1944
Rosshaar sei es, schrie meine Mutter,
Rosshaar! Und kein Menschenhaar!
Aber ich ekelte mich halbtot
vor dem blankbraunen Haar,
das aus meinem Kopfkissen quoll.
1949
Aus dem Drainagerohr schimmerte mir etwas Gelbes entgegen.
Ich griff hinein und hielt einen Salamander in der Hand,
der verdutzt in die Runde sah und davonlief, als ich ihn ins Gras setzte.
Es war ein Krabbeln und schleimiges Sichbewegen in dem Drainage-Rohr,
die Stärkeren und noch Munteren waren auf die Schwächeren gestiegen,
und ganz zuunterst lagen die bereits toten –
Salamander, Eidechsen, Blindschleichen, Frösche, Kröten.
1952
Über der Regenwasser-Zisterne in der Waschküche
sammelten sich im Spätherbst
Zehntausende von Mücken.
Wer liebt schon Mücken?
meine Mutter kaufte Jakutin-Räucherstäbchen,
wir verschlossen Fenster und Tür der Waschküche.
Bald darauf drang ein Jaulen an unser Ohr,
das zu einem Heulen anschwoll,
unter dem das Haus erbebte,
und wenn es erlosch, fegten wir die Leichen hinaus.
1955
Mit „Nacht und Nebel“ von Alain Resnais
begann eine neue Zeitrechnung.
Zwischen uns und unseren Eltern brach eine Kluft auf,
die sich nie wieder schloss.
Mit meiner Mutter, die kürzlich starb,
habe ich über diese Dinge nie sprechen können,
"uns Deutschen hat man schon immer alles Böse in die Schuhe geschoben!"
und als Beweis ihrer Toleranz
zitierte sie oft das Gebet
zur Einleitung des Schabbat,
das sie in der jüdischen Familie gelernt hatte,
in der sie Kindergärtnerin war:
Baruch atta adonai, elohenu melech ha-olam, bore pri ha-gafen.