Wenn Putin siegt

Aufruf zum Thema Politik

von  Graeculus

Was hätten wir zu befürchten, falls Putins Rußland die Ukraine besiegt?

Die Ukrainer hätten eine russische Besatzungsmacht mit Säuberungen zu erwarten unter allen Menschen, die sich Rußland widersetzt haben und/oder ihre ukrainische Nationalität bewahren wollen. Was das bedeutet, kann man jetzt schon in den russisch besetzten Teilen der Ukraine beobachten. Verbot der ukrainischen Sprache, willkürliche Verhaftungen und Folterungen sind dort Alltag.

Dessen kann man sicher sein, sind doch die Verhältnisse in Rußland für alle Arten von Unerwünschten und Abweichlern keine anderen.


Nun, die Ukraine. Was haben wir zu befürchten?

Putin wird Deutschland nicht angreifen. Das wäre auch deswegen schwierig, weil Deutschland keine gemeinsame Grenze mit Rußland hat.
Aber Deutschland ist Teil Europas, Mitglied der EU und der NATO. Wir sollten nicht und dürfen im Grunde auch nicht rein national-egoistisch denken - auch wenn uns interessierte Kreise dies suggerieren.

Da wären zunächst die baltischen Republiken gefährdet: Estland, Lettland und Litauen. Alle drei Staaten haben – noch aus Sowjetzeiten – ein starke russische Minderheit. Das ist ein willkommener Ansatzpunkt für ein russisches Ein- und Angreifen, indem nämlich behauptet wird, diese Russen würden diskriminiert und unterdrückt – Rußland müsse „unsere Leute“ schützen. Das wäre freilich ein Angriff auf NATO-Mitglieder. Deshalb muß Putin begleitend weiter am Zerfall und der Delegitimierung der NATO arbeiten. Das ist dann eine Sache von Geheimdienstoperationen. Trump wird dabei vielleicht helfen.

Dies ist ein schon von den Nazis her bekanntes Argument: Zum „Schutz“ von Volksdeutschen haben sie die Tschechoslowakei und Polen angegriffen. Selbst Rußland hat dieses Narrativ bereits verwendet, nämlich 1990 gegenüber Georgien mit Bezug auf Abchasien und Südossetien. Rußland hat diese beiden Landesteile „zum Schutz von Russen“ besetzt und erkennt sie als „unabhängige“ Staaten an. Unter dem Schutz russischen Militärs, versteht sich.

Weiterhin erhielte Rußland durch einen Sieg über die Ukraine eine Landverbindung zur Republik Moldau. Auch dort gibt es seit 1990 einen abtrünnigen Landesteil unter russischem Militär: Transnistrien.
Das ist daher ein weiterer möglicher Angriffspunkt, etwa indem man nach bekannter Manier eine „Volksabstimmung“ organisiert und danach Transnistrien zum Teil Rußlands erklärt, Moldau somit endgültig davon abschneidet.

Nun ist Moldau zwar kein Teil der EU oder der NATO, aber Kandidat, und der Nachbarstaat Rumänien ist schon jetzt beides.

Das sind die Stellen, an denen – strategisch gedacht – Putin seinen Kampf gegen den kollektiven Westen am ehesten fortsetzen kann. Nach einem Sieg über die Ukraine.

Es sind die Nachbarn Rußlands, die unmittelbar etwas zu befürchten haben. Diese Nachbarn wissen das schon lange und sind nicht ohne Grund der EU und der NATO beigetreten. Nun sind sie unsere Partner und Verbündeten.


Der Beginn einer großen Friedensära wäre der Sieg Rußlands über die Ukraine nicht.



Anmerkung von Graeculus:

Anlaß, nicht eigentlicher Grund für diesen Text ist ein ausführlicher Bericht in der FAZ vom 7. April: „In den von Russland besetzten Gebieten der Ukraine bestimmen Terror, Angst und Willkür den Alltag. Geflüchtete Ukrainer berichten.“

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Kommentare zu diesem Text


 Aron Manfeld (08.04.25, 00:55)
Nach dem russischen Einmarsch wird die Cola mit Rubel bezahlt - und?

 Graeculus meinte dazu am 08.04.25 um 01:03:
Laß sie dir schmecken. Andere Leute hätten eher Probleme à la Politowskaja, Nemzow und Nawalnyj.

Antwort geändert am 08.04.2025 um 01:05 Uhr

 Regina (08.04.25, 05:13)
Aus Jux und Dollerei unterwirft er ganz Europa, wie einst Julius Caesar, meinst du das?

