. Schon lange fühlte er sich nicht mehr wie ein Kind, und spätestens seit dem vergangenen Rauschfest vor etwa einem halben Jahr, bei dem er mit Tawaram die Göttin gefeiert hatte, war er das auch vor den Göttern nicht mehr. Nach dem Fest des Jägers jedoch mußte auch sie es akzeptieren, da Tawaram bereits ein Wissender war und ihn eingeladen hatte, mit ihm das Geheimnis zu besuchen.

Der Gedanke an Tawaram, an die überwältigende Lust, die er mit dem blonden Sohn des Waffenschmieds aus der Roten Gasse geteilt hatte, machte es noch schwerer, die Rolle als Kind zu akzeptieren und so folgte er seinem Onkel eher mürrisch, hinaus aus dem Palast, vorbei an den Wachen, die erst vor seiner vorauseilenden Mutter und dann vor ihm salutierten, hinunter von der Burg und zu dem Stadthaus, das der Prophetin und ihrer Familie zur Verfügung stand.

"Die Thronanwärter werden bald ihr blutiges Ränkespiel beginnen", sagte Buhachan plötzlich leise.

Fürchtete seine Mutter etwa den Tod des Königs? Sicher würde des Königs ältester Sohn Upatach versuchen, die anderen Prinzen zu töten um den Thron an sich zu reißen. Doch Adarach war als Sohn einer ehemaligen Geisel doch gar kein Kandidat für den Thron. Und die siebenjährige Avilah war ein Kind des Rauschfestes. In fünf Jahren würde sie ihre Zeit als Tempelschülerin beginnen. Warum also sollte irgendjemand die Hand gegen sie erheben?

"Denk nicht, daß dir keine Gefahr droht", begann Buhachan wieder, als könne er die Gedanken seines Neffen mit ebensolcher Leichtigkeit lesen, wie es der Prophetin gelang. "Peribil hat Recht, um dich zu fürchten. Auch wenn sie eine Geisel war, als sie dich vom König empfing und nun als Prophetin an den Tempel hier in Garam gebunden ist, sie ist immer noch König Achawams Tochter und du sein legitimer Erbe. Selbst wenn Upatach in dir keine Gefahr für seinen Herrschaftsanspruch über die Garamar sähe, so kann er doch die Gefolgschaft der Verrar nicht mehr beanspruchen, sobald du erwachsen bist und dein Erbe einforderst."

Adarach blieb stehen. "Und wenn er meinen Tod will, was meint sie, was du dagegen tun kannst?" fragte er provozierend.

"Du solltest dich außerhalb seiner unmittelbaren Reichweite befinden, wenn eintritt was Peribil sah", sagte Buhachan ernst. "Du bist fünfzehn, alt genug, mehr von der Welt kennenzulernen. Sag deinem Lehrer, daß du reisen willst, in den Westen, nach Berresh oder Ma'ouwat vielleicht, daß du dort studieren willst. Sag es ihm noch heute, dann bist du morgen vielleicht schon unterwegs. Und komm erst zurück, wenn Upatach seine Herrschaft gesichert und keinen Grund mehr hat, dir die wenigen verbliebenen Verrar zu neiden."

"Und was ist mit Avilah? Es kann doch wohl nicht sein, daß ihr ernsthaft Gefahr droht."

"Sie ist ein Geschenk der Götter, das wird selbst Upatach respektieren. Aber erst in fünf Jahren wird der Tempel ihr Zuhause sein. Wenn du nicht hier bist, um für sie zu sorgen, muß ich das wohl tun."

"Sie hat dir gesagt, daß auch sie sterben wird, nicht wahr?" fragte Adarach leise. Obwohl Buhachan nicht die selbe Mutter wie Peribil hatte, verband sie doch viel mehr, als Peribil mit ihrem Sohn verband. Das weckte Neid in Adarach. Doch dann flog ihn eine Ahnung der Mißachtung an, die man Buhachan überall im Palast entgegen brachte, dem Prinzen der Verrar, der als Kind nach Garam verschleppt worden war, während sein Vater und sein erwachsener Bruder gegen die Garamar auf dem Schlachtfeld kämpften und getötet wurden; der seinem eigenen Erbe entsagte, damit die Kinder und Alten der Verrar nicht ebenfalls getötet wurden. Doch es schien nicht wenige Momente gegeben zu haben, in denen Buhachan den eigenen Tod dieser Mißachtung vorgezogen, ihn gesucht und vielleicht auch gefunden hätte, wäre da nicht seine Schwester Peribil gewesen, die ihn beschützt und wie eine Mutter aufgezogen hatte.

