Anarchie als Experiment

Bericht zum Thema Politik

von  Graeculus

Das geschilderte Ereignis ist etwa dreißig Jahre her, etwaige Verstöße gegen das Schulrecht – ich erwähne das sicherheitshalber – sind mithin verjährt.

 

In einem Leistungskurs Philosophie stand das Halbjahresthema politische Philosophie an. In diesem Rahmen habe ich die Behandlung des Themas Anarchismus vorgeschlagen, und da dies von den Schülern als „keine Herrschaft, kein Zwang durch irgendjemanden“ verstanden wurde, stieß es auf Sympathie und Interesse. Dieses Interesse steigerte sich (ich möchte nicht sagen: bis zur Ekstase, aber doch merklich), als ich vorschlug, Anarchismus einmal anarchistisch, also in Form eines Experimentes zu behandeln.

 

Vereinbart wurde das folgendermaßen: Für eine Dauer von vier Wochen, die wir uns für Thema und Experiment vornahmen, sollte im Unterricht keinerlei Zwang gelten. Die konkreten Themen sollten sich aus Vorschlägen und Anregungen der Gruppe ergeben; der Lehrer (ich) sollte nichts weiter als ein Gruppenmitglied sein; die Teilnahme am Unterricht sei – für diese vier Wochen! – freiwillig (also ohne Eintragung von Fehlstunden in die Kursmappe); die Noten für diese Phase dürfe sich anschließend jeder selber geben, wobei darüber diskutiert und argumentiert werden könne, die letzte Entscheidung aber bei dem Betreffenden liege.

 

Das hatte es nun wahrlich noch nie gegeben in den Schulerfahrungen der Beteiligten. Ob diese Noten dann auch wirklich zählten? Ja, so sei es! Die Entscheidung für das Experiment erfolgte einstimmig.

Und nun das Ergebnis nach vier Wochen:

 

             Die Teilnahme am Unterricht nahm deutlich und im Laufe der vier Wochen immer mehr ab. Das galt besonders für Eckstunden, d.h. solche, zu denen die Schüler früher in die Schule kommen mußten bzw. bei denen sie früher nach Hause gehen konnten. Wenige Schüler kamen immer, etliche kamen nie, und die meisten kamen manchmal – man kann auch sagen: gelegentlich.

 

             Irgendwelche Beiträge zur Gestaltung des Unterrichts gab es nicht – außer von mir. Niemand sonst machte sich die Mühe, Texte oder sonstige Ideen zum Thema Anarchismus beizusteuern.

 

             Den Lernerfolg schätzte ich daher als minimal ein – mit Ausnahme des Experimentes als solches: Was passiert, wenn, ganz anarchistisch, niemand mehr sich irgendeine Mühe geben muß?

 

             Richtig spannend nach dieser vierwöchigen Phase, die ich als deprimierend empfand, wurde es, als es anschließend um die Noten für diese Zeit ging. Gearbeitet hatte ja nun im Grunde niemand, so daß vom Leistungsstandpunkt her allenfalls für diejenigen, die zumindest regelmäßig gekommen waren und sich wenigstens mit den von mir vorgestellten Themen befaßt hatten, eine 4 gerechtfertigt gewesen wäre; für die Verbleibenden konnte ich mir eine 5 vorstellen, und für diejenigen, die sich in den vier Wochen nie hatten blicken lassen: eine 6. Aber nein! Jeder sollte sich ja sein Note selber geben dürfen. Da war nun von 4, 5 und 6 überhaupt keine Rede. Ich übergehe die Details der Diskussion (eine solche war ja immerhin vereinbarungsgemäß erlaubt) und beschränke mich auf diejenigen Teilnehmer, die in dieser Phase, mehr oder weniger konsequent, zu Nicht-Teilnehmern mutiert waren.

Sie hatten einen originellen Einfall: „Ja, ich war kaum bzw. nie da, deshalb gebe ich mir keine Note. Eine 6? Gott bewahre! Nein, gar keine Note.“ Da konnte ich mir einen Wolf argumentieren: „Wenn du, beispielsweise, in der vorangehenden, normalen Unterrichtsphase 2 gestanden hast und du in der folgenden Phase wiederum 2 stehen wirst, dann wirkt sich ‚keine Note‘ für die Zwischenphase genau so aus, als ob du dir eine 2 dafür gäbest. Eine 2, die wäre aber doch ein Witz angesichts dessen, was du zu diesem Experiment beigetragen hast! Du warst doch (fast) nie da.“ Nein, damit konnte ich nicht durchdringen: „Wir haben doch ausdrücklich vereinbart, daß jeder selbst über seine Note entscheiden darf. Und ich gebe mir eben keine Note.“ Auch die Frage, ob der Betreffende seine eigene Gesundheit etwa einem Arzt, der auf diese Weise sein Examen gemacht hat, anvertrauen möchte, half nichts.

 

Diese Stunde der Notenbesprechung war eindeutig das Lehrreichste an dem gesamten Experiment. Und falls es einen Lernerfolg gegeben hat, dann bestand er in der Einsicht, warum Anarchismus und komplette Freiwilligkeit, jedenfalls in unserer Gesellschaft, nicht funktionieren: Niemand ist bereit, seine eigenen Schwächen freiwillig sanktionieren zu lassen. Niemand sagt über sich selbst: Ich habe Mist gemacht und übernehme dafür die Verantwortung.

 

Solange aber niemand Verantwortung übernehmen muß, mag die Zwanglosigkeit des Anarchismus als tolle Sache gelten ... für viele, nicht für Besonnene.

 

Bis zur Schulleitung ist mein Experiment offenbar nicht durchgedrungen. Und heute ist es, wie gesagt, verjährt. Ich bereue es nicht, habe es freilich auch nie wiederholt.



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Kommentare zu diesem Text


 Terminator (25.04.22, 00:26)
Freiheit funktioniert nur, wenn sie nicht mit Gleichheit verwechselt wird. Eine optimale Gesellschaftsordnung für IQ 100 ist eine andere als für IQ 130.

 Graeculus meinte dazu am 25.04.22 um 13:07:
Du meinst (im Ernst), daß bei einem IQ von 130 die Bereitschaft, eigene Fehler einzusehen und für die Folgen einzustehen, größer sei? Solche Charaktereigenschaften testet der Intelligenztest, soweit ich weiß, aber gar nicht.

