6.3 Schienenflimmern
Text
von Isensee
Es war, als ob die Gleise selbst atmeten – ein Hauch von Eisen, rostig, verkrustet, wie die Seelen derer, die den Staub der Vergangenheit im Blick trugen. Schmutzige Horizonte, von der Schiene aus gesehen, verflossen in graue Membranen, in denen nichts fix war, und doch – ja, doch! – fand alles seinen Platz. Die unsichtbare Hand der Maschinen, die aus den Federn von Dampf und Eisen gefertigt, den Schweiß der Erde abwischte und den Menschen ihre tiefsten Ängste in die Mütze presste. "Bau' uns eine Straße, durch die Gezeiten, durch den Dreck, durch den Wind!" Alors… ça commence ici – da, wo der Boden den Rhythmus der Dämmerung in sich aufnahm.
Erst 1845, als die Welt noch nicht die Zähne zeigte, zitterten die Felder unter den ersten Lokomotivenschreien, als die Ideen vom Eisenband wie eine Verheißung über die nördlichen Steppen flogen, und doch? Nichts tat sich.
Alles verstrickte sich in den Leichenzug des Zeitgeistes. Die Maschinen begannen zu singen, chantez, in den dunklen Schatten der Berge, in den feuchten Kerben des Landes. Ein Hauch von zementierter Hoffnung – wie alles, was sich am Rande des Abgrunds bewegt, und doch nie fällt, sondern sich in den Farben der Gischt verflüssigt.
Wir sprechen von den Gleisen, von den Zügen, von den Entfernungen. Köthen. Bernburg. Orte wie verkommene Inseln in einem Ozean aus Spott und Struktur. Ein Dämmerblau, das sich in den Asphalthimmel bohrt und dann wieder in die Erde sinkt – diese Dunkelheit, sie atmete nicht, sondern pulsierte. Ein Rauschen in den Ohren, als der Zug fuhr, das uns mitnahm, bis wir nicht mehr wussten, wo die Reise begann, wo sie aufhörte.
"Ich will wissen, wohin die Schienen führen", flüsterte der Wind und stahl sich durch die Ritzen der alten Fenster, die längst keine Augen mehr hatten. Die Industrie wuchs in den Löchern der Zeit, ihre Gelenke schmierten sich mit der Ölsoße des Vergessens. Doch der Bahnhof – der war noch da. Der war aus der Zukunft und doch aus der Vergangenheit, der Ort, an dem Züge nicht fuhren, sondern flogen.
Fantasie durchbrach das Band der Logik, zerbrach das System der Formen. En France, où l'air est lourd, ça craque, ça brûle. Menschen, die Eisen im Blut hatten, ließen sich zu Verbindungen drängen.
Den Kalziumglanz der Hoffnung versenkt in Kohlenstaub und Kalk. Die Züge, die Blechköpfe, sie schrieen im Takt der Maschinenmusik, deren Melodie niemand verstand, außer denen, die den Staub in ihren Lungen trugen.
Warum fiel der Dampf auf den Boden wie ein Gedicht, das keiner mehr verstand? Warum zerbrach der erste Zug in zwei Hälften, nur um sich dann wieder zusammenzufinden, in einem Rausch von Stahl und Funken? Was ist das für eine Schöpfung, die sich im Chaos so still hält, wie die Töne eines vergessenen Orchesters?
Der Wahnsinn kam als unsichtbare Melodie und setzte sich in das Bild der Stadt, das wie ein verwundeter Flügel im Wind hing. Zwischen den verschlungenen Schienen und den Gebetsschreien der Maschinen hallte die Stimme eines alten Narrens: "Eisen bricht nicht, es verbiegt sich."
Beinahe vergessen, wie wir in den Zügen saßen, die nur ein Ziel kannten: zurück. Und der Blick zurück, er war wie ein Messer, das uns schnitt und doch heilte. Der Schmerz der Schienen, der Schmerz der Entfernungen, die durch das Bewusstsein rasten wie kalte Wellen, die den Felsen der Zeit erodieren. Ungeheuerlich, schmerzhaft und doch so unendlich schön.
Die Städte verschwanden, die Schienen blieben – wild, entschlossen, die Nacht in ihren Eingeweiden zu tragen. "Et toi, qu'est-ce que tu cherches?" Was suchst du da, in den Falten der Wirklichkeit? Wer wagt es, die Reise zu beginnen, wenn die Antwort noch nicht bekannt ist?
Sie gingen alle voran, und der Bahnhof brannte.
Und dann? Dann verschmolz die Erde mit den Schienen, die Schienen mit den Bauten, die Bauten mit den Menschen, die Menschen mit den Träumen. Im Rausch der Zeit verschwand der Unterschied, und wir standen da, inmitten einer Welt aus Stahl, mit Herzen, die nach Feuer rochen.