 LotharAtzert antwortete darauf am 08.04.25 um 09:38:
Wieso unterwerfen? Bundeskanzlerin Alice Weidel wird ihn mit allen Ehren empfangen.

 Graeculus schrieb daraufhin am 08.04.25 um 11:20:
Aus Jux und Dollerei unterwirft er ganz Europa

Vor einer solchen Reaktion stehe ich fassungslos. Nicht Deutschland, habe ich geschrieben, aber die baltischen Staaten und Transnistrien/Moldau sind gefährdet.

Aus Jux und Dollerei?
Über seine Motive ist schon viel gesagt worden; daß der Zerfall der UdSSR das Trauma seines Lebens ist, das ihn bewegt, ist bekannt.

Man kann sich natürlich auch so mit einem Text "auseinandersetzen", daß man ihm einen absurden Standpunkt unterstellt.

 Augustus äußerte darauf am 08.04.25 um 13:03:
Baltische Staaten halte ich für sicher, weil hier der Schutz der NATO die Sicherheit garantiert. Moldau und Transistrien sind da sehr wahrscheinliche Ziele. Denkbar ist, dass Putin nach seinem Sieg seine Waffen den Chinesen oder Nordkorea in Aussicht stellt, damit die ihre eroberungszüge starten. Südkorea/Taiwan. 
Nach dem fantasierten ( gewonnenen) Krieg. 

Stellt man nach 2 Monaten nach Kriegsende den Rückgang militärischer Produktion und Mengen nicht, sondern stabile Zahlen, heißt das natürlich etwas! Russland wäre in einem solche Fall der perfekte waffenlieferant. Darüber hinaus ist ein Rückeroberung Syrienes durch russlöndische Unterstützung denkbar. 

Der alte Putin wird sich also so leicht nicht friedlich ins Grab legen mit den letzten Worten nach dem Sieg über Ukraine; „Es ist vollbracht“.

 Moppel ergänzte dazu am 08.04.25 um 13:15:
Trump unterwirft Europa auch - aus Fux und Kollerei...

 Graeculus meinte dazu am 08.04.25 um 14:49:
Zu den baltischen Staaten: Du hast recht, sie sind (noch) durch die NATO geschützt. Was ihnen das letztlich helfen wird angesichts a) der irrlichternden Politik Trumps und b) der Bemühungen Putins, die NATO zu destabilisieren, das muß man erst noch abwarten.

Was Syrien angeht, so ist mein Eindruck der, daß Putin Verlierer verachtet. Baschar al-Assad ist ein Verlierer und in Rußland zum Schweigen verurteilt. Putin wird um Einfluß in Syrien kämpfen, schon deshalb, weil zwei sehr wichtige russische Militärstützpunkte dord liegen. Aber er wird sich dabei nicht auf Assad stützen.
Und er wird auch nicht Janukowytsch wieder als Präsident in der Ukraine einsetzen. Auch Janukowytsch ist ein Verlierer.

Menschen sind für ihn Karten, die aussortiert werden, wenn sie sich als Anti-Trümpfe erwiesen haben.

 Graeculus meinte dazu am 08.04.25 um 14:51:
Trumps Gegner ist China. Die USA sehen den Ort künftiger Auseinandersetzungen im pazifischen Raum.
Anderes interessiert ihn nur, wenn man da einen "Deal" machen kann.

 eiskimo (08.04.25, 11:40)
Um Deinen Text auch in der Sache zu unterstützen: Polen müsste vielleicht ergänzend genannt werden. Dort wird man Putins "Roll back" überhaupt nicht witzig finden.

 Moppel meinte dazu am 08.04.25 um 13:14:
alles Narrative, die wir kennen und zur Genüge vorgekaut bekommen haben von links ausgerichteteten Medien, Graeculus. :(
Man kann das so sehen wie FAZ und du-  tun ja auch viele. begründen damit milliardenschwere ( nachweislich bisher ineffektive)Unterstützung der Ukraine, Waffenproduktion bis an die Schädeldecke.
Man kann es auch anders sehen. Zu dieser Fraktion zähle ich selbst bekannterweise.
FAZ schreibt von Angst und Willkür. Die kursieren auch in den USA.
Was also möchte uns dein Text sagen, was neu wäre als Argumentation? Welchen Lösungsvorschlag hätte er zu bieten? Ein munteres Weiter so im Ampelstil?
Ich denke, Deutschland sollte sich mal um sich selbst kümmern. Es gibt ne Menge zu tun...
lG von M.