Buhachan beantwortete Adarachs Frage nicht, aber Adarach fühlte den Knoten im Bauch seines Onkels, als erzeugten ihn seine eigenen Befürchtungen in seinem eigenen Leib.

*



Avilah erwartete sie bereits vor der Tür zum Innenhof. "Warum darf ich Mutter nicht von der Reinigungszeremonie aus dem Tempel abholen?" beschwerte sie sich mit in die Seiten gestemmten Armen, kaum daß sie den Vorhof des Hauses betreten hatten.

"Deine Mutter wird ihre Gründe gehabt haben, es dir zu verbieten", antwortete Buhachan nur.

Natürlich wußte Avilah, daß es ihr bisher nie gestattet gewesen war, die Mutter von einer Zeremonie im Tempel abzuholen, aber vielleicht spürte auch sie das Unheil, das ihre Mutter gesehen hatte. Trotz ihrer Jugend hatte sie schon häufiger Gesichte von kommenden Ereignissen gehabt. Ihre Mutter hatte es der Tatsache zugeschrieben, daß sie während eines Rauschfestes mit dem Segen der Göttin empfangen worden war, ebenso wie ihre Großmutter, die Gattin des letzten Königs der Verrar, deren Kinder Peribil und Jochawam als Erwachsene einige der Fähigkeiten entwickelt hatten, die man gewöhnlich den Göttlichen Gesandten zuschrieb. Selbst Adarach hatte durch seine Mutter noch etwas davon geerbt, wie sich inzwischen zeigte. Bei Avilah jedoch waren die Fähigkeiten schon als Kind so stark, wie ansonsten nur bei den erwachsenen Prophetinnen der Göttin. Es stand außer Frage, daß sie zur Prophetin ausgebildet würde, wenn sie in den Dienst der Großen Mutter trat.

Buhachan rief den Verwalter zu sich und begann mit ihm die Verlegung des Haushaltes in das Landhaus am Ostmeer zu planen, lange vor der üblichen Zeit während der Sommermonate, sicher um mit Avilah die Hauptstadt rechtzeitig vor der mit dem Tod eines Königs einhergehenden Unruhe zu verlassen. Und Adarach erkannte nach einigem Nachdenken, daß Buhachans Vorschlag für ihn tatsächlich gut war, auch wenn er das Geheimnis dann vielleicht nicht dieses Jahr besuchen konnte. Also erklärte er seinem Lehrer Chafaran, er wolle nicht mit in das Landhaus, sondern eine Bildungsreise in den Westen, nach Berresh unternehmen. Schon lange hatte der Lehrer von der dortigen großen Bibliothek geschwärmt, ihrem Bestand an Schriften der taribischen Philosophen, also würde er es seinen eigenen Überredungskünsten zurechnen, daß Adarach nun genau dorthin wollte, und es sicher auch dem Finanzverwalter im Palast gegenüber so begründen. So konnte nicht der Verdacht aufkommen, daß Adarach sich absetzte.

Um sich und die noch immer verstimmte Avilah abzulenken, versprach er seiner Schwester dann, ihr eine Überraschung mitzubringen und machte sich auf dem Weg, eine Kleinigkeit vom Markt für sie zu besorgen.

Er fand recht schnell einen hübschen Armreif für seine Schwester, mit eingelegten Steinen, die so grün waren, wie ihre Augen und überlegte dann, ob er noch weiter über den Markt schlendern sollte, um auch ein Geschenk für Tawaram zu suchen oder besser gleich nach Hause zurückkehrte. Plötzlich jedoch bezog sich der Himmel. Immer dunkler werdende Wolken türmten sich zu riesigen Gebirgen über dem Meer und zogen in Richtung Garam. In der Ferne regnete es schon heftig und um Adarach packten die Händler ihre empfindlichen Waren zusammen, um sie vor dem zu erwartenden Unwetter zu schützen. Also machte er sich auf den Rückweg und erreichte das Haus gerade noch trockenen Fußes, bevor das Gewitter sich über der Burg und den um den Fuß der Anhöhe liegenden Häusern entlud und Unmengen an Regen und Hagel niederprasselten, begleitet von einzelnen Blitzen und Donnerschlägen.