 Tula (25.04.22, 00:40)
Hallo Graeculus
Zum Teil überrascht mich das Experiment. Die Möglichkeit, selbst Arbeitsthemen vorzuschlagen, hätte ich persönlich sicher genutzt, gerade weil das Thema doch recht interessant ist. Der Mangel an Heimarbeit überrascht mich dann weniger. Das gar-nicht-Erscheinen anderer ist eine Missachtung, die ich als Lehrender übel genommen hätte.

Anarchie im klassischen Sinne ist wohl der Verzicht auf Gesetze und die Fähigkeit der Selbstorganisation der Gesellschaft bzw. Gruppe. Im Großen von vornherein undenkbar, im Kleinen (z.B. eine Art Kommune-Basis) läuft es auf die Herausbildung 'ungeschriebener Gesetze' bzw. eines Verhaltenskodex hinaus, dessen Einhaltung mehr oder weniger eingefordert wird. So oder so, als soziales Wesen kann der Mensch ohne gewisse Strukturen nicht einmal in der kleinsten Gruppe funktionieren. Vom freien Lauf der Boshaftigkeit mal abgesehen. Man denke an den sogenannten Wilden Westen.

LG
Tula

 Graeculus antwortete darauf am 25.04.22 um 13:12:
Das Ergebnis des Experimentes habe ich als deprimierend empfunden. Hättest Du als Siebzehnjähriger anders gehandelt? Für meine Person könnte ich das nicht felsenfest behaupten.

Daß Anarchie in Kleingruppen (historisch: Stämmen) funktioniert (qua Selbstregulierung), darin stimme ich Dir zu. Es geht aber auch dort nicht ohne Sanktionsmaßnahmen der Gruppe. Und daran hat es wohl in unserem Experiment gefehlt. Den Faulenzern (gesellschaftlich: den Parasiten) passierte nichts.

 Verlo (25.04.22, 02:01)
Teilnahme ist freiwillig. Also darf sich aus dem Fehlen kein Nachteil ergeben.

Insofern ist keine Note das Beste. 

Wäre ich der Lehrer gewesen, hätte ich mir angelastet, daß es immer weniger Teilnehmer gibt. 

In der Wirtschaft würde das bedeuten: das Produkt wird nicht angenommen. 

Über die Frage, ob das Produkt oder der Konsument das Problem ist, würde es keine lange Diskussion geben.

#

Interessantes Projekt/Experiment. 

Ich wäre jede Stunde gekommen. 

Daß nicht alle gekommen sind, hätte ich als Vorteil gesehen: denn wenn sie anwesend wäre, würde sich das nur negativ auf die Stimmung auswirken.

 Graeculus schrieb daraufhin am 25.04.22 um 13:21:
"keine Note" ist einfach nicht logisch, denn sie bedeutet nichts anderes als: die gleiche Note wie vorher und nachher.

Phase 1: normaler Unterricht, Note 2.
Phase 2: Anarchismus-Experiment, keine Note.
Phase 3: normaler Unterricht, Note 2.
Gesamtnote fürs Halbjahr: 2, also exakt so, als ob der Betreffende sich auch für die Phase 2 eine 2 gegeben hätte.
Hingegen Phase 2: Note 6 ergäbe fürs Halbjahr die Note 3 minus.

Keine Note ist also nur scheinbar keine Note.

Menschlich bzw. politisch empfand ich das Ergebnis als enttäuschend; aber in einer Weise, für die ich als Lehrer persönlich nichts konnte, denn ich war ja per Vereinbarung nur ein normales Gruppenmitglied.

Ich wäre jede Stunde gekommen.

Die Frage ist nur, ob Du als Siebzehnjähriger in jeder Stunde gekommen wärest. Das kann ich zumindest für meine Person nicht beschwören, wenn ich daran denke, wie ich als Siebzehnjähriger drauf war.

Eventuell verliefe das Experiment unter Erwachsenen anders. Dennoch denke ich: Ohne Sanktionsmöglichkeiten funktioniert auch kein Anarchismus. Etwa: Du bist nicht bereit, etwas für die Gemeinschaft zu tun? Nun gut, dann bekommst du auch nichts von der Gemeinschaft.

 Verlo äußerte darauf am 25.04.22 um 13:43:
Graeculus, wenn du eine Note trotz Nichterscheinen geben willst ohne negative Auswirkung, dann mußt du einem Phase 1 mit einer 1 eine 1 geben. Einem mit 3, eine 3. Also für die gleiche (Nicht-)Leistung verschiedene Noten. Das ist doch noch schwerer nachzuvollziehen. 

Als ich 17 war hatten wir bei einem Lehrer Staatsbürgerkunde. Da aber kein 150prozentiger war und außerdem Sokrates-Fan, waren es eher Philosophie-Stunden. In einer Klasse mit angehenden Kfz-Schlossern. Allerdings hatte ich mich bereits seit 14 mit geisteswissenschaftlichen Themen beschäftigt. Deshalb haben der Lehrer und ich entsprechende Themen besprochen, während die anderen Männerthemen nachgingen.

 Graeculus ergänzte dazu am 25.04.22 um 23:27:
Den ersten Abschnitt verstehe ich nicht. Eine unentschuldigt versäumte Stunde (also nicht wg. Krankheit u.ä.) wird mit ungenügend (6) bewertet. Das ist eine 'negative Auswirkung' und soll auch eine sein. Ich hätte in der Anarchismus-Phase nichts gegen negative Auswirkungen gehabt - die Schüler schon.
Daß Nichterscheinen --> "keine Note" unterschiedliche Auswirkungen auf die Gesamtnote hatte (es bestätigte eben die sonstige Note, je nachdem, wie die ausfiel), ergab sich aus der Entscheidung der Schüler, gegen die ich - vergeblich - argumentiert habe.
Geht das an dem vorbei, was Du meinst?

Das Interesse an geisteswissenschaftlichen statt an "Männerthemen" ehrt Dich in meinen Augen.

Auch meine Frau berichtet sehr differenziert über ihre Lehrer in der DDR; selbst SED-Mitglieder waren von sehr unterschiedlicher Art.

 Graeculus meinte dazu am 25.04.22 um 23:28:
Anscheinend wärst Du auch schon als Siebzehnjähriger freiwillig zum anarchistischen Unterricht gekommen.
Hättest Du Dich auch arbeitsmäßig eingebracht? Daran haperte es ja in dem Experiment ebenfalls.