Antwort geändert am 08.04.2025 um 13:17 Uhr

 Graeculus meinte dazu am 08.04.25 um 14:42:
Links, das ist für mich sozialistisch; und ich sehe nicht, daß Timothy Snyder, Catherine Belton, Alexej Nawalnyj, arte und die FAZ (um nur einige meiner Informationsquellen zu nennen) sozialistisch wären.
Wenn man das ein Narrativ nennt, dann bleibt dabei unberücksichtigt, daß es für alles, was ich geschrieben habe, gute Belege, zum Teil sogar eigene Äußerungen Putins, gibt.

Deutschland soll sich um sich selbst kümmern? Ich habe schonmal deutlich gemacht, daß ich mich unter all den möglichen Identitäten, die man priorisieren kann, für die des Europäers entschieden habe. Deutschland ist Teil Europas, der EU und der NATO.
Die Unterminierung der Einheit dieses Kontinents, die Segmentierung seiner Bündnisse, ist Ziel der Strategie Putins. Deshalb unterstützt er vor allem rechte Parteien in Europa, die sich auf nationale Egoismen fokussieren. Auch das ist gut bekannt.

Die USA: "Wenn Trump siegt", das ist ein anderes interessantes Thema. Und auch wenn ich einen solchen Text noch nicht geschrieben habe, so habe ich doch aus meiner tiefen Abneigung gegen Trump nie einen Hehl gemacht.

Über einen Lösungsvorschlag, wie Putins Sieg zu verhindern wäre, verfüge ich leider nicht. Aufklärung ist wohl nur ein schwaches Mittel. Die meisten Menschen sehen, was sie sehen wollen.

Ich fühle mich sehr der antiken Seherin Kassandra (deren Schicksal zuletzt Christa Wolf zu einem Roman verarbeitet hat) verbunden: Sie prophezeite die Wahrheit, aber da niemand ihr glauben wollte, konnte sie kein Verhängnis verhindern.
Daß die Wahrheit sich durchsetzt - vor allem, bevor es zu spät ist -, gehört nicht zu meinem Glauben, meinem "Narrativ".

 Graeculus meinte dazu am 08.04.25 um 14:55:
An eiskimo:

Zwar gibt es traditionell (seit Jahrhunderten) territoriale Auseinandersetzungen zwischen Rußland und Polen, zwar sieht sich Polen von Rußland bedroht; aber da es in Polen keine größere russische Minderheit gibt, als deren Schutzpatron er sich aufführen kann, wird Putin dort nicht so leicht einen Hebel für seine Ambitionen finden.

Im Prinzip dürfte es richtig sein, daß Putin mit der Vorstellung eines "eurasischen Raumes" mit Rußland als Vormacht sympathisiert, wie sie sein Ideologe Alexander Dugin propagiert.
Doch das liegt in weiter Ferne, und Putin ist über 70.
Jedoch würde ein Sieg in der Ukraine sein Ansehen dermaßen festigen, daß er sich seinen Nachfolger aussuchen könnte.

 Regina meinte dazu am 08.04.25 um 20:23:
In etwa würde ich mich hier Moppels politischer Ausrichtung anschließen, führe es aber nicht aus, weil wir das schon x-mal durchgekaut haben und weder du deine Ansichten noch deine Gegner die ihren ändern wollen.

 Moppel meinte dazu am 08.04.25 um 21:19:
eben-t :D Regina. Drum frage ich ja, was der Text uns Neues zu sagen hätte...

 eiskimo meinte dazu am 08.04.25 um 21:37:
@Graeculus
Ja, Polen ist da in einer anderen Beziehung zu Russland, auch, weil es Mitglied der NATO ist. Trotzdem nimmt man dort Putins aggressives Agieren ganz anders wahr als hier bei uns.

 Jack meinte dazu am 09.04.25 um 03:11:
Ich bin gegen Putin, aber aus besseren Gründen. Graeculus rezipiert leider nur die FAZ, die leider nur russophobe Klischees wiederholt. Putin will Europa gar nicht angreifen, aber sein Sieg wäre ein Signal an die ganze Welt, dass sich rohe Gewalt und Ignoranz gegenüber Kritik von innen und außen auf lange Sicht auszahlt: sei nur frech, brutal und stur genug, und du gewinnst.

 Graeculus meinte dazu am 10.04.25 um 14:34:
Graeculus rezipiert keineswegs nur die FAZ; oben habe ich angegeben, auf welche Informanten ich mich beziehe.

