Spät, aber doch...

Text

von  Mondscheinsonate

Mein Großvater wurde 1912 geboren und als er in die Schule kam, wurde er schwerkrank, durfte ein Jahr nicht weitermachen, blieb sitzen, danach fand er nur schwer wieder hinein und fiel diesmal aus eigenem Verschulden nochmals durch, aber danach lief alles wie am Schnürchen, er stand kurz vor dem Abschluss seines Medizinstudiums, jedoch kam der Hitler und zog ihn in den Krieg ein. Dort wurde er bereits als vollwertiger Arzt behandelt und sah, ich zitiere "Dinge, die man nicht im Studium lernt". Nach dem Krieg war er in Gefangenschaft, danach erst schrieb er sich wieder in der Universität ein und promovierte mit 39. Er war ein hervorragender Unfallchirurg, aber am Land brauchten sie praktische Ärzte, Schulärzte, Werksärzte, so eröffnete er eine Praxis und wurde alles auf einmal. Er arbeitete bis zu seinem 82.Lebensjahr, dann ging er in Rente und war vorher schon mehr und mehr mein Haus- und Hofarzt, denn ich tat mir dauernd weh, mein Lehrer, er lehrte mir das Lesen und Denken, und mein Mentor, erklärte mir, wie man nicht werden solle, denn wie man sein sollte, das wurde überall propangiert. 

Einmal jedoch gab es einen schrecklichen Unfall, die Gruppe "EAV" spielte auf dem Fußballplatz hinter dem Freibad und alles lag schön gegenüber, wir waren aber zu jung und durften nicht auf das Konzert. Wir, das waren drei Buben und zwei Mädchen. Unser Haus hatte keine Bäume vom Freibad im Weg und statt dass wir, wie früher auch schon oft, durch das kleine Wäldchen liefen und durch den kaputten Zaun huschten, wir waren Meistereinbrecher, meinte einer, der Buben, wir könnten doch auf das Dach der Großeltern. In mir sträubte sich alles, ich sagte: "Nein, nein! Die Oma bringt uns um!" Da sagte einer: "Du bist ja nur feig!" 

Das ließ ich mir nicht sagen und während die Großeltern mit anderen Eltern im Garten saßen und plauderten, stiegen wir Kinder durch das Dachbodenfenster auf das Schrägdach und dann saßen wir wie aufgefädelt auf dem noch, vom letzten Regen feuchten Giebel, sahen gut auf das Geschehen. Jedoch, so war ich immer und werde vermutlich so bleiben, dass ich Blödsinn machte und mitten im Blödsinn kam das schlechte Gewissen. Heute denke ich, dass das mein Großvater ist, der in mir spricht: "Zuerst denken, dann handeln oder reden!" - Trivial, aber wichtig. 

Ich sagte: "Gehen wir wieder runter, das ist blöd, das ist wirklich blöd!" und stand zu schnell auf, bekam keinen Halt und wankte. Durch die Unsicherheit, die dadurch entstand, bekam ich weiche Knie im Gehen und wankte nach jedem Schritt. Fast schon beim Fenster angekommen, sagte einer der Burschen: "Sei nicht so feig!", da drehte ich mich zu abrupt vor Wut um, verlor komplett den Halt auf den feuchten Schindeln und fiel auf den Rücken, segelte rücklings die Schräge hinab und fiel mit voller Wucht ein paar Meter, so hoch war das nicht, aber hoch genug, ins Gras. 


Ich lag im Neunkirchner Spital, zwei Tage zur Beobachtung, hatte eine Gehirnerschütterung und brach mir die Elle und Speiche. Der Rücken war blau, aber nichts gebrochen. Der Großvater stand wie ein Hühne vor meinem Bett mit besorgtem Blick, meinte, er fülle bald einen Meldezettel für mich hier aus. Nein, er lachte nicht, er sagte es böse. "Und Du, Fräulein, sagte er, hast zwei Wochen Hausarrest und Fernsehverbot." Dann streichelte er meinen schmerzenden Kopf und sagte, das tat mir sehr weh: "Ich habe anscheinend versagt." Drehte sich um und ging aus dem Zimmer. 

In dem Moment schmerzte alles noch viel mehr. Ich begriff den Satz nicht, aber spürte, er bedeutete Leid. 

Die Oma war keine, die liebevoll war, tröstete niemals, aber die Krankenschwester kam durch und so achtete sie tunlichst darauf, dass ich mit Gips nicht im Haus herumlief, nichts trug und beobachtete mich ganz genau, wegen der Gehirnerschütterung. Der Großvater zog sich zurück und blieb mir fern. Die Großeltern bekamen auch eine Vorladung, wegen "Vernachlässigung der Aufsichtspflicht", das Spital musste es melden, aber als Oberarzt und Landarzt verzieh man ihm viel, das wurde zurückgelegt. 

Erst nach einer Woche klopfte ich an Großvaters Büro, er donnerte "Herein!", er saß auf seinem Stuhl, drehte sich mit dem Oberkörper in Richtung Türe und da stand ich, sah ihn an und dann lief ich (hier war keine Großmutter, die schimpfte, wenn ich lief) zu ihm, fiel ihm um den Hals, sagte: "Du bist das Liebste auf der ganzen weiten Welt!" 

Er umarmte mich und meinte: "Du bist ein Satansbraten!" 

Der blieb ich. 



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