 Verlo meinte dazu am 26.04.22 um 21:29:
Graeculus:

Das Interesse an geisteswissenschaftlichen statt an "Männerthemen" ehrt Dich in meinen Augen.
Nicht "statt", sondern alles zu seiner Zeit.

Als ich siebzehn war, hab es nicht viele Menschen, mit denen ich philosophieren konnte.

Es ist selbstverständlich hypothetisch, denn ich hatte im Osten keinen Zugang zu Büchern, zu denen ich im Westen Zugang gehabt hätte.

Ich habe aber viele Bücher gelesen, die im Unterricht nicht behandelt wurden.

Graeculus:

Hättest Du Dich auch arbeitsmäßig eingebracht?
Im Osten habe ich hin und wieder Lehrer, später Dozenten, überrascht mit Literatur zum Thema, die sie nicht kannten.

Oder mit Gedanken zum Thema, auf die sie nicht gekommen waren, weil ich verschiedene Gebiete vermischt habe.

Ich denke, daß das auch möglich gewesen hätte sein können, wenn ich an deinem Experiment teilgenommen hätte.

 Verlo meinte dazu am 26.04.22 um 21:32:
Graecuslus:

Eine unentschuldigt versäumte Stunde (also nicht wg. Krankheit u.ä.) wird mit ungenügend (6) bewertet. Das ist eine 'negative Auswirkung' und soll auch eine sein.
Du hast die Teilnahme am Experiment freigestellt: die Schüler sollte frei entscheiden, ob sie teilnehmen oder nicht.

Deshalb darf eine Nichtteilnahme keine negative Auswirkung haben.

Sonst wäre die Teilenahme keine freie Entscheidung.

 Graeculus meinte dazu am 26.04.22 um 23:39:
War eine hypothetische Frage, ob Du Dich eingebracht hättest; Du hast sie aber für mich zufriedenstellend beantwortet. Ansonsten stammen wir halt aus zwei verschiedenen Systemen.
Bei Besuchen in DDR-Buchhandlungen war ich immer wieder beeindruckt, welche Bücher es dort nicht gab. In diesem Punkte war ich lebenslang sehr empfindlich.

***

Auch in dem Experiment war es möglich, mit einer 6 eine extrem schlechte Leistung bzw. ein systematisches Versäumen des Unterrichts zu bestrafen; nur hätten die Schüler sich damit selbst bestrafen müssen - etwa nach dem Motto: "Ich hab Scheiße gebaut und stehe zu den Folgen". Das hat natürlich niemand getan ... und ich halte das für ein schlechtes Zeichen.

Und da glaube ich (andere Generation), daß ich mich nicht so verhalten hätte: Entweder wäre ich regelmäßig gekommen, oder ich hätte mir eine 6 gegeben. Alles andere wäre mir unredlich erschienen, und dagegen habe ich etwas. (Daß es etwas mit der Generation zu tun hat, ist lediglich eine Vermutung.)

 Verlo meinte dazu am 28.04.22 um 21:35:
Graeculus:

Bei Besuchen in DDR-Buchhandlungen war ich immer wieder beeindruckt, welche Bücher es dort nicht gab. 
Für mich insofern tragisch, da ich erst nach dem Lesen von Carl Gustav Jung mit dem Trinken aufhören konnte, seine Werke jedoch nicht in der DDR verlegt wurden.

 Graeculus meinte dazu am 28.04.22 um 23:03:
Du bist mit C. G. Jung trocken geworden? Mit dieser Möglichkeit hat die DDR-Zensur vermutlich nicht gerechnet.

Sollte es eigentlich in einer anarchistischen, sich selbst regulierenden Gesellschaft verbotene Bücher geben - etwa anti-anarchistische oder menschenverachtende?
Ich denke, nein, oder?

 Verlo meinte dazu am 28.04.22 um 23:29:
Graeculus: 

Du bist mit C. G. Jung trocken geworden? Mit dieser Möglichkeit hat die DDR-Zensur vermutlich nicht gerechnet.
Erinnere ich mich richtig, hat die DDR-Zensur Jung Nähe zum Nationalsozialismus vorgeworfen.

 Verlo meinte dazu am 28.04.22 um 23:40:
Graeculus:

Sollte es eigentlich in einer anarchistischen, sich selbst regulierenden Gesellschaft verbotene Bücher geben - etwa anti-anarchistische oder menschenverachtende?
Ich denke, nein, oder?
Menschen sollten lernen, selbst zu entscheiden, was gut für sie ist.

Im Grunde fühlen, wissen sie es, bevor sie als Kind auf Linie gebracht werden.

Deshalb keine Buch-Verbote. 

Auch aus einem menschenverachtenden Buch kann man etwas lernen. 

Davon abgesehen, Graeculus, daß "vorsortiert" wird, wurde auch für dich, macht es dir heute schwerer, dich nicht beeinflussen zu lassen.

Oder: da du "vorsortiert" gewöhnt bist, hast du Angst vor "bösen" Bücher und bist durch "gute" leicht zu beeinflussen.

Behaupte ich aus einer Ahnung heraus.

 Graeculus meinte dazu am 28.04.22 um 23:43:
Das wäre eine Todsünde aus DDR-Sicht gewesen. Wie die KPD in der Spätphase der Weimarer Republik in Berlin mit der NSDAP kooperiert und - auf Stalins Befehl, soweit ich weiß - die SPD als Hauptfeind angesehen hat, war dann freilich nicht minder eine.

 Graeculus meinte dazu am 28.04.22 um 23:48:
Um eine Beeinflussung kommt man nicht herum - jede Information ist eine Beeinflussung. Allerdings verarbeite ich eingehende Informationen, und dafür bin ich verantwortlich. Das tust natürlich auch Du, und auch Du bist dafür verantwortlich.

"Böse" Bücher habe ich in größerer Zahl gelesen und übrigens selber ein Buch darüber geschrieben: "33 anstößige Bücher, die das Lesen lohnen", Gera 2019.

 Graeculus meinte dazu am 28.04.22 um 23:50:
In meiner Jugend habe ich viel Schopenhauer gelesen, was unter den 68ern nicht gerade en vogue war. Heute befasse ich mich hauptsächlich mit der Antike.