Daß Putin Europa angreifen will, habe ich nicht behauptet. Sein unmittelbares Interesse gilt ehemaligen UdSSR-Staaten, wie ich auch hier ausgeführt habe.
harzgbirglers Vermutung, er könnte den Suwalki-Korridor ins Auge fassen (was dann tatsächlich auch Polen beträfe), mag ihrer Richtigkeit haben.

Putins Europa-Strategie:
1. Europa zum russischen Einflußgebiet zu machen.
2. Dazu müssen die EU und die NATO destabilisiert werden.
3. Zu diesem Zweck werden in ganz Europa EU- und NATO-skeptische Parteien unterstützt, Europa möglichst von russischen Energielieferungen abhängig gemacht und Eliten in den europäischen Staaten mit Geld korrumpiert.

Für Letzteres haben wir in Deutschland mit Gerhard Schröder ein schönes Beispiel. Man beachte die Aktivitäten des alten Putin-Kumpels Matthias Warnig.

 Graeculus meinte dazu am 10.04.25 um 14:35:
Drum frage ich ja, was der Text uns Neues zu sagen hätte...

Denen, die alles schon wissen, nichts. Denen, die bestimmte Dinge nicht wissen wollen, ebenfalls nichts.

Antwort geändert am 10.04.2025 um 14:35 Uhr

 Graeculus meinte dazu am 10.04.25 um 14:56:
Wenn Du, Jack, noch einen Schritt weitergehst und auch mir, der ich seit 60 Jahren russische Literatur liebe & lese (zuletzt: Georgio Demidow: Zwei Staatsanwälte), Russophobie unterstellst, dann betrittst Du den Bereich der Unverschämtheit.
Gerade wenn man diese Literatur liest und liebt, kommt man schwer an einer Skepsis gegenüber dem russischen Herrschaftssystem vorbei.

Man könnte Demidow (gestorben 1986) wörtlich zitieren mit dem, was er über die Katorga, die Folter in der Haft, die erfolterten Geständnisse usw. geschrieben hat, und das alles träfe noch heute auf Putins System zu.

 Saudade meinte dazu am 10.04.25 um 15:28:
Aber auch nicht an einer Skepsis den Gegnern gegenüber. Da schau mal: 
https://www.tagblatt.ch/kultur/klassiker-des-monats-die-seltsame-wandlung-eines-russischen-literaturnobelpreistraegers-vom-beruehmten-dissidenten-zum-reaktionaeren-erzengel-putins-ld.2399250

 Jack meinte dazu am 10.04.25 um 15:35:
Du bist nicht selbst russophob, sondern trägt russophobe Klischees unreflektiert weiter, in dem du zu nah am Zeitungstext bleibst. In der deutschen Intellektüllenkultur (und Streitkultur allgemein) wird leider jede andere Meinung als persönlicher Angriff wahrgenommen, egal ob hochgebildet wie du oder orangenellalike. Das muss aufhören, denn gerade die Deutschen hatten die besten Diskurstheoretiker. Den Diskurs zu beherrschen, darf nicht das Ziel sein, damit sinkt man intellektuell auf das Niveau von Putins Politik.

 Graeculus meinte dazu am 10.04.25 um 15:51:
An Saudade:

Solschenizyn, dem ich sehr, sehr viel verdanke, hat in seinen späten Jahren eine Wandlung zum russischen Nationalisten oder Slawophilen durchgemacht. Sogar zum Antisemiten? "Zweihundert Jahre zusammen", sein Spätwerk, habe ich hier stehen und müßte ich mal lesen.

Vorläufig! ist mein Eindruck der, daß er, 2008 gestorben, einen Putin erlebt hat, der das Chaos und die Korruption der Jelzin-Jahre beendet hat. Was er zu dem Putin ab 2014 gesagt hätte, weiß ich nicht.
Es ist ein bißchen so, als ob man Hitler nur bis 1937 erlebt hätte und zu einem Urteil gekommen wäre, das uns heute, deren Wissen bis 1945 reicht, befremdet.

Vielleicht bin ich, um den späten Solschenizyn zu goutieren, nicht russisch genug.

 Saudade meinte dazu am 10.04.25 um 15:59:
Ich habe den späten Solschenizyn auch nicht gelesen und werde den Teufel tun, es zu lesen, denn ich verehre ihn auch. Das ist, wie mit den letzten Walser-Romanen, die sind auch nicht gut. Ich bewahre mir das Bild. 
Was ich aber zum Ausdruck bringen wollte ist, dass sich Literatur, bzw. Literaten nicht eignen, um Politik zu erklären.