Adarachs Geschenk erfreute Avilah, doch als das Gewitter sich bereits von Garam nach Norden entfernte, fuhr sie plötzlich zusammen, und nach einem Moment des Innehaltens rief sie aus: "Etwas ist mit Mutter passiert!"

Hatte ein Blitz den Tempel getroffen und das Dach in Brand gesteckt? Bevor Adarach seine Frage formulieren konnte, war Avilah schon aus dem Haus gerannt, und er mußte sich beeilen, ihr zu folgen. An den Rändern der halb überschwemmten Straßen lagen aufgetürmt die Hagelkörner, und der Weg hinauf zur Burg wurde zu einer rutschigen Angelegenheit. Doch dort oben auf dem Hügel war kein Feuer zu sehen. Was konnte mit Mutter passiert sein?

Avilah hatte sich nicht damit aufgehalten, einen Blick auf die Gebäude der Burg zu erhaschen, sondern war weitergeeilt, der Kleidersaum schon dunkel vom Wasser aus den Sturzbächen, die von der Anhöhe durch die Straßen hinunter zum Hafen flossen. Und Adarach lief ihr mit durchweichten Sandalen um die nassen Füße hinterher, die Straßen, die Treppe hinauf und endlich bis vor den unter dem Vordach mit Frühlingsblumen, Birkenzweigen und Rehfellen prächtig geschmückten Tempel der Großen Mutter, in dem sich die Priesterinnen und Prophetinnen versammelt hatten, um sich für das Fest des Jägers vorzubereiten.

Natürlich war die zweiflüglige Holztür verschlossen, doch auf Avilahs Hämmern mit den Fäusten reagierte endlich eine der Tempeldienerinnen und öffnete die kleine Klappe im rechten Torflügel, wohl um den Störenfried zu ermahnen, hielt jedoch inne, als sie die Tochter der Ersten Prophetin erkannte.

"Was ist mit meiner Mutter?" fragte Avilah mit Panik in der Stimme, doch die Antwort war nur ein verständnisloses Starren. "Was soll mit ihr sein? Sie alle reinigen sich für die Vorbereitung des Jägerfestes."

"Ich muß mit ihr sprechen", beharrte Avilah, als die Dienerin die Klappe wieder schließen wollte. "Irgendetwas ist passiert", fügte sie noch hinzu.

Die Dienerin verdrehte kopfschüttelnd die Augen, seufzte und sagte dann: "Also gut, ich werde schauen, ob deine Mutter vielleicht ein paar Augenblicke für dich erübrigen kann, die Reinigungszeremonie sollte gleich beendet sein." Und die Klappe wurde wieder geschlossen.

Avilah wurde immer zappeliger, während die Zeit ohne Antwort von der Dienerin oder eine Nachricht von ihrer Mutter verging. Ungeduldig ging sie vor dem Tempeleingang hin und her und zog mit ihrem halbdurchnässten Gewand neugierige Blicke der Passanten auf sich. Adarach lehnte sich an die Mauer, um sich seiner glitschigen Sandalen zu entledigen und versuchte dann wenig erfolgreich, seine Schwester zu beruhigen. "Was soll ihr im Tempel schon passiert sein? Du weißt selbst, daß niemand die Zeremonialkammer von außen einfach öffnen kann, wenn sie von innen verschlossen wurde."

"Aber ich spüre doch, daß etwas nicht stimmt", beharrte Avilah indessen und fuhr sich nervös durch die langen, roten Locken, die sie zu einem kindlichen Ebenbild ihrer Mutter machten. Es gab keinen Grund, an ihren Vorahnungen zu zweifeln, auch wenn Adarach selber das Unheil nicht spürte. Aber dunkle Befürchtungen krochen nun auch durch seine Gedanken. Wenn sich doch herumgesprochen hatte, daß der König sterben würde und nun einer der Prinzen meinte, die Erste Prophetin würde ihren Einfluß geltend machen, um ihren eigenen Sohn auf den Thron der Garamar zu bringen und sie auf dem Weg in die Zeremonialkammer vergiftet hatte? Wenn einer eine Spionin in den Tempel eingeschleust hatte, um in der verschlossenen Kammer dafür zu sorgen, daß die Erste Prophetin für immer verstummte?