 Verlo meinte dazu am 29.04.22 um 06:20:
Graeculus, Schopenhauer ist "böse" Literatur.

 Verlo meinte dazu am 29.04.22 um 06:35:
Graeculus:

"Böse" Bücher habe ich in größerer Zahl gelesen und übrigens selber ein Buch darüber geschrieben: "33 anstößige Bücher, die das Lesen lohnen", Gera 2019.
Beim Verlag leider keine Leseprobe verfügbar. Noch nicht einmal ein Inhaltsverzeichnis. 

Kann mir jedoch nicht vorstellen, daß du vor Jahren "böse" Bücher gelesen hast, jetzt aber nicht mehr.

Zumindest haben sie sich nicht auf deine in KeinVerlag geäußerten Ansichten niedergeschlagen.

 Graeculus meinte dazu am 03.05.22 um 16:39:
Da Du - leider - nicht weißt, welche 33 Bücher ich vorgestellt habe, kannst Du auch nicht wissen, ob sie sich in meinen Ansichten niedergeschlagen haben. Einige gewiß!

Eine Leseprobe sowie ein Inhaltsverzeichnis auf der Verlagsseite wären wünschenswert; aber darauf habe ich keinen Einfluß.

Mich hat damals gewurmt, daß bei der Konzeption mein Thema noch originell war, dann aber kurz vor meinem zwei andere Bücher mit demselben Thema erschienen sind:
- Markus Krajewski/ Harun Maye (Hrsg.): Böse Bücher. Berlin 2019
- Clemens Ottawa: Skandal! Die provokantesten Bücher der Literatturgeschichte. Springe 2019

Und aus war es mit den Originalität. Zumindest der Ottawa hat aber lausige Kritiken erhalten.

 Graeculus meinte dazu am 03.05.22 um 16:46:
Schopenhauer ist "böse"; dennoch habe ich nichts von Schopenhauer aufgenommen. Der Untertitel lautet "Skandale um Bücher aus 3500 Jahren", und Schopenhauers "Die Welt als Wille und Vorstellung" hat keinen Skandal ausgelöst, sondern ist (für Jahrzehnte) ignoriert worden. Mit dabei sind Kants "Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft" (--> Publikationsverbot für Kant) und Nietzsches "Der Antichrist. Fluch auf das Christentum". Beide Bücher haben mich übrigens beeinflußt.

 Verlo meinte dazu am 04.05.22 um 17:58:
Graeculus, in der heutigen Zeit sind andere Bücher "böse".

Zum Beispiel: 

"Virus-Wahn – Corona, Masern, Schweinegrippe, Vogelgrippe, SARS, BSE, Hepatitis C, AIDS, Polio, Spanische Grippe", Engelbrecht & Köhnlein.

Ist bereits vor Corona erschienen, wurde nach Corona aktualisiert.

#

Oder: 

"Inside Corona – Die Pandemie, das Netzwerk, die Hintermänner", Thomas Röper. 

Der Autor ist der Spur des Geldes gefolgt.

 Graeculus meinte dazu am 05.05.22 um 15:37:
Welche Definition von "böse" legst du da zugrunde?

Bei mir ging es um Bücher, die einen Skandal ausgelöst haben. Es passiert ja nicht so oft, daß ein neues Buch es ins Zentrum der Diskussion, sogar in die abendlichen Hauptnachrichten schafft.
Solche Bücher habe ich gesucht ... und gefunden.

Gibt es da seit 2019 ein weiteres Buch?
Hat das Buch - so frage ich mich manchmal - überhaupt noch diese Bedeutung?
Selbst die Querdenker artikulieren sich ja eher auf Facebook, Twitter, Instagram usw.

Mein Buch sollte auch eine Werbung für Bücher sein.

 Verlo meinte dazu am 07.05.22 um 13:17:
Graeculus: 

Hat das Buch - so frage ich mich manchmal - überhaupt noch diese Bedeutung?
Selbst die Querdenker artikulieren sich ja eher auf Facebook, Twitter, Instagram usw.
Ja, heute sind Bücher wichtiger denn je: alles Digitale kann plötzlich abgeschaltet oder von außen verändert oder gelöscht werden.

Wir besitzen noch Bücher, auch alte. Aber wer kauft heute zum Beispiel noch ein Lexikon, da doch alles in Wikipedia steht?

 Graeculus meinte dazu am 07.05.22 um 23:39:
Das sehe auch ich so mit den Büchern. Neben der Abschaltbarkeit des Digitalen ist mir noch ein Besuch in der Lenin-Bibliothek in Moskau zu Breschnews Zeiten in Erinnerung: An die meisten Bücher durfte man ohne Spezialgenehmigung gar nicht ran.
Aber wer sonst denkt noch so?

Ein Freund hat mir kürzlich berichtet, er habe die Encyclopedia Britannica in den Papiermüll gegeben, weil niemand sie haben wollte. Mich schauderte es!

 Verlo meinte dazu am 09.05.22 um 11:57:
Graeculus:

Welche Definition von "böse" legst du da zugrunde?
"Böse" Bücher rütteln am jeweiligen System.

 Graeculus meinte dazu am 09.05.22 um 23:13:
Politisch, religiös, sexuell, ästhetisch ... das System ist umfassend.
Mit dem Zusatz: Was gestern am System gerüttelt hat, kann heute das System repräsentieren. Das System ist dynamisch.

Dionysos ist böse. Er und sein Gefolge sind ja auch in die Ikonographie des Teufels der Christen eingegangen. Vorher war er noch nicht böse.
Taina (39)
(25.04.22, 07:46)
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 Graeculus meinte dazu am 25.04.22 um 13:30:
Jedenfalls gab es von der Schulleitung keinerlei Reaktion - wobei ich annehme, daß sie eingeschritten wäre, wenn sie's gewußt hätte, weil sie hätte einschreiten müssen. Ein Lehrer darf nicht Anwesenheitspflicht und Notenkriterien suspendieren.
Übrigens hat es auch von Kollegen keine Ansprache gegeben. Entweder haben die Schüler total dichtgehalten, oder die Kollegen haben es vorgezogen, das nicht zur Kenntnis zu nehmen.