Antwort geändert am 10.04.2025 um 16:00 Uhr

 Graeculus meinte dazu am 10.04.25 um 16:00:
An Jack:

Ich habe keine russophoben Klischees, und ich beschränke - ich hoffte, das deutlich genug gesagt zu haben - mich auch nicht auf deutsche Zeitungstexte.
Schon in den einschlägigen arte-Dokumentationen kommen zahlreich Russen zu Wort. Und dann noch die erwähnte russische Literatur.

Hätte Alexej Nawalnyj meinem Text nicht zugestimmt? War Nawalnyj kein Russe?

NEIN! Wenn man Stalin und Putin demaskiert, verträgt sich das sehr gut mit Russophilie. Denn die Gleichsetzung eines Dikators mit seinem Volk, das ist ein Klischee, das hätten die Dikatoren gerne! Nicht nur Putin - sie alle, Xi Jinping, Kim jong-un, Ajatollah Chamenei, Baschar al-Assad, Recep Tayyip Erdoğan, Donald Trump, sie setzen sich selbst mit ihrem Volk gleich.
Dabei ist jeder Dissident in einer Diktatur mindestens ebensosehr "Volk".

 Saudade meinte dazu am 10.04.25 um 16:04:
Obacht, ein großer Teil der Türken vergöttert Erdogan, allerdings, von weiter ferne im Ausland. Ist das Volk? Hmm.

 Hans-Jakob meinte dazu am 10.04.25 um 16:13:
Doppelvorsicht: Türkische Migranten in den USA, England, Frankreich etc. sind mehrheitlich Erdogan-Gegner. Dass sie in Deutschland Erdogan wählen muss wohl etwas mit Deutschland zu tun haben.

 Graeculus meinte dazu am 10.04.25 um 16:15:
Was ich aber zum Ausdruck bringen wollte ist, dass sich Literatur, bzw. Literaten nicht eignen, um Politik zu erklären.

So pauschal möchte ich das nicht sagen. Autoren wie Warlam Schalamow oder Alexander Solschenizyn haben eine andere Qualität: Sie schildern anschaulich, was hinter den Kulissen passiert ist.
Andere aber, vor allem wenn sie eine wissenschaftliche Ausbildung haben, können sehr wohl auch als Schriftsteller Politik durchsichtig machen. Ich nenne: Alexander Sinowjew, Georgi Demidow, Wladimir Sorokin und Viktor Pelewin.

Übrigens gibt es selbst in Solschenizyns Frühwerk Passagen, etwa in "Der erste Kreis der Hölle", in denen ich auch das politische System besser verstanden habe.

 Saudade meinte dazu am 10.04.25 um 16:22:
@Hans - Jakob: Sehr interessant. Nicht nur Deutschland, auch Österreich. Einmal war Erdogan da, puh... frage nicht.
Wie im Rausch!
Anmerkung: In Nizza waren sehr viele Türken, die haben Französisch miteinander gesprochen, dies in typisch türkischen Lokalen. Das war auch sehr interessant und ich denke, da hast Du Recht.
@Graeculus: Fraglich, wie Solschenizyn geschrieben hätte, wenn er jetzt jung wäre (und noch lebend)? Im Ernst, ich traue Literaten nicht sehr. Das ist aber ein persönliches Empfinden. Lese aber gerne ihre Geschichten oder Erlebnisse. Russen neigen zur Dramatik. Das mag ich.

Antwort geändert am 10.04.2025 um 16:23 Uhr

 Graeculus meinte dazu am 10.04.25 um 16:24:
Obacht, ein großer Teil der Türken vergöttert Erdogan
 

Oja, Erdoğan ist in Teilen populär. Wie auch Putin.

Allerdings traue ich dieser Popularität erst auf der Basis von freien, gleichen und geheimen Wahlen, bei Existenz einer unabhängigen Justiz, vor der man selbst Staatsorgane wegen Machtmißbrauchs verklagen kann. 
Doch das führt, soweit es nicht Putins Politik betrifft, etwas vom Thema dieses Textes ab. In Rußland gibt es solche Wahlen jedenfalls nicht, und die Strafjustiz nennt man "Telephonjustiz", weil die Richter die Anweisungen von oben per Telephon erhalten. (Die Zahl der Freisprüche in Strafverfahren liegt in Rußland bei unter 1 %.)