Adarach rief sich zur Ordnung um seine Schwester durch seine Gedanken nicht noch weiter zu beunruhigen - und außerdem war es völlig abwegig. Die Erste Prophetin wurde trotz ihrer Abstammung von den Bewohnern Garams geliebt, so daß sich schwerlich ein Attentäter finden ließ, der ihr Leben beendete. Er schüttelte den Kopf, um die finsteren Gedanken zu vertreiben, aber ein Blick in das besorgte Gesicht seiner Schwester reichte, um sie zurückzubringen.

"Wieso dauert das so lange?" jammerte Avilah unglücklich.

Befanden sich etwa wirklich Attentäter im Tempel und hatten inzwischen auch die Dienerin getötet, mit der sie eben noch gesprochen hatten? Adarach ließ die aufgeweichten Sandalen fallen, um seine Schwester notfalls mit bloßen Händen zu verteidigen, doch er wünschte, er hätte wenigstens sein Übungsschwert dabei. Als sich der rechte Torflügel öffnete, war er jedoch bereit, auch einen gepanzerten, bewaffneten Angreifer zu Boden zu zwingen.

Aber es war nur die Tempeldienerin, die durch das Tor trat und Avilah und ihren Bruder hereinwinkte. "Ich weiß nicht genau, was geschehen ist. Die Schülerin spricht von einem Wunder", sagte sie leise, aber ihre hängenden Schultern und ihre Bestürzung ließ Adarach das Schlimmste fürchten.

Bevor er jedoch irgend etwas sagen konnte, kam Avilah ihm zuvor. Grob griff sie mit ihren kleinen Händen in die Ärmel der Tempeldienerin und schüttelte sie. "Nun sag endlich, was mit meiner Mutter ist! Ich will sie sehen!" schrie sie, bevor die gute Frau auch nur den Torflügel wieder schließen konnte.

Es sammelte sich schon eine Traube Neugieriger auf dem Tempelvorplatz, so daß Adarach die Tür schloß. Sie sollten wohl besser schnell herausfinden, was mit ihrer Mutter geschehen war, bevor ganz Garam von Gerüchten und Vermutungen schwirrte wie ein Bienenstock kurz vor dem Prinzenflug. Aber die Tempeldienerin war wie erstarrt und antwortete nicht, also eilte Avilah an ihr vorbei in die Halle, vorbei an dem steinernen Bild der Großen Mutter, ohne für einen ehrerbietigen Gruß innezuhalten, weiter in den Gang zur Zeremonialkammer. Adarach dagegen hielt vor der mit einem nachtblauen Umhang verhüllten Statue einen Moment inne, um seinen Respekt zu erweisen, dann erst folgte er seiner Schwester.

Die große Tür war aufgebrochen, anscheinend von den davor stehenden zwei Dienerinnen und der Tempelschülerin, die noch Äxte in den Händen hielten. Und Adarach konnte einen Blick in die den Priesterinnen vorbehaltene Kammer werfen. Durch einige schmale Fenster direkt unter der Decke drangen die Strahlen der Abendsonne, in denen kleine Staubpartikel tanzten. Die Felle und frisch belaubten Birkenzweige an den Wänden waren ebenso staubbedeckt wie der Boden, aber der Raum war leer.

"Sie... sie sind alle verschwunden", flüsterte die Tempelschülerin, die vielleicht so alt war wie Adarach. "Die Große Mutter muß sie zu sich gerufen haben."

Die in Avilah aufsteigende Verzweiflung war so übermächtig, daß auch Adarach davon überschwemmt wurde und sie fest in die Arme schloß, um sie zu trösten. Er fühlte sich plötzlich so allein gelassen, daß es schmerzte. Wieso hatte die Göttin ihre Mutter ausgerechnet jetzt zu sich holen müssen? Aber dies war wohl, was Mutter außer dem Tod des Königs gesehen hatte, ihre eigene Nichtexistenz, denn wie sollte man es anderes nennen, da nicht einmal ein toter Körper von ihr oder einer der anderen Priesterinnen übrig geblieben war, dessen Haar man noch hätte streicheln können, dessen kalt gewordene Finger man hätte umfassen können. Da war selbst Grom gnädiger, wenn er die Krieger an seine Tafel rief.