Tatsächlich war niemand so 'frech', sich selbst für diese Phase eine 1 zu geben. Aber "keine Note" ist eben nur ein durchsichtiges Feigenblatt und wirkt sich faktisch wie eine (gute) Note aus, wie ich im Taxt und dann noch einmal in meiner Antwort auf Verlo dargelegt hatte. Dagegen haben die Schüler auch kein inhatliches Argument vorgebracht, sondern nur: Das hatten wir doch so vereinbart, daß jeder selbst darüber entscheiden darf.

Die Unterscheidung zwischen Schule und realer Welt ist eine von Außenstehenden; für Schüler (und Lehrer) ist die Schule reale Welt. Daß sie im Vergleich zur freien Wirtschaft eine Käseglocke ist, merkt man dann später.
Taina (39) meinte dazu am 25.04.22 um 13:35:
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 Graeculus meinte dazu am 25.04.22 um 14:05:
Eigentlich, wenn ich's bedenke, war's beides: ein Experiment zum Thema Anarchismus und eines zum Thema Schule, nämlich: Funktioniert Schule auch anders, bei völliger Freiwilligkeit und ohne Notendruck?

Ein Psychologe würde mir das Experiment vermutlich um die Ohren hauen: Fehler hier, Fehler da.

Aber weißt Du: vergessen hat es vermutlich keiner der Teilnehmer. Und das kann man bei weitwem nicht von jedem Unterrichtsinhalt behaupten.
Taina (39) meinte dazu am 25.04.22 um 19:28:
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 Graeculus meinte dazu am 25.04.22 um 23:33:
Gehörte zum Start auch eine Vereinbarung mit den Schülern, dass diese es nicht ausplaudern sollten?

Meiner Erinnerung nach (ist halt schon 30 Jahre her) habe ich dezent darauf hingewiesen, daß sie das nicht an die große Glocke hängen sollten; eine förmliche Abstimmung gab es dazu nicht, und ich war auch nicht sicher, mich auf die Verschwiegenheit verlassen zu können. Insofern lag ein Risiko darin.

Ich stimmer Dir zu, daß es im Sinne des Erfahrungsgewinns ein sinnvolles Experiment war; aber wissenschaftliche Kriterien erfüllte es natürlich nicht.
Ein Unterricht, den man nicht vergißt, kann nicht völlig sinnlos sein. Das kannst Du vermutlich aus Deiner eigenen Schulzeit bestätigen.

 TassoTuwas (25.04.22, 09:44)
Interessant aber nicht überraschend!
Ich krieg es nicht mehr zusammen, aber dem Sinne nach hat wer (?) gesagt, "Wer in der Jugend nicht Anarchist (Revoluzzer, Chaot etc) war hat etwas versäumt, wer es im Alter noch immer ist, hat nichts dazu gelernt!
Ich glaube mit einer Gruppe junger Eltern wäre das Ergebnis anders ausgefallen.
TT
Taina (39) meinte dazu am 25.04.22 um 13:13:
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 Graeculus meinte dazu am 25.04.22 um 13:35:
Kurios. Ich kenne den Spruch von Winston Churchill: "Wer mit 18 kein Sozialist ist, hat kein Herz; wer mit 50 immer noch ein Sozialist ist, hat keinen Verstand."
Und natürlich liegt es nahe, in der Jugend irgendwie revolutionär zu denken bzw. zu empfinden. Aber ohne jeden Arbeitseinsatz? Anarchist sein, weil das bequem ist?
Das traue ich nicht einmal der Jugend aller Epochen zu. Ich meine, noch die 68er hätten darin einen Kampfauftrag gesehen. Oder vergoldet meine Erinnerung das?

 Reliwette (25.04.22, 11:08)
Ogottogottogott, das Ergebnis war vorhersehbar. Menschen brauchen Freuerchen für eine Leistung, die sie abgeben (an wen?). Freuerchen sind Belohnungen. Eine Leistung ohne Belohnung? Selbst die Religionen arbeiten mit Belohnungen: Ewiges Leben, 77 Jungfrauen und "derg"l. Menschen sind ausgemachte Arschlöcher -zumindest die meisten von ihnen. Wir finden einige von ihnen in höchsten Positionen in Regierungen.
Ein Experiment war das? Schau Dir heute mal die FDP an, da heißt es: "So wenig wie möglich steuernd in/auf die Gesellschaft einwirken. Anarchismus kan man in Ameisenstaaten beobachten  z.B. bei den Blatztschneiderameisen oder bei den Bienen, aber kommt eine fremde Biene an den heimischen Stock- wird sie abgestochen. Ausnahmen kommen vor, wenn sie über und über mit Pollenstaub bedeckt sind
Da müssen einige Deiner ehemaligen Schüler ihre Spuren hinterlassen haben. He he, ich meine bei der FDP

 Graeculus meinte dazu am 25.04.22 um 13:40:
Selbstbestimmtes Arbeiten reicht als Belohnung (Freuerchen) nicht aus? Anscheinend nicht.
Das Experiment, soweit ich einen Erfolg davon erhofft habe, beruhte wohl auf einer falschen psychologischen Annahme.
Selbst bei mir selbst bin ich mir nicht sicher, ob ich mich mit 17 anders verhalten hätte.
Ich bin nicht bei der FDP gelandet. Von den Schülern weiß ich es nicht - möglicherweise haben sie auch später gelernt. Wobei mir eine stromlinienförmige Anpassung bis heute nicht als Lernerfolg erscheint.

 EkkehartMittelberg (25.04.22, 11:30)
Eindrucksvoller als durch dieses Experiment kann man niemandem klarmachen, dass Anarchie scheitern wird. Ich kann mir vorstellen, dass dieses Bewusstsein auch bei denen vorhanden war, die keine Benotung gefordert haben. Sie haben trotz besseren Wissens eiskalt ihren Vorteil gesucht.

 Graeculus meinte dazu am 25.04.22 um 13:46:
Sie haben ihre "keine Note" ja auch bekommen, denn so war es vereinbart. Es ist aber niemand, soweit ich das beurteilen konnte, durch das Experiment ein begeisterter Anarchist geworden. Das Scheitern war zu klar.

Eine Frage an dich als Fachmann: Wir reden hier über die "Generation Golf". Wie wäre dieses Experiment wohl in den 50ern oder bei den 68ern ausgegangen? Ich halte es für möglich, daß das 1968/69 als "Kampfauftrag" verstanden worden wäre.

(Mit einem Klassenkameraden von damals habe ich mir kürzlich bewußt gemacht, daß wir zwar 1967 das Studium aufgenommen haben - oder zur Bundeswehr gegangen sind, daß wir aber in unserer Schulzeit unpolitisch waren.)