Nein, Jack, Letzteres habe ich nicht aus der FAZ, sondern aus Nawalnyjs Autobiographie.

 Saudade meinte dazu am 10.04.25 um 16:36:
Andererseits: 
Quo usque tandem abutere, Catilina, patientia nostra? Wie Cicero so schön formulierte. Putin ist 72. Irgendwann muss auch er in "Pension" Fragt sich, was danach kommt. Ich fürchte, Schlimmeres.

 Graeculus meinte dazu am 10.04.25 um 16:42:
Das stimmt. Wer wird sein Nachfolger? Setzt Putin ihn ein? Das ist gefährlich, denn ab diesem Zeitpunkt ist er ein Rivale. Wird er Putin stürzen? Geht er - wie bei Stalin oder Alexander dem Großen - aus einem Machtkampf nach Putins Tod hervor?

Mir gefällt die Bemerkung der jüngeren Seneca, der zu Kaiser Nero sagte: "Du kannst jeden einzelnen Menschen töten, aber nicht deinen Nachfolger!"
Ein richtiger Trost für das Volk ist das freilich nicht, aber es zeigt eine Grenze der Macht auf.

 Saudade meinte dazu am 10.04.25 um 16:49:
Daher denke ich, selbst, wenn er die Pläne deines Textes hätte, das kostet Zeit, dir ihm nicht mehr ganz so bleibt und wenn, dann muss das gehalten werden, bei Durchsetzung. Das obliegt dem Nachfolger. Der wird definitiv jünger sein und ob der genauso mächtig wird, ist auch nicht gesichert (jeder Herrscher ist nur so stark wie sein Gefolge an seiner Seite verehrt).

 Graeculus meinte dazu am 10.04.25 um 16:59:
Im Ernst, ich traue Literaten nicht sehr. Das ist aber ein persönliches Empfinden. Lese aber gerne ihre Geschichten oder Erlebnisse.

Kann man Literaten trauen? Natürlich gibt es ein paar methodische Regeln zur Überprüfung, aber letztlich bleibt einem wohl nichts anderes, als ein Gefühl dafür zu entwickeln, ob da jemand schreibt, der einen über den Tisch ziehen will, oder ob er es wenigstens ehrlich meint - mögliche Irrtümer eingeschlossen. Und auch: ob er überhaupt etwas Interessantes zu sagen hat. Manches ist ja auch einfach langweilig. (Ob die Entscheidung von Verlagen, einen Autor zu übersetzen oder nicht, da schon einen hilfreichen Filter darstellt?)

Russische Autoren wirken in der Regel auch auf mich packend. Oft eine eigentümliche Emotionalität ... was Du vermutlich mit Dramatik meinst. Aber schwarz.

Ich weigre mich zu leben im Tollhaus unter Vieh
Ich weigre mich, ich heule mit den Wölfen nie
Ablehn ich was ich höre, ablehn ich was ich seh
In dieser Welt des Irrsinns gibt es nur eins: ich geh

[Maria Zwetajewa]

Antwort geändert am 10.04.2025 um 21:53 Uhr

 Saudade meinte dazu am 10.04.25 um 17:07:
packend und gefährlich. Denk an Dostojewskis "Verbrechen und Strafe" (mein Lieblingsbuch!) - Die Diskussion über lebensunwertes Leben ....
Lassen wir das, anderes Thema.

 Jack meinte dazu am 10.04.25 um 21:42:
Ich habe keine russophoben Klischees
Davon bin ich ausgegangen. Es ging mir um die vereinfachte Analyse. Den Fehler, Putin erneut zu einem Angriffskrieg einzuladen, indem man ihn heraufbeschwört, finde ich beschämend im Sinne von „Fool me twice, shame on me“. Putin wird die Einladung sich ansehen, kalkulieren, dann kategorisch verneinen, sie annehmen zu wollen, und schließlich wieder losschlagen. „Wir sind ein Hühnerhaufen, der Angst vor dir hat!“ Das signalisiert die EU, militärisch im stärksten Bündnis der Welt, wirtschaftlich zehnmal, demographisch viermal größer als Russland. Eine glaubwürdige Drohkulisse muss her, keine Panikmache.

 Graeculus meinte dazu am 10.04.25 um 23:53:
Das mit der glaubwürdigen Drohkulisse bleibt ja etwas allgemein; ich habe keine Vorstellung davon, wie sie realisierbar aussehen könnte.
Putin, so nehme ich an, erlebt den Westen als schwach, verweichlicht durch Liberalismus, Homosexualität usw.

