Deutscher Frühling

Gedicht

von  Isensee

Wieder einer.

Am Bahnhof.
zwischen Gleis 4 und „zu spät“.
Ein Leben,
das in 5 Zentimeter Stahl endet.
Nicht groß. Kein Kino. Kein Trumpf.
Ein Schnitt durch Fleisch
und Erzählung.
Und plötzlich stehen sie da.
Mit Kommentaren wie Brandsätzen,
mit Großbuchstaben wie Pflastersteinen.
Abschieben!
Alle!
Jetzt!


Sie kommen nicht aus Kellern.
Die sind zu ehrlich.
Sie kommen aus Wohnzimmern,
mit Flachbildfernsehern
und Meinungen aus dem Baumarkt.
Ich bin einer von ihnen.
Heute.
Weil es leichter ist, ein Arschloch zu sein,
als ein Mensch mit Rückgrat.

Das Boot ist voll, sage ich,
und meine:
Ich bin leer.
Nie gesegelt.
Nie gerudert.
Nie gerettet.
Ich will,
dass alle aussehen wie mein Wohnzimmer:
steril, weiß, funktional.
Ich will, dass Gefühle auf Deutsch kommen,
in Arial 12
und mit TÜV-Siegel.

Aber das Messer fragt nicht nach Herkunft.
Es kennt keine Ethik.
Es ist nur da.
Weil wir’s reingelassen haben.
Nicht durch Grenzen,
sondern durch Kürzungen.
Durch Ignoranz.
Durch die nie gestellte Frage:
„Was fehlt dir eigentlich,
dass du stichst?“

Und wenn ich ehrlich wäre –
so ganz kurz,
so mit Restanstand –
würde ich sagen:
Ich bin das Problem.
Ich,
der deutsche Mann,
gezeugt in Schuld,
geformt in Unwissen,
verpackt in Mittelmaß.
Ein Pfefferspray aus Ängsten
und Unlust.

Ich will abschieben.
Weil ich selbst nicht bleibenswert bin.
Ich will raus mit den Fremden,
weil ich mich in mir nicht ertrage.
Ich will das Messer
nur noch als Metapher.
Doch es bleibt echt.
Echtes Blut.
Echte Eltern.
Echte Polizei mit echtem Tape auf echtem Asphalt.


Und wenn dann alle weg sind –
die falschen,
die fremden,
die zu vielen –
wer bleibt?

Wir.
Die mit den sauberen Händen,
die nie was angefasst haben.
Die mit der Schuld in der Spülmaschine.
Die mit Depressionen,
die zu höflich sind, um zu töten.
Die mit den Schulabschlüssen
aber ohne Abschluss.


Wir,
die glauben,
das Problem sei die Hautfarbe
und nicht die Verzweiflung.

Wir,
die nie gelernt haben,
was ein Messer nicht kann:
heilen.

Was tun?
Nicht viel.
Wir könnten anfangen,
aber das ist mühsam.
Wir könnten zuhören,
aber das ist leise.
Wir könnten uns ändern,
aber das tut weh.

Also lieber
schnell, laut, falsch.

Rückführung.
Sanktion.
Festung.


Und das Land?
Es rollt sich ein
wie eine alte Zeitung
voller Lügen
und keiner liest es mehr.

Aber in irgendeiner Redaktion
sitzt einer wie ich
und schreibt’s nochmal.
Weil er hofft,
dass irgendwer endlich aufwacht.
Nicht mit Sirenen.
Sondern mit Einsicht.

Und wenn du’s liest
und nichts fühlst,
dann hast du gewonnen.
Dann bist du angekommen.
Dann bist du deutsch.

Herzlichen Glückwunsch.
Willkommen im Frühling.



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Kommentare zu diesem Text

illegaler ghost (99)
(24.05.25, 12:41)
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 Aron Manfeld (24.05.25, 13:23)
Was willst Du damit sagen, Easy? Weisst Du es selber?

 Isensee meinte dazu am 24.05.25 um 13:42:
Das Gefühl, das uns alle zerfrisst, wenn wir wegsehen oder uns in Halbwissen und Vorurteilen suhlen. 
Das Gedicht bohrt da rein, wo’s weh tut — du stehst draußen und fragst, ob da überhaupt was ist.
Willst du wirklich verstehen, oder nur safe bleiben?
Frag nicht rum, hör zu oder halt’s Maul.

 Aron Manfeld antwortete darauf am 24.05.25 um 14:00:
Bei aller Liebe, Easy, auf mich wirkt das kaum durchdacht.

 Isensee schrieb daraufhin am 24.05.25 um 14:06:
Das ist schrecklich Mensch.
Ich durchdenke es nochmal für dich.
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