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 25.04.22 um 19:42:
Deine Frage ist sehr interessant. Wir können natürlich nur mutmaßen.
Schüler der Fünfziger Jahre hätten aus verinnerlichtem Pflichtbewusstsein nicht gewagt, in dem Maße zu fehlen.
Schüler der 70er Jahre,waren politisch nach meiner Erfahrung so engagiert, dass die meisten aus Interesse an den Inhalten des Kurses nicht gefehlt hätten.

 Graeculus meinte dazu am 25.04.22 um 23:34:
Das vermute auch ich. Und insofern trug zum Mißlingen meines Versuches wohl auch bei, daß es sich halt um die Generation Golf handelte.

 Dieter_Rotmund (25.04.22, 12:04)
Interessantes Experiment! Ich ziehe meine Hut davor, dass die gültigen Regeln missachtest und das durchgezogen hast.
Historisch gesehen hat der Anarchismus nur eine Reihe von Attentätern und Attentaten hervorgebracht, einige sogar mit tragischen Folgen (1914!).

 Quoth meinte dazu am 25.04.22 um 13:22:
Das war kein anarchistisches Experiment, Graeculus, sondern die bloße Aufhebung der Schulpflicht im Fach Philosophie.
Anarchisten brauchen ein selbstgesetztes gemeinsames Ziel, für dessen Erreichung sie kämpfen können. Kropotkin war ein großer Forscher und Geograf und hat herrliche Bücher geschrieben; in Bakunins hinterlassener Bibliothek in der Schweiz habe ich gesehen, was dieser Bursche alles gelesen hat, um seinem Erzfeind Marx Paroli bieten zu können.
Dein Experiment widerlegt nicht den Anarchismus, es zeigt nur, dass Ziellosigkeit zur Faulheit führt.
Die spanischen Anarchisten haben Franco lange widerstanden - und das nicht aus Faulheit! :D
Gruß Quoth

 Graeculus meinte dazu am 25.04.22 um 13:53:
An Dieter_Rotmund: Etwas mehr ist der Anarchismus historisch schon - denke nur an die spanischen Anarchisten während des Bürgerkrieges: ein Experiment, das letztlich von außen (Kommunisten, Falangisten) beendet worden ist.

Über meine Risikobereitschaft von damals bin ich heute selber etwas ... irritiert. Das Geständnis von Thomas Fischer (Ex-BGH-Richter), er habe früher selbst gelegentlich das Gesetz gebrochen (mit dem Zusatz, er nenne nur das, was inzwischen verjährt sei), gibt mir den Mut zu dieser Beichte.

(Gefeuert wird man als Lehrer übrigens erst ab einem Jahr Haft.)

 Graeculus meinte dazu am 25.04.22 um 13:58:
An Quoth:

Das war kein anarchistisches Experiment, Graeculus, sondern die bloße Aufhebung der Schulpflicht im Fach Philosophie.

Das ist wahr, ist mir aber erst im Nachhinein bewußt geworden. Vorher habe ich mir wohl politisches und philosophisches Interesse (Leistungskurs!) als zureichendes Motiv, als motivierendes Ziel erhofft.
Kropotkin und Bakunin (die ich schätze, vor allem Kropotkin) hätten als Schüler möglicherweise anders reagiert. Oder was meinst Du? Schule soll doch auf das Leben vorbereiten! Überhaut frage ich mich (und Dich), ob jede Generation von Jugendlichen so reagiert hätte wie diese, die "Generation Golf".

 Regina meinte dazu am 25.04.22 um 15:32:
du hättest die Anwesenheitspflicht von der Freistellung ausnehmen können, so dass es nur um die Inhalte gegangen wäre. Was dann im Unterricht passiert wäre, wäre interessant.
Kennst du den:
Ein Lehrer gibt ein Aufsatzthema "Wie stellst du dir die ideale Schule vor?" Alle schreiben eifrig. Fritzla gibt den Bogen ab mit einem einzigen Wort: "Geschlossen".

 Quoth meinte dazu am 25.04.22 um 20:58:
Die Generation der Jugendlichen, die die Lockdowns der Corona-Zeit durchlebt und durchlitten haben, wissen, dass in der Schulpflicht auch deren Gegenteil steckt: Das Anrecht darauf, beschult zu werden. Aus "Hurra, die Schule brennt!" ist bei denen "Hurra, wir dürfen wieder in die Schule gehen!" geworden - vielleicht eine der positivsten Auswirkungen der Pandemie. Aber auch diese Jugendlichen hätten bei Aufhebung des Leistungsdrucks das gemeinsame, selbstbestimmte Ziel gebraucht, ohne das es im Anarchismus ebenso wenig geht wie im normalen Schulbetrieb ohne die Ziele Versetzung und Abitur. Gruß Quoth
Taina (39) meinte dazu am 25.04.22 um 21:13:
Diese Antwort ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 Graeculus meinte dazu am 25.04.22 um 23:40:
Ach ja, ein interessanter Gedanke von Quoth! Direkt im Anschluß an die Pandemie wäre das Experiment sicherlich anders verlaufen. Hurra, wir dürfen wieder in die Schule.

Das "Recht, beschult zu werden" (ein bürokratischer Ausdruck) hat in meiner aktiven Zeit aber nie dazu geführt, daß ein erkrankter Lehrer = eine ausgefallene Stunde nicht begrüßt worden wäre.
Sollte selbst das nach der Pandemie anders sein, wird der Effekt vermutlich nicht lange anhalten.

Und an Taina: Freudiges Lernen setzt interessant gestalteten Untericht voraus. Vor allem in Mangelfächern werden auch Lehrer eingestellt, die das nicht so gut hinbekommen.

 Graeculus meinte dazu am 25.04.22 um 23:56:
An Regina:

Es gab zwei anarchistische Elemente: 1. die aufgehobene Anwesenheitspflicht, 2. die Eigenbenotung.
Im Nachhinein denke ich: Jedes dieser beiden Elemente mußte zu Komplikationen führen. Aber ohne sie wäre es halt nicht anarchistisch gewesen.

Deinen Witz mit dem Aufsatzthema kenne ich so nicht; eine ähnliche Idee kommt aber schon in der "Feuerzangenbowle" vor.