Militärisch sind Diktaturen oft überlegen, denn sie sind militärisch top-down strukturiert.

Was bleibt? Als kleiner Scherz vielleicht das alte österreichische Motto: "Sollen sie doch einmarschieren / Wir werden sie schon demoralisieren."

Der Idee nach: ein freies Volk kämpft für die Bewahrung seiner Freiheit. Doch davon sind wir mentalitätsmäßig weit entfernt. Nennst Du nicht genau das ultradekadent?

 Graeculus meinte dazu am 11.04.25 um 00:03:
An Saudade:
Meine Dostojewskij-Lektüre ist extrem lange her. Damit habe ich einst als Jüngling angefangen, als "Verbrechen und Strafe" noch "Schuld und Sühne" hieß.
Abrufbar aus der Erinnerung: nur einige Kapitel aus diversen seiner Werke.
Kürzlich habe ich meiner blinden Nachbarin noch eine späte Erzählung von L. Tolstoij vorgelesen, die aber weder bei ihr noch bei mir gezündet hat.
Richtig gut erinnere ich mich noch an "Die Kreutzersonate".

 Jack meinte dazu am 11.04.25 um 00:04:
Putin weiß genau, was "unsere" "Werte" wert sind. Z. B. Freiheit: Wer das Recht auf Analsex in der Öffentlichkeit kritisiert, gegen den gehen die "Guten" demonstrieren, wer an das Recht einer Muslima, in Deutschland keine Burka zu tragen, erinnert, wird in derselben Demo "gegen Rechts", und zwar mit staatlicher Unterstützung, zum Unmenschen erklärt.

In den westlichen Gesellschaften haben wir das Recht auf alles, was krank, pervers, degeneriert ist. Aber wir haben nicht wirklich das Recht, für Rechte von Religionen wie Islam und von Ideologien wie Genderismus Entrechteter politisch aktiv zu sein.

Ein Wunder, dass der Rest der Welt, wenn er sich entscheiden muss, Putin unterstützt? Und wie wehrhaft kann eine kranke, perverse, degenerierte Gesellschaft sein? Wir sind das Rom der Endzeit, und haben keinen Stilicho.

 Graeculus meinte dazu am 11.04.25 um 00:07:
Daher denke ich, selbst, wenn er die Pläne deines Textes hätte, das kostet Zeit, die ihm nicht mehr ganz so bleibt [...]

Das stimmt.  Allerdings weiß ich nicht, ob ihm das bewußt ist und ob ich mich darüber beruhigen soll. Zumal es ja auch heißen könnte: Wenn Putin siegt, dann bildet das die Basis für seinen Nachfolger.

 Saudade meinte dazu am 11.04.25 um 08:50:
In Wahrheit haben die Russen sich schon seit Jahren in allen Ländern ein neues Bild geschaffen: Hier liegt Geld. Halb Wiens Immobilien gehört den reichen Russen. Überall Einkaufen ist die friedliche und beste Art der Kriegsführung. Einige reiche Russen bestätigen das Klischee vom Millionär oder Milliadär. Führen sich teilweise extrem auf, haben schlechtes Benehmen, fechern mit den Scheinen vor Gesichtern, kommen mit ihren 19-jährigen Geliebten und man lässt sie gewähren. Sich etwas leisten können löst Demut aus.
Dass der Großteil normal oder arm ist, das Bild ist fast weg in Europa, daher die große Angst und Ehrfurcht. Putin würde sich hüten, diesen Reichtum zu zerstören, er macht das eben so bei uns. Und hat er mal die Ukraine, wird der Osten demütig und unterschreibt sämtliche Verträge aus Angst. Der braucht dann nicht mehr kämpfen. Die Russen sitzen überall in Europas Finanz- und Immobilienmärkten.

 Regina meinte dazu am 11.04.25 um 11:57:
Meine Rede. Die Russen profitieren vom europäischen Markt. Deshalb wird es ihnen nicht einfallen, mit Waffen über uns herzufallen. Die Aufrüstung ist lediglich ein Geschäft für die Waffenindustrie.

 Jack meinte dazu am 12.04.25 um 00:07:
Graeculus, kommen Stilicho und Alarich in deinem Buch über die Antike vor? Ich habe es mir bestellt, werde es bald im Berliner Miezenarium Alexa abholen.