Avilah begann leise zu weinen, so daß Adarach sie hochhob und aus dem Tempel trug, vorbei an den gaffenden Menschen auf dem Tempelvorplatz, über die Treppe von der Burg hinunter, durch die Straßen, an deren Rändern inzwischen nur noch Reste des Hagels lagen. Und als er um die Ecke zu ihrem Haus wollte, lief er Buhachan in die Arme.

"Wieso...", fing sein Onkel tadelnd an, doch erfasste dann schnell die Lage. "Ist sie schon fort?" fragte er leise und meinte damit natürlich seine Schwester. Er hatte also genau Bescheid gewußt!

Adarach konnte sich nicht dazu durchringen, das zu bestätigen und ging schnell an Buhachan vorbei. "Laß uns ins Haus gehen", quetschte er durch seine zugeschnürte Kehle.

Als er Avilah durch den Innenhof bis in ihr Zimmer getragen und auf ihr Bett gelegt hatte, konnte er den Anblick dieses kleinen verlorenen Mädchens nicht ertragen. Er legte sich also zu ihr und nahm sie wieder in den Arm, versuchte, ihr durch seine Nähe Trost zu geben, wenn ihm schon keine Worte einfielen, die das vermochten.

"Bitte", schniefte Avilah da plötzlich, "kannst du mir Mamas Geschichte vom Rauschfest erzählen?"

Das war die Geschichte ihrer eigenen Zeugung, die sie meinte, das Märchen, das ihre Mutter zunächst dem großen Bruder und später auch Avilah erzählt hatte, so oft, daß beide es auswendig kannten. Adarach mußte etwa so alt gewesen sein wie seine Schwester jetzt, als ihre Mutter sie das erste Mal erzählt hatte, am Tag von Avilahs Geburt.

"Es war während des Rauschfestes, in einer schönen warmen Nacht, und der dunkle Oinos war so süß", begann er leise, und ein kleines Lächeln zeigte sich auf Avilahs Lippen.

"Und sie sah den nackten Mann mit den langen, hellblonden Haaren im Mondlicht tanzen", ergänzte Avilah dann ebenso leise. "Nur das es gar kein Mann war."

Adarach küßte seine kleine Schwester auf die Stirn, wie es ihre Mutter zu tun pflegte. "Es war nämlich einer der Gesandten der Göttin. Und er sagte: 'Die Große Mutter liebt dich, Peribil, so wie sie deinen Großvater liebte. Und sie hat mich geschickt, dir ihre Liebe zu zeigen.'"

Avilah seufzte sehnsüchtig, und fuhr dann fort: "'Und mir bist du das Liebste ihrer Kinder. Wenn es die Göttin erlaubt, werde ich dich zu mir holen. Bis dahin laß mich dir ein Kind schenken, das dich immer an meine Liebe erinnert.'"

"Und der Gesandte der Göttin schenkte Mama die kleine Avilah, die nun sieben Jahre alt ist." Den Schauder der Erkenntnis, der Adarach plötzlich überlief, schien die Große Mutter selbst geschickt zu haben. Seine Mutter hatte die Geschichte nie als Märchen gemeint, sondern hatte gewußt, daß die Göttin oder der Göttliche Gesandte sie eines Tages zu sich holen würde. Hatte sie nicht bedacht, daß sie dadurch ihre Familie verließ? Oder war es ihr bewußt gewesen, hatte sie nur der Zeitpunkt, angesichts der Jugend ihrer Kinder und des baldigen Todes des Königs, erschüttert, oder die Tatsache, daß auch alle anderen Priesterinnen entrückt würden?

"Sie hatte keine Schmerzen", sagte Avilah plötzlich. "Sie war nur einfach weg. Das hat mir Angst gemacht, obwohl ich doch wußte, daß der Göttliche Gesandte sie eines Tages zu sich holt." Die Trauer in ihr war ruhiger geworden, die Verzweiflung war verschwunden.

* * *



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