Kennst Du den? "Was ist der Unterschied zwischen Gott und einem Lehrer?" - "?" - "Gott weiß alles, der Lehrer weiß alles besser."
Und den? "Ein guter Lehrer sucht stets den Monolog mit der Jugend."

 Quoth meinte dazu am 26.04.22 um 10:40:
@Graeculus: Für ihr Recht auf Schule nehmen Kinder und Eltern in ärmeren Ländern unglaubliche Strapazen in Kauf; je mehr der Wohlstand bei uns (durch welche Ursachen auch immer, Pandemie, Krieg, Inflation, Lieferkettenzusammenbruch, Klimakrise) geschmälert wird, desto begehrter, geachteter und wertvoller wird auch die Schulbildung wieder werden. In Zeiten, in denen Schulabbrecher und Faulenzer aufs weiche Polster der sozialen Sicherheit fallen, sind Bildungsverachtung, Schul - und Lehrerhass vorprogrammiert. In dieser Hinsicht kann es nur besser werden, wenn alles ansonsten schlechter wird! :) Gruß Quoth

Antwort geändert am 26.04.2022 um 12:47 Uhr

 Graeculus meinte dazu am 26.04.22 um 23:31:
Wenn man bedenkt, welche Mühen - wie Du schreibst - Kinder in anderen Ländern auf sich nehmen, um zur Schule gehen zu können, ist es bedrückend, wie leichtfertig manche Schüler hier nicht zur Schule gehen - womit ich nicht einmal diejenigen aus dem Experiment meine.
Wir konnten immer beobachten, wie stark der 'Krankenstand' zunahm, sobald die Schüler bei Erreichen ihrer Volljährigkeit ihre Fehlstunden selber entschuldigen durften.

 Dieter Wal (25.04.22, 16:17)
Ich hatte mit zwei Physik-Lehrern sehr gute Erfahrungen.

1. Einer bot uns an, 11. Klasse, entweder Unterricht nach Lehrplan zu machen oder uns in Astronomie jeweils 30 Minuten zu unterrichten und in den verbleibenden 15 Minuten den Physik-Lehrstoff so zu besprechen, wie er möglicherweise in der Prüfung gefragt wird. Alle waren dafür. Sein Unterricht war sehr interessant. Astronomie wurde natürlich nicht geprüft.

2. In der 7. Klasse bot uns unser Physik-Lehrer an, einmal wöchentlich nachmittags an zwei Schulstunden zusätzlich in Physik zu unterrichten. Der Stoff war nicht prüfungsrelevant. Es kamen ausnahmslos regelmäßig alle Schüler. Jede Zusatzstunde war bestens vorbereitet. Es war ein Privileg, ihm zuzuhören.

Sehr schade, dass Dein Unterricht nicht ähnlich gut angenommen wurde. Die Idee dazu war couragiert.

 Graeculus meinte dazu am 25.04.22 um 23:49:
Der Unterricht im Rahmen dieses Experimentes ist nicht gut gelungen, weil die Motivation der meisten Schüler nicht stark genug war; das möchte ich nicht verallgemeinern. In meinem Lehrerleben habe ich 10 Leistungskurse Philosophie zusammenbekommen, und von denen gab es zu jedem Zeitpunkt im Lande NRW nie mehr als drei oder vier.

Was Du berichtest, klingt sehr gut; und natürlich hätte auch ich für Astronomie plädiert - als Schüler, mein ich.
Damals konnte/mußte man als Lehrer allerdings die Abiturthemen noch selber erstellen, und das gab einigen Spielraum für individuelle Unterrichtsgestaltung. Damit war es mit der Einführung des Zentralabiturs vorbei. Mit dem auf diese Weise vorgeschriebenen Stoff kam man so gerade durch, wenn man bedenkt, daß 25 % der Unterrichtsstunden selbst dann ausfielen, wenn man als Lehrer keinen einzigen Tag krank war - aus ganz verschiedenen Gründen und in keiner Statistik als Unterrichtsausfall auftauchend: Klausuren in anderen Fächern, Kursfahrten, Einführungsveranstaltungen, Tagesexkursionen in anderen Fächern und und und.

Das hat mir, der ich zu 'kreativer Unterrichtsgestaltung' neigte, viel Freude an dem Beruf genommen, daß das Korsett immer enger wurde.

 loslosch (25.04.22, 17:54)
im anarcho-kindergarten endete das experiment kurios: "Petra, wann dürfen wir wieder spielen, was wir spielen müssen?"

 Graeculus meinte dazu am 25.04.22 um 23:50:
Nina Hagen: "Ich habe meine Tochter antiautoritär erzogen, aber sie macht trotzdem nicht das, was ich will."

 Bergmann meinte dazu am 29.04.22 um 21:27:
Insgeheim geht solche Anarchie irrigerweise von der Gleichheit aller aus und von einer sich irgendwie regelnden Vernunft, aber es gelten realiter alle Gesetze weiter, die auch in einer (kapitalistisch) organisierten Marktwirtschaftsgesellschaft gelten: Preise (Einsatz) und Noten (effektive Erfolge) ergeben sich nach Maßgabe von Ordnungen und Machtverhältnissen, Nachfrage und Bedürfnissen - und das alles enthielt das schulische Experiment nicht. Ja, es fehlte auch die selbstkritische Kritik der Verhältnisse (Schulsystem, Gesellschaft) ... Dinge also, auf die selbst der klassischste Lateinunterricht (z. B.) besser vorbereitet als jede Form von 'Spiel-Anarchie'. 
Na ja, vier Wochen (vielleicht hätten 2 genügt) kann man innerhalb des nie wirklich in Frage gestellten Schulsystems ruhig mal opfern für eine Teilerkenntnis - insofern: Ja, das Experiment hatte sich gelohnt, für beide (alle) Seiten! 
Von Herzen grüße ich dich! U.