 Graeculus meinte dazu am 12.04.25 um 14:50:
Das freut mich. Stilicho und Alarich kommen allerdings nicht vor. Mein Konzept besteht darin, von noch halbwegs und vage vorhandenen Erinnerungen an die Antike auszugehen (Marathonlauf, Amazonen, die 300 Spartaner bei den Thermopylen, Auch du mein Sohn Brutus, Kleopatra aus dem Teppich usw.) und dann darzustellen, was die Überlieferung aus der Antike präzise bzw. eigenlich dazu vermittelt.
Da habe ich nicht angenommen, daß diese beiden spätantiken Feldherren zumindest in Schrumpfform noch zur Allgemeinbildung gehören.

Ich hoffe, Du kannst das Buch dennoch mit Gewinn lesen.

 Graeculus meinte dazu am 12.04.25 um 14:57:
An Saudade und Regina:

Ich kann mich nur wiederholen und sagen, daß Putin aller Voraussicht nach nicht Westeuropa militärisch angreifen wird.

Siehe meinen Beitrag oben:

Putins Europa-Strategie:
1. Europa zum russischen Einflußgebiet zu machen.
2. Dazu müssen die EU und die NATO destabilisiert werden.
3. Zu diesem Zweck werden in ganz Europa EU- und NATO-skeptische Parteien unterstützt, Europa möglichst von russischen Energielieferungen abhängig gemacht und Eliten in den europäischen Staaten mit Geld korrumpiert.

Das ist mir vor allem nach der Lektüre von Catherine Belton klargeworden: Der Einsatz russischen Geldes in Westeuropa und in den USA folgt einer langfristigen Strategie zwecks Erzeugung von Abhängigkeit.
Daß Wien ein Zentrum russischer Einflußnahme ist, gilt ja bereits seit dem Kalten Krieg.
Und auch die Verbindungen zur FPÖ sind kein Geheimnis, oder?

 Graeculus meinte dazu am 12.04.25 um 15:08:
An Jack:


Ein Wunder, dass der Rest der Welt, wenn er sich entscheiden muss, Putin unterstützt? Und wie wehrhaft kann eine kranke, perverse, degenerierte Gesellschaft sein? Wir sind das Rom der Endzeit, und haben keinen Stilicho.

Ja, wir sind eine eine extrem liberale und tolerante Gesellschaft, die sich allmählich in Richtung einer Diskurshoheit derer, die sich für die Guten halten, entwickelt. Was die Liberalität dann in gewisser Weise einschränkt.

Liberalismus und Toleranz machen unsere Stärke und zugleich unsere Schwäche aus. Wir sind sehr attraktiv (die Flüchtlinge zeigen es), aber wir können uns nicht besonders gut wehren.
Ein starker Führer, heiße er nun Stilicho oder Wladimir, könnte unsere Wehrfähigkei verbessern, aber nur um den Preis unserer Freihet (mit der es übrigens im Römischen Reich der Spätantike nicht sonderlich weit her war).

Eine Frage:
Catherine Belton legt kurz den Gedanken nahe, daß die alte, russisch-orthodoxe Idee von Moskau als dem dritten Rom (nach dem ersten Rom und Konstantinopel als dem zweiten) im russischen Denken wieder eine größere Bedeutung bekommt. Und das ist ja eine imperiale Idee!
Wie denkst Du darüber?

 Graeculus meinte dazu am 12.04.25 um 15:23:
Noch an Regina und Saudade:

Ganz anders steht es freilich mit den ehemaligen Teilrepubliken der UdSSR (Estland, Lettland, Litauen) und den anderen Nachbarländern, die einmal zu Rußland gehört haben (Polen, Finnland). Und da dies Staaten sind, denen wir heute in EU und NATO verbunden sind, empfiehlt es sich m.E. nicht, sich entspannt zurückzulehnen und zu sagen: "Wir in Deutschland (resp. Österreich) sind ja nicht militärisch bedroht."

 Saudade meinte dazu am 12.04.25 um 19:36:
Ich hatte ein Gespräch mit einer Abgeordneten der ÖVP, die in der nächsten Periode sicher die neue Präsidentin der OSZE werden wird (laut ihr). Sie meinte, ihr Plan sei, die Russen überall einzubinden, vorallem in Studentengeschichten, also Bildungseinrichtungen. Je mehr  Verflechtungen, desto weniger Gefahr. 
Auch ich schrieb, es wird keine Angriffe geben, alles wird brav unterschrieben werden und gaaanz billig verkauft und gemietet werden. Ja, die FPÖ... was soll ich sagen... und Wien war tatsächlich immer schon gnädig zu denen, die Geld haben.
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