6.1 Bunkerfetisch

Text

von  Isensee

Ein Dienstag im Juli, heiß wie das Ende. Aber  ohne die Befreiung, die eine Apokalypse verspricht. Bitterfeld,DDR-Ruinen in kapitalistischem Flickwerk. Die Luft: dick und müde : Ein klebriger Vorhang aus Straßenwachs und abgestorbenen Gerüchen, die aus Ritzen krochen. Ocker. Braun. Grauhaut. Ein Nachmittag mit der Konsistenz von altem Spülschwamm. Brfuß auf dem Linoleum, das sich klebrig anfühlte wie das Wort "Pflicht".

Dann öffnete sich die Tür. Ein Soldat, älter, mit einem Gesicht aus der Hundefutterwerbung und aus Sandpapier geschnitzt. Nächster, hierher! Seine Stimme kratzte, als hätte er sie jahrelang in einer Streichholzschachtel aufbewahrt Ich war an der Reihe. Der verlorene Hund, der nicht wusste, ob er gleich getreten oder gefüttert wird. „Da Hinstellen!“ „Sie denken jetzt vielleicht, das hier wär unangenehm“, brummte der Arzt mit dem Charisma eines halb vertrockneten Topfes Basilikum- „aber warten Sie, bis Sie im Schützengraben liegen und Ihnen die Bälle gefrieren!“. Hose runter, Unterhose runter, hinlegen. Seine Hände, kühl wie Reptilienhaut, tasteten ab. Kalk, Blick ein toter Fisch, kein Kommentar, nur das Drücken und Ziehen.  Sekunde um Sekunde schlich dahin. „Hmmm“, machte er. Alles Gute beginnt mit „Hmmm!" „Setzen Sie sich mal hin, wir müssen reden.“ Ziegelstein in einen Teich, und es begann zu kribbeln. Ich war allein mit dem Mann, der jetzt eine Papiermappe aufschlug. „Ja.“ Meine Stimme war leiser, als ich wollte.
„Ja, das ist was. Linker Hoden. Fühlt sich nicht richtig an. Das müssen wir klären. Verdacht auf Hodenkrebs.“ Wieder ein Ziegelstein, dieses mal auf Linoleumfußboden, blieb liegen, und ich starrte ihn an, während er langsam in meinen Kopf kroch. „Aber wissen Sie was?“ Er setzte sich auf seinen Stuhl, verschränkte die Hände und lehnte sich zurück, als hätte er mir gerade ein Lotterielos gegeben. „Das ist quasi der beste Krebs, den Sie kriegen können, quasi der Mercedes unter den Krebserkrankungen. 90 Prozent Heilungschance. Und Sie sind ausgemustert. Glück gehabt, oder?“ Beste Krebsart? Heilungschance? Ausgemustert? Löffel gegen den Zahn, kaltes Metal an der Zunge. Dann stand ich auf und, zog die Hose hoch, während der Rest der Welt sich anfühlte, als hätte jemand den Ton runtergedreht.

„Und noch was“, fügte der Arzt hinzu, mit diesem halbherzigen Versuch eines Lächelns. „Damit können Sie Mädels beeindrucken. Zeigen Sie Betroffenheit, sagen Sie, dass Sie fast gestorben wären – klappt immer.“Er lachte. Ich nicht.Auf dem Weg nach draußen fühlte ich mich seltsam. Ausgemustert, in Bitterfeld war selbst der Krebs noch pragmatisch.


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Kommentare zu diesem Text


 Lluviagata (09.12.24, 09:32)
Ich kenne Bitterfeld, das Bitterfeld von gestern und heute und kann sagen, besser kann man es nicht beschreiben, diese   kohlenstaubverschmutze Einöde damals, nur erhellt von den Kerzchen der Leuna-Werke. Heute spielen Lichtorgeln die Hässlichkeit der chemischen Industrie herunter.  

Grandiose Metaphern, die einen kurzen, prägenden Moment eines Lebens beschreiben, welches neben sich selbst zu stehen vermag.
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