 Graeculus meinte dazu am 03.05.22 um 16:54:
Ich glaube, Du übergehst den Umstand, daß der Unterricht nicht nur formal anarchistisch war, sondern sich auch inhaltlich mit dem Anarchismus befaßt hat bzw. befassen sollte. Und da war durchaus eine selbstkritische Kritik der herrschenden Verhältnisse vorgesehen. Bakunin, Kropotkin sowieso, dann aber auch der "Anarcho-Feminismus", der damals im Gespräch war. Nun setzt natürlich auch der kritischste Inhalt voraus, daß die Schüler anwesend sind; auch hätte ich mir anderes gewünscht, als daß alle diese Inhalte von mir vorbereitet worden wären. Daß niemand etwas gearbeitet hat, habe ich ja schon geschrieben.
Vermutlich gingen die Motive der Schüler nicht über ein vulgär-anarchistisches "endlich können wir mal tun und lassen, was wir wollen" hinaus.
Insofern ist es tatsächlich und zu meinem Bedauern bei einer 'Spiel-Anarchie' geblieben.

Einen herzlichen Gruß
Wolfgang

 Graeculus meinte dazu am 03.05.22 um 16:58:
Will sagen: Deine Kritik ist berechtigt, aber sie richtet sich mehr gegen das Ergebnis als gegen das Konzept.

Gegen das Konzept wäre vielleicht zu sagen, daß Anarchie nicht als kleines Residuum innerhalb einer autoritären Gesellschaft funktionieren kann.
Nun ist manchmal auch ein Scheitern ein Lernerfolg.

 Bergmann meinte dazu am 03.05.22 um 17:22:
D'accord!

 Graeculus meinte dazu am 04.05.22 um 18:10:
Alles ist gut. Fast alles.
Joseph von Vegesack (70)
(04.05.22, 16:13)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 Graeculus meinte dazu am 04.05.22 um 18:10:
Was hat dieser Schmonzes mit meinem Text zu tun?

 Roger-Bôtan meinte dazu am 05.05.22 um 11:33:
Freiheit braucht Grenzen, um sie überschreiten zu können.
Ich weiß nicht mehr, wessen Spruch das ist. Aber ich mag ihn.

 Graeculus meinte dazu am 05.05.22 um 15:38:
Das ist ein kluger Spruch. Freiheit und Grenze stehen in einem dialektischen Verhältnis.

 Mondscheinsonate (10.05.22, 23:42)
Interessant. Thema voll umgesetzt...nichts tun für das Thema. 
Im Ernst, das Leitwolfprinzip zieht sich bei der Gruppe durch. Zeigt dieser (du) sich passiv, bleibt die Herde passiv/hilflos.

Kommentar geändert am 10.05.2022 um 23:45 Uhr

 Graeculus meinte dazu am 11.05.22 um 13:54:
Experiment wie Kommentar: ein Abgesang auf den Anarchismus.
Ich fand ihn mal sympathisch, aber er setzt ideale Iindividuen voraus.

 Mondscheinsonate meinte dazu am 11.05.22 um 14:01:
Also, ich finde schon, dass das anschaulich war. Es gab ein freies Gestalten und das haben sie durch Passivität umgesetzt. Anarchie durch Nichtstun, im Grunde gegen dich und deine, wie ich meine, großartige Idee, ein Boykott der Kreativität, somit gegen deinen Freigeist.

 Graeculus meinte dazu am 12.05.22 um 13:39:
Meinst Du, daß es eine bewußt gegen meine Idee gerichtete Aktion war? Oder gegen "das System Schule"? Ich habe es bisher als einen Triumph der Faulheit bzw. Passivität verstanden.
Mir fällt auf, daß wir darüber gar nicht gesprochen haben, sondern nur über die Folgen für die Noten. Das war sicher ein Versäumnis meinerseits.

 Mondscheinsonate meinte dazu am 12.05.22 um 13:46:
Vielleicht beides. Das kann ich nicht beurteilen, jedoch sollte man diese Möglichkeit nicht unbemerkt lassen. Auch würde ich es nicht auf Faulheit schieben, sondern die Unfähigkeit des Miteinanders ohne konkreten Leitwolf.

 Graeculus meinte dazu am 12.05.22 um 13:56:
Du stehst morgens um 7.00 Uhr auf, weil Du um 8.00 Uhr in der Schule sein mußt. Aber dann denkst Du Dir: "Ach, wir haben ja Anarchie! Dann kann ich nach noch zwei Stunden liegenbleiben und gehe erst zu Mathe (wo wir keine Anarchie haben)."
Das waren wohl die, die nicht gekommen sind. Denen aber, die gekommen sind, jedoch nichts vorbereitet hatten, könnte in der Tat der Leitwolf gefehlt haben.

Ob sie offenherzig darüber gesprochen hätten, wenn wir das anschließend gründlicher reflektiert hätten? Meiner Erinnerung nach war ich zu frustriert, und ein Experiment-Leiter mit negativen Emotionen ist nicht günstig. Da hätte ich auch meine eigene Rolle reflektieren müssen.

 Mondscheinsonate meinte dazu am 12.05.22 um 14:01:
Grundsätzlich war ein Thema da, es wurde abgelehnt. Auch das Liegenbleiben ist eine freie Entscheidung, somit eine gegen das Tun. Subjektiv war es sicher keine Anarchie, aber objektiv schon.

 Graeculus meinte dazu am 12.05.22 um 23:47:
Ja, eine freie Entscheidung war das, objektiv eine anarchische Situation.
Nicht das Thema wurde abgelehnt (das war vereinbart), sondern die dafür aufzuwendende Mühe.
Du wirst darin recht haben, daß sowohl Faulheit als auch das Fehlen eines lenkenden Protagonisten die Ursache für das Scheitern waren.

Wärst Du zum Unterricht gekommen? Hättest Du Dich vorbereitet?
Bei mir als 17jährigem möchte ich die Hand dafür nicht ins Feuer legen. Kurze Zeit später, bei dem stark politisierten Jahrgang der 68er, wäre das Experiment vielleicht anders verlaufen.

 Mondscheinsonate meinte dazu am 12.05.22 um 23:56:
Ich weiß es nicht. Denke nicht. Als Erwachsene war ich nochmals im Gymnasium und habe bei freiwilligen Projekten gerne mitgemacht. Einmal war ich alleine mit der Professorin in der Zweig-Ausstellung. Das war schön.

 Graeculus meinte dazu am 13.05.22 um 23:55:
Da wir in uns selbst solche Neigungen empfinden bzw. im damaligen Alter empfunden haben, sollten wir's der Jugend nachsehen.

Eine Lehrerin, die mit einer einzigen Schülerin eine Ausstellung besucht, das hat etwas.
Schöne Erlebnisse mit Schülern gab's bei mir auch, traurige und lustige. So ist das Leben, nie nur eines.
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